Tischrede von Pfrn. Anke Leuthold beim Frauenmahl in Groß-Umstadt 3.11.2016
Angekommen oder abgelehnt – eine Welt setzt Grenzen
Sehr geehrte Damen,
liebe Schwestern, vielen Dank für Ihre Einladung!
Schon als Kind – aufgewachsen im waldreichen Siegerland- später als Vikarin im schönen Reichelsheim, und auch heute liebe ich die Natur. Sie ist für mich Ort des Gebetes, der Stille, des frischen Atmens, der Erdung – und manchmal auch Ort neuer Gedanken.
Ein Gedanke und eine Begegnung zum Thema „eine Welt?!“, ganz frisch gesammelt vor ein paar Tagen in den Eberstädter Streuobstwiesen :-).
Der Gedanke: In einer hohen Fichte habe ich über mehrere Tage Stare beobachtet, die sich zum Winterzug nach Süden versammelten. Erst einige, dann Hunderte. Am Wochenende rauschte dann eine gewaltige zwitschernde Wolke aus dem Baum, wohl über tausend Vögel – alles war für einen Moment in Bewegung!
Wo die alle herkamen, und wie dicht gedrängt sie wohl in der Fichte gesessen hatten – und jetzt mit Kraft in die Lüfte starteten! Wie gut Gott doch für seine Geschöpfe sorgt, dachte ich. Wie anpassungsfähig die Natur und auch wir Menschen sind, an Jahreszeiten, Wetterwechsel, veränderte Bedingungen!
Wie für 1000 Stare in einem Baum, so ist auch Platz genug und Lebensgrundlage für uns alle da: für Deutsche und Fremde, die wir schon seit Jahrzehnten friedlich und mit gegenseitigem Gewinn in unserem Land zusammen leben.
Es wird auch zukünftig genug für uns alle da sein, wenn wir bereit sind, mit Gottvertrauen einander teilhaben zu lassen, an Nahrung und Wasser, Arbeit, an Wohnraum, an Bildung, an Geselligkeit. Wenn wir uns nicht zu sehr sorgen um das „Eigene“, dann werden aus Begegnungen Freundschaften, aus Teilen wird Segen!
Der Bericht von Jesu unglaublicher Brotvermehrung, am Abend nach seiner Bergpredigt, soll kein unglaubliches Wunder darstellen. Nein, diese Geschichte will sagen, dass immer genug da sein wird, und sei es auch wenig, solange alle Menschen bereit sind zu teilen.
Die Begegnung: Beim Spaziergang durch die Streuobstwiesen hinter meiner Wohnung traf ich auf eine geflüchtete Familie, die Obst auflas. Ich winkte ihr zu. Ein Junge, etwa 11 Jahre alt, lief auf mich zu: „Entschuldigung!“ fragte er in sehr gutem Deutsch, „dürfen wir die Äpfel hier nehmen? Da steht so ein Schild. Ich weiß nicht, was das heißt…“ Ich folgte ihm zum Baum und las das Schild. Darauf bittet der Streuobstwiesenverein die Äpfel nicht zu lesen, da sie zum Mosten gebraucht werden. Ich erklärte ihnen das und beschrieb eine andere Gegend, mit Bäumen ohne Schilder, und viel Fallobst. Da könnt ihr gut sammeln, sagte ich.
Wir unterhielten uns noch ein bisschen, ich hatte sie Dari sprechen hören und es stimmte, die Familie kommt aus Afghanistan, die vier Kinder, zwischen 8 und 13, und haben in der kurzen Zeit hier sehr gut Deutsch gelernt – begeistert erzählten sie von ihrer Schule. Mich hat die Höflichkeit beeindruckt, mit der sie nach den hiesigen Regeln fragten – und vor allem die Freude über unser nettes Gespräch unterm Apfelbaum.
Wir leben ja längst zusammen in der „einen Welt“, von Gott geschenkt, uns allen!
Dieses Zusammenleben erfordert viel Austausch, Gespräche, Nachfragen, Zuhören.
Manchmal kann es richtig anstrengend sein, macht aber auch ganz viel Freude! Unterm Apfelbaum, beim gemeinsamen Tee nach syrischer Art, oder beim Tanzen zu den verschiedenen Rhythmen und Klängen unserer Kulturen beim Sommerfest!
In meiner Arbeit der Flüchtlingsseelsorge am Frankfurter Flughafen sind die Menschen nach ihrer Flugzeuglandung lange noch nicht so „angekommen“ wie die afghanischen Kinder in Eberstadt. Immer wieder fragen mich Flüchtlinge, die sich nach Ankunft in der abgeschlossenen Erstaufnahmeeinrichtung in der Frachtstadt des Frankfurter Flughafens wiederfinden: „Pastor, why am I in prison here? I am not a criminal!“
Ich erkläre Ihnen dann, dass sie ihr Asylverfahren in diesem Haus im Transitbereich durchlaufen müssen, weil sie ohne ausreichende oder mit gefälschten Papieren angekommen sind. Dann darf man zunächst nicht einreisen. Und erst nach dem Asylverfahren im Schnelldurchlauf, nach einigen Tagen, entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ob die Person nun nach Deutschland einreisen darf, um auf das Ergebnis ihres Antrags zu warten; oder ob sie als „unbegründet“ abgelehnt wird und direkt aus der Haft am Flughafen nach einigen Wochen wieder abgeschoben wird.
Der seelische Druck auf den Geflüchteten in dieser Einrichtung ist sehr hoch.
Weil sie hoffen, endlich den Gefahren zu Hause entkommen zu sein und nun in Sicherheit ankommen zu können. Doch dann erleben sie oft, dass gar nicht sicher ist, ob sie Deutschland überhaupt erreichen werden. Es ist schwierig genug, seine Familie aus Aleppo heraus gerettet zu haben; als alleinerziehende Mutter aus dem Kongo Vergewaltigung entkommen zu sein, oder als Kurden aus dem Nordirak mit Abstand von nur 30 km vor der ISIS Front zu fliehen. Da versteht man nicht, warum man als Schutzsuchender zuerst in ein Gefängnis gebracht wird, das man nicht verlassen darf, bis ein deutscher Asylanhörer/in entscheidet, ob die eigene Lebenserfahrung glaubhaft ist oder nicht.
Seit dreieinhalb Jahren meiner Arbeit als Pfarrerin dort habe ich Menschen aus Afghanistan, Syrien, vielen afrikanischen Ländern, Pakistan, Tibet, Russland, der Ukraine, Sri Lanka, Kolumbien und neuerdings auch aus der Türkei kennen gelernt. Viele Lebensgeschichten haben die Menschen mir anvertraut, wir lachen zusammen, weinen und beten zusammen und hoffen für die Familien und ihr Recht auf Asyl. Höchstens 5-10% dieser Menschen sind Wirtschaftsflüchtlinge.
Die Erlebnisse sind oft so schlimm, dass Menschen nur stockend davon berichten können. Und dennoch kommen häufig Ablehnungen vor, weil man ihnen einfach nicht glaubt, oder weil ihre Länder sicherer eingestuft werden, als sie es selbst erlebt haben.
Ich komme in meiner Arbeit immer wieder an meine Grenzen.
Grenzen der greifbaren Hoffnung und des Mutmachens. Vor allem dann, wenn abgelehnte Flüchtlinge wochenlang auf die Organisation ihrer Abschiebung warten müssen; nicht wissen, wann sie von der Polizei abgeholt werden und große Angst vor der Rückkehr in das Land haben, aus dem sie geflohen sind.
In dem Glauben an das Recht jedes Menschen auf Schutz in Notlagen, in unserem Asylgesetz verankert, komme ich an meine Grenzen, wenn ich Berichte der Menschen kenne und dann die juristische Begründung für ihre Ablehnung lese. Ich komme an meine Grenzen, wenn ein junger Mann, der zuvor schon Folter erlebt hat, und dennoch abgeschoben werden soll, neben mir vor Angst zusammenbricht, während der deutsche Richter am Vormittag die Situation in seinem Land als aktuell nicht mehr bedrohlich einstufte.
Dennoch sehe ich es als meine Aufgabe, den Menschen in der Situation nicht alleine zu lassen, sondern seine Angst und die bange Frage nach der Zukunft im Gebet vor Gott zu bringen. Wie oft schon habe ich zusammen mit Menschen, die ihre Heimat unter extremen Schwierigkeiten verlassen haben, Gott angefleht, sich ihrer schützend anzunehmen.
Ich komme an meine Grenzen, der Akzeptanz, der Wut auch, des Aushaltens, der Machtlosigkeit. Aber ich verliere nicht meinen Glauben an die eine Welt. Diese eine, die wir als Leihgabe bekommen haben, um sie gemeinsam zu bewohnen. Auf der Gott nicht etwa von Anbeginn die Grenzen der Nationalstaaten aufgemalt hätte und gesagt: ihr sollt euch da aufhalten, wo ihr hingehört.
Trotz der Anstrengung bin ich gerne Pfarrerin an diesem Ort, im „Niemandsland“, weil ich hier erlebe, wie genau diese Menschen in Bedrängnis einander helfen, aufeinander zugehen, sich gegenseitig trösten, einander Hoffnung machen. Wo Worte fehlen, mit dem Arm, der um die Schulter gelegt wird; oder mit der Betreuung des Babys der Nachbarin, damit diese nach 7 Tagen Flucht endlich schlafen kann; oder wo man aufmerksam und feinfühlig darauf achtet, dass niemand über Tage allein bleibt und zu einsam würde.
Hier erfahre ich immer wieder, wie unter Extrembedingungen die Beziehung zu Gott tragen und helfen kann. Erlebe Menschen, die einander über die Grenzen der eigenen Religion hinweg zum Gebet einladen.
So hat mich seit vielen Wochen ein pakistanischer Mann beeindruckt – tiefgläubiger Muslim, der über 145 Tagen in der Einrichtung ausharren musste und seine eigene Abschiebung fürchtete – in seiner zu allen Menschen im Haus offenen, freundlichen Art und der Warmherzigkeit anderen Flüchtlingen gegenüber, ganz gleich welcher Religion. Von ihm lerne ich neu über den heilsamen Sinn der regelmäßigen Gebetszeiten, und der Freigiebigkeit, mit meinen kleinen Mitteln andere glücklich zu machen. Herr K. ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler und versammelte allabendlich die anderen Flüchtlinge um sich zum Geschichten und Witze erzählen oder zum Wikingerschachspiel im Innenhof.
Solche Gemeinschaft lässt für einen Moment die Ängste vergessen.
Mein Glaube bleibt, kollidiert aber in der Arbeit der abgeriegelten Flüchtlingsunterkunft regelmäßig mit der Wirklichkeit abgelehnter Asylanträgen und verzweifelter Menschen.
Diese Machtlosigkeit auszuhalten; dabei zu sein, wenn Menschen auf Grundlage einer rechtsstaatlichen Asylablehnung abgeschoben werden, deren Verfolgungsgeschichte und Ängste ich selbst aber für absolut glaubhaft halte, das ist schwer!
Immer wieder bin werde ich dann allein auf Gottes Mitgehen zurückgeworfen und muss lernen, abzugeben, was ich nicht beeinflussen kann. Und doch dazu sein, wo ich stärken und unterstützen kann.
Meine Seelsorge erfordert die Fähigkeit, mich tatsächlich auf Einzelschicksale einzulassen, ohne mich aufzulösen. Inzwischen gelingt es mir schon besser, mich neben Empathie immer neu abzugrenzen vom Schicksal meines Gegenübers. Ich bete viel, in der Einrichtung gemeinsam mit den Männern und Frauen, die fliehen mussten; und von zu Hause aus für sie. Auch zu meinem eigenen Wohl.
Jeden Morgen, auf dem Weg vom Parkplatz zur Polizei- Eingangsschleuse der Erstaufnahme, halte ich inne, genieße kurz und bewusst die Freiheit, in der ich lebe – auch wenn ich den Weg ins Gefängnis hinein und abends wieder hinaus gehe. Im Gehen richte ich meinen Blick oft in den Himmel oder auf die Beete vor der Tür und bitte um den Heiligen Geist. So bete ich jedes Mal im Hineingehen, dass Gott mir die Kraft geben möge, schwere Situationen auszuhalten und mitzutragen, schöne zu genießen, und in der Gegenwart seines guten Geistes zu erkennen, was heute für die Menschen im Haus wichtig ist.
Und dann kommt es auch manchmal vor, dass sich die Situation umkehrt, und vielleicht ein Flüchtling mir, durch die Art, wie er/ sie mit dem eigenen Schicksal umgehen, regelrecht von der Kraft Gottes predigt. Nie ist unser Leben in der Einen Welt – und auf dem Weg dorthin – einseitig. Lasst uns weiter dafür streiten! Und uns an den Erfolgen der schon gelebten Einheit freuen!