Anke Herbrecht-Bunk – Pädagogin und Künstlerin

Düsseldorf-Erkrath, 28.10. 2012

Wer mag Kirche?

Ungefähr dreißig Jahre bin ich ehrenamtlich in der Kirche tätig.

Ungefähr vierzig Jahre bin ich gerne mit Menschen zusammen, die sich in der Kirche treffen und miteinander Gottesdienst halten, gemeinsam feiern und essen, gemeinsam singen und spielen.

Und das, obwohl mir mein Glaube an einen Gott schon  irgendwann als Kind abhanden gekommen ist.

Warum mag ich dann also noch Kirche? Oder warum mögen andere die Kirche nicht oder zumindest nicht mehr?

Mein Beruf und meine kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und deren Familien hat mich oft darüber nachdenken lassen, was Kirche ausmacht.

Wer fühlt sich in dieser Gemeinschaft wohl?

Wer geht mit einem gesättigten Gefühl nach Hause, wenn ein Gottesdienst gefeiert wurde,

wer fühlt sich gestärkt, wenn zum Beispiel traurige Anlässe wie Beerdigungen unter kirchliche Gestaltung gestellt wurden?

Wer lehnt Kirche ab?

Wer fühlt sich ausgegrenzt oder eher gelangweilt, wenn er einen Gottesdienst besucht?

Ich versuche, Ihnen ein Bild zu vermitteln, wo zumindest mögliche Gründe liegen könnten:

Täglich erlebe ich zwei Welten:

Die eine ist die Förderschule Lernen im Zentrum und gleichzeitig sozialen Brennpunkt von Krefeld,

die andere Welt ist das beschauliche Städtchen Erkrath.

Zwei beispielhafte Biografien aus diesen Welten:

Jacqueline ist das fünfte Kind ihrer Mutter, sie hat noch einen kleineren Bruder, ihren Vater kennt sie nicht, dafür hat sie zwei neue Lebensgefährten ihrer Mutter erlebt.

Melanie ist Einzelkind.

Jacqueline wohnt in einem Hochhaus, teilt sich ein Zimmer mit zwei Geschwistern, einen Schreibtisch hat sie nicht.

Melanie hat ein Zimmer für sich, Platz für die große Eisenbahn ist auch noch da.

Jacqueline weiß nachmittags oft nichts mit sich anzufangen, sie schlendert durch die Stadt und hofft, dort Freunde zu treffen.

Melanie geht schwimmen, lernt Altblockflöte und geht in den Kinderchor der Gemeinde, möchte gerne ins Ballett, darf aber nicht, weil auch noch Zeit für die Nachhilfestunden bleiben soll.

Jacquelines Mutter wünscht sich, dass ihre Tochter einen Hauptschulabschluss macht, kann ihr dabei aber nur wenig helfen, sie ist Analphabetin.

Melanie soll auf jeden Fall Abitur machen.

Sie geht gerne mit ihrer Mutter shoppen, die Stiefel mit echtem Fell findet sie total cool.

Jacqueline teilt sich die warme Winterjacke mit ihrer Schwester.

Melanies Eltern lasen ihr abends, als sie klein war, eine Geschichte vor und beteten mit ihr.

Jacquelines Mutter war froh, wenn endlich Ruhe einkehrte.

Diese Beispiele mögen plakativ und übertrieben klingen, sind sie aber nicht, beide Kinder sind mir unter anderem Namen bekannt und zumindest aus Jacquelines Leben könnte ich noch viel mehr erzählen, was hier mit Sicherheit bei der einen oder anderen mehr als nur einen entsetzten Blick hervorbringen würde.

Frage ich die beiden Mädchen nach ihrer Beziehung zur Kirche, sprudelt Melanie vom Kindergottesdienst los, berichtet über Auftritte mit dem Chor, mag die Atmosphäre in Gottesdiensten, wenn viele Kerzen an sind und hat viele Freunde, die mit ihr zum Konfirmandenunterricht gehen und an kirchlichen Jugendgruppen teilnehmen.

Frage ich Jacqueline, druckst sie herum, sagt: „Kirche ist was für Arme“ und findet Gottesdienst doof, der ist langweilig.

Den Konfirmandenunterricht hat sie abgebrochen, da musste man so viel lesen und sprechen, sie hat sich geschämt, weil beides nicht so ihre Stärken sind.

Ist sie mit ihrer Schule im Schulgottesdienst, benimmt sie sich albern und vermeidet es, sich auf den Inhalt einzulassen, bei Orgelmusik rennt sie raus, nach dem Grund gefragt antwortet sie: „Da muss ich bei heulen.“

Obwohl ich bei den Schülern immer auf so viel Widerstand treffe, habe ich jedes Jahr aufs Neue den Ehrgeiz, möglichst vielen zu vermitteln, dass Kirche – und vor allem der Gottesdienst- eben doch nicht „doof“ ist:

Und so gibt es bei uns mehrfach im Jahr Schulgottesdienste, die – am Anfang immer mit großem Widerstand seitens der Schüler- gemeinsam vorbreitet werden.

Und siehe da, es geht.

Vielleicht ein bisschen anders, als man es im „normalen“ Gottesdienst gewöhnt ist:

Die Pfarrerin musste erst lernen, dass eine lange Predigt auch schon mal eine große Unruhe mit Buh-Rufen erzeugen kann,

die Kinder mussten lernen, dass man sich in der Kirche weder prügelt noch anrotzt

und selbst die Eltern haben mittlerweile akzeptiert, dass man im Gottesdienst nicht rauchen darf…

Je mehr man die Schüler an der Vorbereitung des Gottesdienstes beteiligt und ihnen Aufgaben überträgt, desto mehr Ruhe kehrt ein. 

Oft trauen sie sich selbst am allerwenigsten zu, und es ist schön zu sehen, wie sie ihrer manchmal vielleicht ungewohnten Kreativität freien Lauf lassen.

Und ich meine zu spüren, dass die eigentliche Botschaft doch bis ins Gehirn vordringt…

Gerade in diesen Wochen kribbelt es mir schon wieder in den Fingern, weil ich mich auf die Vorbereitung des Krippenspieles freue, bei denen auch die moslemischen Schüler ihre Erfahrungen mit unserer christlichen Welt machen.

Wer mag also Kirche?

Vielleicht gerade die Menschen, mit denen wir am wenigsten rechnen.

Im Laufe meiner Dienstzeit habe ich gelernt, mich auf diese Menschen ganz stark einzulassen. Vieles erschien mir am Anfang befremdlich, einiges machte mir sogar manchmal Angst.

Ich erlebe täglich ganz viel Armut, materieller und emotionaler Art. Oft erscheinen die Mauern zwischen meiner und vermutlich auch der Ihrigen Welt , wenn auch nicht unüberwindbar, so doch zumindest unüberschaubar hoch.

Manche Kinder können es kaum ertragen, wenn man sie ein bisschen verwöhnt, sie müssen erst langsam lernen, dass man es wirklich gut mit ihnen meint.

Andere erscheinen fordernd ohne Ende – auch sie müssen oft erst ein angemessenes Verhalten vermittelt bekommen. Komme ich in die Wohnungen meiner Schüler, bin ich schon oft entsetzt gewesen, welche Zustände dort herrschen – dass wir in einem reichen Land leben, davon ist dort nichts zu spüren.

Diese Einblicke helfen mir aber immer wieder zu verstehen, was so manches Verhalten auslöst, welches alles andere als gesellschaftskonform ist.

Wenn ich die Kraft habe, auch beim nervenraubensten Kind aller Kinder nicht aufzugeben, kann ich die schönsten Momente im Leben erfahren: Es entstehen dann oft Augenblicke, in denen sich diese jungen Menschen öffnen und auf einmal Nähe zulassen können.

Mir bedeutet es sehr viel, wenn ich Schülern nicht nur Mathematik und Deutsch vermitteln kann, sondern auch die Bereitschaft, sich auf ein angenehmes Miteinander einzulassen.

Und dann erlebe ich so viel Herzlichkeit und echte Freundschaft. Und ich habe bei Kontakten mit diesen Kindern auch Jahre nach der ihrer Entlassung aus der Schule das Gefühl:

Ich könnte mich uneingeschränkt auf sie verlassen, wenn ich einmal Hilfe bräuchte.

In vielen weniger gut situierten Familien gibt es keine religiöse Praxis mehr, die jetzigen jungen Erwachsenen gehören oft in eine Altersgruppe, die mit Kirche lange nichts mehr am Hut hatte und deren Erinnerungen an Kirche wenig mit ihrem jetzigen Leben zu tun hat. Bestenfalls haben sie das Gefühl, Almosen von der Institution Kirche zu empfangen – was sie meistens nur widerstrebend annehmen.

Dennoch konnte ich erleben, wie die Geburt eines Kindes einer meiner Schülerinnen auch dort ein Bewusstsein für religiöse Fragen auslöste, gleichzeitig merkten die jungen Eltern, dass ihnen selbst Antworten fehlen, dass sie sich in Glaubensfragen unsicher und fremd fühlen.

Wenn sich „unsere Kirche“ – die Kirche, der hier versammelten, öffnen würde, gibt es für diese und auch „unsere“ Familien eine Möglichkeit, sich kennen zu lernen, sich miteinander auf den Weg zu machen, gemeinsam den Glauben (wieder-)zu entdecken und Vorstellungen von einer verstaubten Kirche zu revidieren.

Wenn wir es denn wollen.

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