Bettina Syldatk-Kern – Justiziarin des Bistum Hildesheim

Frauenmahl am 13.06.2014 in Hildesheim

Wie politisch ist mein Glaube?
Ist (mein) Glaube politisch?
Darf oder soll Glaube politisch sein?

Ein sehr persönliches Thema, wie ich finde.
Diese Fragestellungen haben bei mir weitere Fragen aufgeworfen:

Was glaube ich?
Was macht meinen Glauben aus?
Was heißt „politisch“?
Wann bin ich politisch?
Wann agiere ich politisch?

Diesen Fragen bin ich für mich als Person und für mich in meiner Funktion als Justiziarin des Bistums Hildesheim nachgegangen. Wobei bei meiner beruflichen Position vielleicht interessant ist, dass ich die erste Frau überhaupt in der Leitung dieses Bistums bin. –
Und das bei einer immerhin 1200 – jährigen Geschichte!
Daher ist wahrscheinlich schon allein das eine „politische Aussage“…!?

Ein Blick ins Lexikon definiert Politik unter anderen als „berechnendes, zielgerichtetes Verhalten oder Vorgehen“. Wenn mein Glaube also politisch wäre, würde er die Richtung meines Verhaltens bestimmen, meinem Vorgehen eine Zielrichtung geben.
Was aber glaube ich und wo kommt mein Glaube her?

Aufgewachsen in einer Kleinstadt nahe Hildesheim, in der es erst seit dem Jahr meiner Geburt eine katholische Kirche gibt, merkte ich sehr schnell, dass in dieser protestantischen Umgebung fast schon jeder Kirchgang, auf jeden Fall aber jede Fronleichnamsprozession oder jedes größere Kirchenfest zum „politischen Statement“ wurde.
„Die Katholen rennen dauernd in die Kirche“ – mit solchen Vorurteilen musste ich mich schon früh auseinandersetzen. Auch in der Grundschule noch länger da bleiben zu müssen, um mit vier oder fünf Mitschülern Religionsunterricht zu haben, während alle anderen nach Hause gehen durften, war eine – „aufdiktierte“ Dokumentation meines katholischen Glaubens. Hier gab zunächst meine Glaubenszugehörigkeit zur katholischen Kirche bestimmte Verhaltens- und Vorgehensweisen vor. Diese wurden nach außen sichtbar und daher auch zum Thema für Bemerkungen, Fragen, Anmerkungen oder dumme Sprüche.

Das Thema Glaube wurde natürlich von klein auf auch mit Inhalten gefüllt:
Meine Eltern vermittelten mir einen fröhlichen, lebensbejahenden, christlichen/katholischen Glauben, allerdings mit dem Schwerpunkt, dass vieles von Gott bestimmt wird und man dies auch so annehmen sollte.
Mein Fokus lag schon sehr früh auf der Frage nach „Gerechtigkeit“ und der Suche nach Antworten aus dem Glauben, die sich auf dieses Thema beziehen könnten.

Durch sehr guten Religionsunterricht an einer katholischen Schule, der vor allem auch ein Hinterfragen der katholischen Lehre zuließ und förderte, wurde ich als junge Erwachsene sehr geprägt. Hier wurde vermittelt, dass möglichst viel zu hinterfragen ist und die Werte des Glaubens in jedem Lebensbereich als Maßstab eingesetzt werden sollten und können.
Das alles hat meinen Glauben geformt, gefordert und ihm eine Richtung gegeben.

Daher definiere ich meinen Glauben als mein gewachsenes Wertesystem, das sich auch weiterhin entwickelt und nicht frei von äußeren Einflüssen ist.
Mit diesem Wertesystem, das ja als innerer Maßstab immer mitläuft, begegne ich natürlich allen Sachverhalten, Fragestellungen, die sich mir privat und beruflich stellen.
Für mich als Juristin steht dagegen oder daneben natürlich das Wertesystem des Gesetzes, das ich ausführlich studiert und gelernt habe. Gibt es zwischen diesen Wertesystemen einen Widerspruch?
Stehen die Systeme gegeneinander oder greifen sie ineinander?
Ich meine, es gibt keinen Widerspruch. Ich sehe im Schaffen einer gerechten Lösung, eines gerechten Interessenausgleichs, im Schaffen von Rechtsfrieden eine zutiefst mit christlichen Werten übereinstimmende Aufgabe.
Nun habe ich die besondere Situation, in der kirchlichen Welt zu arbeiten, in der das christliche Wertesystem der Standard sein sollte und auch trotz vieler Vorurteile kann ich bestätigen, dass diese Werte in diesen Arbeitszusammenhängen gelten und Anwendung finden.

Wo genau aber handele ich in meinem Berufsalltag politisch, das heißt „zielgerichtet, berechnend“ auf christliche Werte hin?

Das fängt ganz klein z.B. bei dem Umgang mit Schuldnern an, die dem Bistum oder einer Kirchengemeinde vielleicht keine Miete, keine Erbpacht oder keine Kindergartengebühren zahlen.
Wie strikt zieht man Mahnverfahren durch? Oder gibt es doch noch Ratenzahlungsangebote, die wirtschaftlich wahrscheinlich vollkommen haarsträubend sind, für christliches Auftreten aber Sinn machen?

Ich stelle mir immer wieder die Frage nach der Geschichte hinter der Geschichte. Das führt in der Mehrzahl der Fälle zu besseren und haltbareren Lösungen, auch wenn der Weg manchmal länger ist.
Eine andere Maxime lautet, Schlichtung statt streitiger Entscheidung. Eine Herangehensweise, die wir schon seit sehr vielen Jahren praktizieren und die sich nun langsam auch bei den Gerichten durchsetzt.
Ich stelle gerne immer wieder die Frage: Wo können wir als Christen Vorbild für die Wirtschaft und andere sein und unsere Maßstäbe so vorleben, dass sie der Standard werden?
In diesen Fällen bin ich dann auch besonders froh, zur Leitung des Bistums zu gehören und entsprechend Einfluss nehmen zu können.

Es gibt aber auch Geschehnisse, die meinen Glauben, mein Wertesystem, völlig in Frage stellen und durch die dann erst einmal nichts mehr so ist wie es war.
So erging es mir, als ich Ansprechpartnerin für die Missbrauchsopfer wurde. Dieser Auftrag und das gesamte Ausmaß des Themas traf mich – wie viele andere – völlig unvorbereitet.
Alles, was ich über Monate in Telefonaten, Briefen, Gesprächen oder Vernehmungen hörte und las, hat dann mein gesamtes christliches Wertesystem, meinen Glauben, in Frage gestellt.
Ich war an einem Punkt, an dem ich keine Kirche mehr betreten konnte, an keinem Gottesdienst mehr teilnehmen wollte. Die christlichen Werte schienen mir wertlos, leer, wenn solche Taten unter der Tarnung christlicher Zusammenhänge geschehen konnten.

Es stellten sich plötzlich Fragen, wie
Gibt es Verständnis für diese Täter?
Wie sieht der politisch korrekte Umgang mit Tätern, wie der mit Opfern aus?
Hier trafen das christliche und das juristische Wertesystem dann doch aufeinander. Wo liegt hier eine gerechte Lösung?
Ich verzeichne es als meinen Erfolg, dass ich mich mit einer „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Missbrauchstätern durchsetzen konnte und dass ich maßgeblich eine Präventionsordnung erarbeitet habe, die nun bundesweit als Muster für alle Bistümer dient.
Beides war nicht einfach und bedeutete lange Diskusionen und Überzeugungsarbeit.
Dieses Gefühl, hier eine gerechte Lösung sowohl im Sinne meiner juristischen Denkweise, als auch im Sinne meiner Glaubensmaßstäbe auf politischem Wege durchgesetzt zu haben, hat dann auch meinen Glauben wieder zurückkehren lassen und mich darin bestärkt, an der richtigen Stelle gezielt Einfluss zu nehmen.
Das hat mich auch für andere Themen ermutigt, meinen Standpunkt noch klarer zu vertreten und so Entscheidungsrichtungen zu verändern und zu beeinflussen.

Hiermit möchte ich nun schließen.
Ich hoffe, Ihnen einige Anregungen für Ihre Unterhaltungen gegeben zu haben und freue mich auf das weitere Gespräch mit Ihnen!

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