Standfest und beweglich. Der Impuls der Reformation
Impulsvortrag beim Frauenmahl in Dortmund am 17. Februar 2017
Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen
„Also, liebe christliche Schwestern, getrauet Gott, er legt euch nit mehr uff zu tragen, denn euch gut und notdürfftig ist, so will er euren glauben bewähren.“
I.
Dieser Satz, „christliche Schwestern“ beim Dortmunder Frauenmahl, stammt aus einem Brief aus dem Jahr 1524. Der Brief war offen, und er wurde öffentlich publiziert. Gerichtet an die reformatorisch gesinnten Frauen der Stadt Kenzingen in Baden. Geschrieben hat ihn Katharina Schütz Zell, eine der ersten und wohl die kreativste unter den Theologinnen der Reformationszeit.
Es kann in diesem Jubiläumsjahr mitunter der Eindruck entstehen, die Reformation sei eine reine Männersache gewesen. Oder gar – noch falscher und noch kurzschlüssiger – die Sache dieses einen übergroßen Mannes Martin Luther, der da stand und nun mal nicht anders konnte.
Um so wichtiger ist es daran zu erinnern, dass die Reformation von nahezu Anfang an eine Bewegung war, die Frauen befähigt hat, sich ihren eigenen Reim zu machen auf den Glauben, auf Gott und die Welt. Und sich diesen Reim nicht nur zu machen, sondern ihn auch auszusprechen.
Ja, es gab sie: Theologinnen der Reformationszeit. Wenige zwar, doch mit faszinierenden Lebens- und Denkgeschichten. Mit einem eigenen klugen Kopf. Mit theologischem Selbstbewusstsein. Mit Lust an der Öffentlichkeit, mit Mut zu Solidarität und Widerspruch. In ihrem Glauben und Gottvertrauen machten sie sich keine Illusionen über die Realität und über erwartbaren massiven Gegenwind. Zugleich – und das fasziniert mich besonders – gingen diese Frauen davon aus und erfuhren das auch: Ich selbst und mein Glaube werden durch Widerstände gefestigt und gestärkt.
„Getrauet Gott, er legt euch nit mehr uff zu tragen, denn euch gut ist, er will euren glauben bewähren!“
II.
Wenn wir fragen: Wofür stehen wir Frauen? Was bewegt uns? Und was können und sollten wir bewegen?, dann ist das Leben und Denken der Katharina Zell eine wahre Fundgrube.
Drei Punkte will ich heute aufgreifen, in denen ich starke Impulse der Reformatorinnen für unsere Gegenwart sehe.
Der erste verbindet sich mit der konkreten Situation, die Katharina Zell überhaupt erst zur religiösen und theologischen Autorin machte. Bei aller humanistischen Bildung, die einzelnen Frauen offenbar bereits damals möglich und zugänglich war, blieben doch die klassischen kirchlichen und akademischen Orte den Frauen insgesamt versperrt. Sie blieben es, wie wir wissen, bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert hinein.
Katharina Zell schrieb ihren Brief nach Kenzingen mitten in einer konkreten religiösen und darin zugleich sozialen Krise: Die männlichen Wortführer der Reformation waren durch den katholischen Herrscher mit Gewalt aus dem Städtchen Kenzingen vertrieben worden. Die Frauen blieben allein mit ihren Familien im feindlichen gesinnten Umfeld zurück, während die männlichen Glaubensflüchtlinge in Straßburg Zuflucht fanden.
Und zwar in der Gemeinde von Katharina Zells Ehemann Matthias.
Kurz gesagt: Am Anfang des theologisch-publizistischen Wirkens von Katharina Zell – und damit, wenn man so will, an einem wichtigen Anfang reformatorischer Selbstbehauptung von Frauen – steht eine Flüchtlingskrise.
Mehr noch: Am Anfang steht der solidarische, inkludierende und weiterreiche Blick einer Frau, die den Horizont ihrer eigenen Verantwortung nicht an den eigenen Stadtgrenzen enden lässt. In ihre Solidarität und ihr Mitgefühl schließt sie ausdrücklich auch die fernen Nächsten ein. Besonders den Schwächeren schenkt sie Aufmerksamkeit.
Die ermutigt sie, denen traut sie etwas zu.
Das klingt nicht nur modern, das ist es auch!
Ich bin überzeugt: Je mehr es uns gelingt, diesen starken Horizont unseres politischen Eintretens und Aufstehens erkennbar zu machen, desto weniger wird es anderen gelingen, frauenpolitische und feministische Anliegen als egoistische Elitendiskurse zu verunglimpfen.
III.
Damit bin ich bei dem zweiten Impuls, den ich nur ganz knapp andeuten will. Ich meine die außerordentliche religiöse Weite und Toleranz, mit der sich Katharina Zell gegen jede Gewalt und jeden Zwang in Glaubensdingen wandte. Entschieden argumentierte sie gegen die Abdrängung und Verketzerung von religiösen Randgruppen und insbesondere von Juden. Im evangelischen Lager ihrer Zeit ragt sie damit hervor. Ich gerate ins Träumen, wenn ich mir vorzustellen versuche:
Wie hätte sich wohl die Geschichte der Reformation entwickelt, wenn dieser Geist der Freiheit nicht von der kleinlichen Rechthaberei großer Männer gezähmt worden wäre?
IV.
Nicht weniger aktuell ist der letzte Punkt, auf den ich Sie hinweisen möchte. Katharina Zells hat dezidiert als Frau in Glaubensdingen öffentlich das Wort ergriffen. Sie tat das in zahlreichen schriftlichen Texten, gelegentlich predigte sie auch. Und dafür hatte sie eine biblische Begründung.
Ich zitiere Zell: Viele betonen, „Paulus sagt, die weyber sollent schweigen [in der Gemeinde].“ Darauf „antworte ich, weißt du aber nicht, dass er auch sagt, „in Christo ist weder Mann noch Weib“? [1]
Christinnen und Christen empfangen im Glauben eine Identität, die alle anderen Fremd- und Selbstzuschreibungen, alle biologischen und sozialen, kultischen, kulturellen oder nationalen Divergenzen relativiert, irritiert und transzendiert.
Diese Identität in Christus fordert dazu heraus, unsere vielen seltsamen dualen Einteilungskonstruktionen zu überwinden („wir“ – „die“). Sie überwindet jede Form von Schubladendenken und grundsätzlicher Abgrenzung.
„Ich stehe hier und kann nicht anders“:
Reformation ist gefährlich missverstanden, wenn wir sie immer wieder nur als Standfestigkeit beschreiben, Prinziptreue („Hier stehe ich!“) und als Gerüst unserer evangelischen Identität. Reformation beschreibt zuallererst Bewegung: Sie hat infrage gestellt, sie hat Impulse zu entscheidenden Veränderungen gegeben, sie hat Neues auf den Weg gebracht.
Darin schlägt das Herz der reformatorischer Erkenntnis und christlicher Freiheit.
Die Reformation ist bis in die jüngste Gegenwart hinein das dynamische Moment vieler befreiungs- und gendertheologischer Konzepte. Und sie hat, davon bin ich überzeugt, ein eminent wichtiges gesamtgesellschaftliches Potential: Starre Zuschreibungen und simple Abgrenzungsfiguren bringt sie in kritische Unruhe und in heilsame Bewegung.
Die entscheidende und zutiefst befreiende Erkenntnis der Reformation war: Identität kann ich mir nicht erarbeiten. Identität muss ich nicht demonstrativ behaupten, nicht lautstark verteidigen. Identität empfange ich. Mit Identität werde ich je neu von außen begabt.
Gewiss nicht zufällig findet Katharina Zell dafür ein biblisches Bild.
Theologisch faszinierend, mystisch tiefes und berückend schön.
Sie kennen das Bild; es findet sich in einem Vers des Johannesevangeliums. Da vergleicht Jesus die Situation der Jünger mit den Wehen der Geburt, die durch Schmerzen und Not und Mühe zu neuem Leben führen (Johannes 16,32).
Unter den wachen und klugen Augen der Leserin bringt das Bild die klassischen theologischen und christologischen Rollen und Geschlechterzuweisungen in Bewegung. Es deckt auf, was auch gegenwärtig Frauen und Männer zu klaren Standpunkten und erstaunlichen Bewegungen ermutigt:
„Die Gnade Gottes in Jesus Christus“ – so schreibt Katharina Zell – ist „die recht Mutter, durch die er uns unter Schmerzen zur Welt bringt, unser ernähret und lebendig macht, wie eine Mutter ihr kind säugt. [2]
Gottes Gnade als Geburtshilfe der Veränderung:
Da stehen sie, die Frauen, und wollen nicht anders.
Weil sie wissen: Das soll und das muss in die Welt.
Durch uns.
[1] Zitiert nach Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt 2009, 446. [Zitat sprachlich geringfügig angepasst].
[2] „Aber die gnad Gottes durch Jhesum Christum/ die ist die recht Muoter / welcher Christus inn Gott unnd Gott inn ihm ist / der ist unser art worden des menschen son / darumb Er auch genannt wird Emanuel / das ist Gott mit uns … und gibt ein gleichnus des sauren geberens unnd sagt: Ein weib wenn sie gebiert / hat sie angst unnd traurigkeit / [Jn. 16:21] unnd zeucht das alles auff sein leiden/ darinnen er uns so hart und saurlich geboren hat / uns erneeret und lebendig gemacht / getrenckt auff seiner brust unnd seiten mit wasser und bluot / wie ein muoter jr kind mit seügen“ (zitiert nach: Elsie McKee, Katharina Schütz Zell. Church Mother, The Writings of a Protestant Reformer in 16th Century Germany, Chicago-London 1999, 343-344).