Annica Grimm – Bildungsverantwortliche der katholischen Kirche

Tischrede beim Frauenmahl in Widen-Aargau (CH) am 18. August 2017
Annica Grimm
zum 22. ökumenischen FrauenKirchenFest Aargau
„Frauen wandelten die Kirche. Ruach wandelt ALLE. Wir wandeln mit“
18. August 2017, reformierte Kirchgemeinde Bremgarten-Mutschellen

Bürgen für die Wahrheit in der digitalen Welt
 
Mediale Revolutionen
Zentrales Anliegen der christlichen Gemeinden war und ist die Frage danach, wie die gute Nachricht vom auferstandenen Herrn am besten weitergegeben werden kann. Während Paulus dafür noch persönlich weite Reisen zurücklegen musste, kam Martin Luther die mediale Revolution des Buchdrucks zu Hilfe.
Die Möglichkeit einer Nachricht durch massenhafte Vervielfältigung eine große Reichweite zu verleihen, ohne selbst vor Ort zu sein, half den Reformatoren, die damals geltende gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf zu stellen.
Ähnliches erleben wir heute durch das Internet und die fortschreitende Digitalisierung – nur um ein Vielfaches schneller als vor 500 Jahren. Die digitalen Medien sind DIE mediale Revolution des 21. Jahrhunderts. Sie machen es möglich, dass jeder und jede zeitgleich live an verschiedenen Ereignissen überall auf dieser Welt teilnehmen kann, ohne selbst am Ort des Geschehens zu sein. Raum und Zeit werden zu irrelevanten Faktoren. Was für eine gigantische Errungenschaft!
 
Persönliche Erfahrung mit der Digitalisierung
Nun werden einige von Ihnen vielleicht denken: Lass sie nur reden, die Junge. Wozu
brauchen wir das? Ohne Internet sind wir früher auch gut ausgekommen. Denn ganz offensichtlich liegt zwischen den meisten von Ihnen und mir ein nicht unerheblicher Altersunterschied.
Doch auch ich gehöre nicht zu den so genannten digital natives, zu der Generation, die ein Leben ohne Internet und Smartphone nicht kennt. Auch ich habe die Digitalisierung als fortschreitenden Prozess erlebt und ihre Herausforderungen und Chancen für mich erst mit der Zeit entdeckt.
Mein erstes Handy kaufte ich mit 16 Jahren. Es war einer jener Alcatel-Knochen, die man sich in einem Täschchen an den Hosenbund steckte. Eine Modesünde, die ich heute nicht wiederholen würde.
Die großen Vorteile der Digitalisierung sind mir allerdings erst bei meinem Auslandsstudium Anfang 20 aufgegangen: Es eröffnete sich mir die Möglichkeit, meine Papierberge am Ende der Studienzeit in Rom nicht per teurer Frachtpost nach Hause zurückzuschicken, sondern einzuscannen und so ohne Übergepäck mit in den Flieger zu nehmen. So konnte ich die für mich wertvollen Informationen speichern, mitnehmen und verschicken, ohne mein Gepäck oder meinen Geldbeutel zu belasten. Das war ein großer Gewinn!
Doch auch das ist wiederum fast 10 Jahre her: Ich begann eine Doktorarbeit zu schreiben und während die zentrale Frage früherer Doktoranden hieß „Wie komme ich nur an dieses eine Buch?“ stellte sich für mich die Frage „Welche der 1000 verfügbaren Bücher und Artikel zu meinem Thema lese ich nicht? Wie treffe ich eine sinnvolle Auswahl für meine Arbeit, wenn ich – fast – alles Wissen 24/7 von meinem Computer aus verfügbar habe?“
 
Demokratisierte Informationen
Sie meinen, das ist ein Luxusproblem? Ja, scheinbar unendlich verfügbares Wissen ist ein Luxus – gerade für die Wissenschaft, aber es ist auch ein Problem und, meiner Meinung nach, eine der größten Herausforderungen und Chancen unserer Zeit.
Denn es stellt sich nun die Frage, wer für die Richtigkeit dieses unendlichen Wissens und der Flut an Informationen einsteht.  
Früher war klar: Nur gesellschaftliche Autoritäten können die öffentlichen, medialen Kanäle wie Buchdruck, Zeitung, Radio und Fernsehen nutzen. Amtsinhaber, Wissenschaftler, Ärzte oder Kirchenleute galten als bewährte Bürgen für Nachrichten und Informationen, die medial verbreitet wurden.
Damit war zwar auch nicht immer garantiert, dass eine Aussage der Wahrheit entsprach, aber stellte sich das Gegenteil heraus, war mit der Lüge auch der Lügner oder die Lügnerin klar identifizierbar und Konsequenzen konnten gezogen werden.
Heute ist das nicht mehr so: Jeder und jede kann jederzeit, überall seine oder ihre Botschaft öffentlich machen und verbreiten. Damit sind Informationen – seien sie überprüfbares Wissen oder überführbarer Unsinn – demokratisiert worden – je mehr Leute sie für wahr halten und weiterverbreiten, umso mehr gesellschaftliche Reichweite bekommen sie. Keine Autorität kann sie mehr wirklich kontrollieren – außer vielleicht mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand.
Demokratisierte Informationen, das hört sich erst einmal gut an … Doch wer sagt mir nun, wenn Autoritäten die Wahrheit von Informationen nicht mehr verbürgen, welche Information, welches Wissen verlässlich ist? Nach welchen Kriterien wähle ich meine Quellen aus? Welche Filter soll ich der Informationsflut setzen? Welche Information entspricht der Realität? Welche ist wahr und welche eine dreiste Lüge?
 
Die Frage nach der Wahrheit
Die Frage nach der Wahrheit, sie war lange unpopulär – zu viel Schindluder ist im Lauf der Geschichte mit ihr getrieben worden – und doch ist sie gerade heute so aktuell wie nie.
Wirklich bewusst geworden ist uns das vielleicht erst mit Donald Trump, aber die Frage nach der Wahrheit ist so alt wie die Menschheit selbst – sie ist eine der grundlegendsten Fragen menschlichen Zusammenlebens: Denn wenn ich mich nicht grundsätzlich auf die Wahrheit der Aussagen meiner Mitmenschen verlassen kann, dann wird menschliches Zusammenleben unmöglich.
Überlegen Sie sich einmal, Sie sind in einer fremden Stadt unterwegs und fragen jemanden nach dem Weg und sie können nicht davon ausgehen, dass derjenige ihnen nach bestem Wissen und Gewissen das gesagt hat, was er für wahr hält, sondern sie vielleicht oder wahrscheinlich anlügt … Welchen Weg nehmen Sie? – Ein simples Beispiel für ein großes Problem:
Wenn die Wahrheit in einer Gesellschaft stirbt, wenn keiner dem anderen mehr trauen kann, wenn Schein und Lüge überhandnehmen und keiner mehr erkennen kann, welche öffentlich gemachten Informationen der Wahrheit entsprechen und durch wen sie verbürgt werden, dann ist der Korrumpierung, dem Misstrauen und dem Betrug Tür und Tor geöffnet.
Mit der Wahrheit stirbt das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Grundlage ihrer gemeinsamen Werte.
 
Bürgen für die Wahrheit
Doch was bedeutet das nun für uns, als Mitglieder dieser Gesellschaft und als Christinnen und Christen?
Wir haben – mit der andauernden und häufig auch berechtigten Infragestellung – die gesellschaftlichen Autoritäten und Bürgen für Wahrheit und Kompetenz weitgehend abgeschafft: Damit fällt die Verantwortung für Wahrheit und Werte in unserer Gesellschaft an jede und jeden Einzelnen von uns. Wir können diese Verantwortung nicht mehr an die Pfarrerin oder den Pfarrer, die Kirchenleitung, das Bistum oder auch nach Rom delegieren.
Es liegt an uns.
Demokratie ist Arbeit – wer wüsste das besser als die Schweizerinnen und Schweizer. Sie ist geteilte Verantwortung für die Werte, die sie bewahren soll: Sie ist geteilte Verantwortung für die Würde des Menschen, für ein solidarisches Zusammenleben, das nicht an Landesgrenzen Halt macht, für die Wahrheit und den gebotenen Respekt in den zwischenmenschlichen Beziehungen.
Denn die Wahrheit ist nach unserem Glauben in letzter Instanz in Christus selbst verbürgt. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Seine Gebote sind auch in der beschleunigten digitalisierten Welt Maßstab unserer Werte und unseres Handelns.
In der heutigen Zeit haben sich die Grenzen der Welt durch die Digitalisierung radikal erweitert und es ist keine Option für uns, in dieser Dimension unserer Welt nicht präsent zu sein. Es ist keine Option nicht für die Wahrheit einzustehen, nicht für die Armen Partei zu ergreifen, nicht solidarisch zu sein mit den Ausgestoßenen und Verhöhnten. Sich auf die analogen Kirchenräume und Pfarreisäle zu beschränken, heißt heute, einen großen Teil der gesellschaftlichen Realität zu ignorieren.
Denn die digitale Welt ist keineswegs nur virtuell. Nein, sie ist genauso real, wie alles, was wir direkt vor uns sehen. Sie ist schlicht eine digitale Version unserer bekannten analogen Welt. Und sie ist so voll von Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, wie wir es aus unserer Welt und von unseren Mitmenschen eben kennen. Die digitale Welt ist nicht besser oder schlechter als die analoge.
Auch in dieser erweiterten Dimension unserer Welt braucht es Apostel und Apostelinnen, die sich wie Paulus aufmachen, die gute Nachricht zu verbreiten. Und es braucht Reformatorinnen und Reformatoren wie Martin Luther, die auf Missstände hinweisen. Je schneller sich eine Nachricht verbreitet, umso mehr braucht es Menschen, die sie genau betrachten, auf ihre Werte und Konsequenzen, auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen und sie nicht gedankenlos weiterverbreiten. Es braucht jede und jeden von uns als Zeuginnen und Bürgen für die Wahrheit und für die Bedeutung von den Werten, für die Christus gestorben ist.
Denn er hat uns beauftragt seine Zeugen zu sein – Zeugen der Wahrheit – in allen Dimensionen dieser Welt.
 
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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