Adeline Gräfin von Schimmelmann

„Wir arbeitende Frauen auf dem Kontinent haben harte Kämpfe auszufechten.“
Eine fromme und exzentrische Gräfin Ruth Albrecht
Lebensdaten
von 1854 - bis 1913
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Beziehungen

Das im Norden Hamburgs gelegene Schloss Ahrensburg zieht heute als Museum viele Besucher an. In dieser prachtvollen Umgebung spielten sich die Kindheit und Jugend der Gräfin ab, die hier am 19. Juli 1854 geboren wurde. Erst einige Jahrzehnte nach ihrem Tod ging die Schimmelmann-Ära hier zu Ende. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den dänischen Adel aufgenommene Familie Schimmelmann hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt ihres Einflusses bereits überschritten, aber Adeline und ihre Geschwister konnten noch alle Vorteile eines adligen Lebens genießen mit gutem häuslichen Unterricht und vielen Reisen. Die Namensform Adeline stellt eine Variante zu ihrem Taufnamen Adelaide dar; nur in offiziellen Dokumenten verwendete sie ihren adelskonformen Vornamen. Bekannt wurde sie als Adeline Schimmelmann. Mit der Gründung des Deutschen Reiches verfestigte sich die Orientierung der Grafen von Schimmelmann in Richtung auf Berlin. Adeline Schimmelmann wurde zur Hofdame der deutschen Kaiserin Augusta berufen und diente ihr von 1872 bis 1890. In Berlin kam sie vermutlich mit Vertretern des internationalen Spektrums der Gemeinschafts-, Heiligungs- und Evangelisationsbewegung in Kontakt. Rückblickend beschrieb sie sich als auf der Suche nach einer erfüllenden Lebensausrichtung, die lutherische Frömmigkeit konnte ihr das nicht bieten. Noch während ihrer Zeit als kaiserliche Hofdame eröffnete sie 1887 ein Fischerheim in Göhren auf Rügen. Den kleinen Ort im Südosten der Insel hatte sie während eines Sommeraufenthaltes kennengelernt. Dem Elend der Ostseefischer, die vom beginnenden Tourismus verdrängt wurden, begegnete sie mit dem Angebot einer kostenlosen einfachen Unterkunft. Sie selber lebte zeitweise in einem einfachen Holzhaus, hielt Bibelstunden für die Fischer und unterrichtete Kinder. Das Gelände, auf dem das Fischerheim stand, ist heute noch zu rekonstruieren; eine Gedenktafel erinnert an das Wirken der Gräfin. Bereits in diesen ersten Jahren ihrer diakonisch-missionarischen Wirksamkeit nahm Schimmelmann einige Jungen in ihre Obhut, drei bezeichnete sie später als ihre Adoptivsöhne. Nur für einen von ihnen, Paul Schimmelmann, lässt sich eine formale Adoption nachweisen.

Nachdem Schimmelmann sich einen Namen als sozial engagierte Gräfin mit ungewöhnlichem Verhalten gemacht hatte, ließen ihre Geschwister sie 1894 zwangsweise in eine psychiatrische Station in Kopenhagen einweisen. Nach einigen Wochen musste sie wieder entlassen werden, das Stigma der Psychiatrisierung verfolgte sie jedoch lebenslang. Die Krise verarbeitete Schimmelmann, indem sie begann publizistisch tätig zu werden. Einigen christlichen Kreisen galt sie fortan als Märtyrerin, insbesondere amerikanische Zeitungen verbreiteten diese Sicht der Ereignisse. Die Hintergründe für den Aufenthalt Schimmelmanns in den USA und Kanada von 1898 bis 1900 scheinen mehrschichtig zu sein: Zum einen versuchte sie, Geld für ihre Sozialprojekte an der deutschen Ostseeküste zu sammeln. Gelegentlich klingt in ihren Äußerungen durch, dass sie hoffte, dauerhaft in Amerika bleiben zu können. Während der zwei Jahre begann sie in großem Stil als Evangelistin aufzutreten, sie hielt Ansprachen vor Tausenden von Menschen. Zu den Widersprüchlichkeiten ihrer Person gehört, dass sie die Reise mit ihrer eigenen Segelyacht unternahm und in luxuriösen Hotels wohnte.

Nach 1900 bildeten Berlin als Sitz der von Schimmelmann gegründeten Missionsgesellschaft mit eigenem Verlag und ein einsam gelegener Hof in der Rhön die wichtigsten Aufenthaltsorte. Der Holzberghof bei Bischofsheim, heute ein Hotel, zeigt deutlich die Spuren ihrer Auffassung eines angemessenen Aufenthaltsortes: Sie ließ das Haus nach den Vorbildern dänischer Schlösser umbauen. Bis eine schwere Erkrankung die Gräfin zum Rückzug zwang, entfaltete sie zwischen 1900 und 1910 eine vor allem schriftstellerische und evangelistische Tätigkeit in Deutschland. Die Fischer- und Seemannsmission trat in ihrer Bedeutung zurück. Adeline von Schimmelmann starb am 20. November 1913 verarmt in Hamburg, gepflegt von Diakonissen, zerstritten mit den Geschwistern im nahen Ahrensburg und dem Adoptivsohn.

Wirkungsbereich

Kaiserliche Hofdame, Evangelistin, Reisende, Schriftstellerin, alleinerziehende Mutter, Mäzenin, Abenteurerin, Verlagsgründerin, Gründerin einer Seemannsmission, Besitzerin einer Segelyacht – das sind nur einige der Epitheta, mit denen sich das Leben der Gräfin umschreiben lässt. Deutsche, dänische, isländische, englische und amerikanische Zeitungen beschäftigen sich mit ihr, darunter die New York Times. Schimmelmann hielt evangelistische Vorträge in Deutschland, Dänemark, Schweden, Monaco, England, Kanada und den USA. Eine ihrer Evangelisationsversammlungen fand in der um 1900 bereits berühmten Carnegie Hall in New York statt. Sie kannte führende Adlige aus Deutschland, Dänemark und England. Die Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. unterstützten ihre Missionsarbeit. Ihr gutes Verhältnis zum letzten deutschen Kaiser betonte sie so stark, dass Gerüchte aufkamen, ihr Adoptivsohn sei in Wahrheit dessen Sohn. In amerikanischen Zeitungen wurde die Gräfin als eine der einflussreichsten Frauen Deutschlands angepriesen, in Berlin hingegen erstellte das Polizeipräsidium eine Akte über sie, die hoch interessantes Material enthält.

Zwar lassen sich Parallelen zu zeitgenössischen Männern und Frauen aufzeigen, der Lebensweg Schimmelmanns weist jedoch Spezifika auf, die sich in dieser Kombination an anderer Stelle so nicht finden lassen. Die Gräfin kann in die Traditionslinien der Inneren Mission und der internationalen Erweckungs- und Heiligungsbewegung eingeordnet werden. Ihre Arbeitsmethoden nehmen bereits an anderen Orten gemachte Erfahrungen auf wie etwa die Versorgung ausgewählter verarmter Bevölkerungsgruppen mit Nahrung, die Implementierung von Frömmigkeitsformen wie Bibelarbeit und gemeinsames Singen in den Alltagsvollzügen, das Einrichten von Gemeinschaftsräumen, Kampf gegen Alkoholabhängigkeit oder die Sorge für arbeitslose Jugendliche. Schimmelmann schloss sich jedoch keiner bereits bestehenden Gruppierung an; zeitweilige Allianzen zerbrachen meist nach heftigen Kontroversen. Nur wenige Mitarbeiter, u.a. ihr Adoptivsohn, unterstützten sie längerfristig in ihrer Arbeit. Adeline Schimmelmann stand stets im Mittelpunkt der von ihr angestoßenen Projekte; diese Konzeption hatte zur Folge, dass nach ihrem Tod weder die internationale Seemannsmission noch die Veröffentlichungen des von ihr gegründeten Verlags fortgesetzt werden konnten. Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass der Beginn des Ersten Weltkrieges viele ähnliche Vorhaben, die finanziell weitaus besser aufgestellt waren, scheitern ließ.

Die Gräfin wuchs in einer Familie auf, in der neben der lutherischen Tradition auch herrnhutische Einflüsse eine Rolle spielten. Insofern war eine gewisse Basis für ihre spätere überkonfessionelle Ausrichtung gegeben. Sie betonte, dass sie mit allen Christen zusammenarbeiten könne, wenn Einigkeit im Ziel, der Rettung durch das Bekenntnis zu Christus, bestehe. Bei den theologischen Äußerungen Schimmelmanns sticht ein Motiv hervor, das sie in fast allen Veröffentlichungen als Zentrum ihres Glaubensverständnisses benennt. Der Zweck ihres Arbeitens bestehe darin, „andern Menschen den Weg zum Glück zu zeigen – zum einzigen, haltbaren, wirklichen Glück – zur Erlösung durch Jesu Christi Blut“ (Schimmelmann: 10). Das Blut Christi wird bei ihr zu einem Synonym der gesamten Soteriologie, dem Blut wird eine heilsbringende Wirkung zugeschrieben. Diese Konzentration auf nur ein Symbol der christlichen Erlösungslehre kann ihrem Wunsch nach Vereinfachung entsprungen sein; sie wählte auch in anderen Zusammenhänge gerne drastische anschauliche Beispiele, um die Notwendigkeit der Errettung durch den Glauben an Christus zu demonstrieren. Während auch bei anderen Vertretern der Heiligungs- und Gemeinschaftsbewegung eine starke Hervorhebung des Blutes Christi zu beobachten ist, scheint bei Schimmelmann dieser Topos alle anderen theologischen Zugänge zum Heilsgeschehen zu verdrängen.

Eine Auswahl an online zugänglichen Quellen über und von Adeline Gräfin von Schimmelmann findet sich unter der Rubrik „Quellen“ auf http://www.adelineschimmelmann.de/ (Zugriff am 6.3.2014).

Reformatorische Impulse

Das Motto dieser biografischen Skizze stammt aus einem Text, den Schimmelmann 1896 auf Englisch und 1898 auf Deutsch veröffentlichte. Ihr autobiografischer Rückblick Streiflichter diente u.a. dazu, ihren Aufbruch nach Amerika vorzubereiten. Im letzten Teil dieses Buches wandte sie sich direkt an ihre „englischen Schwestern“. Nach ihrer Darstellung gab es in Deutschland nur wenige Damen, die wie sie für die Ausbreitung des Evangeliums arbeiteten. „Diese Wege sind ja in Amerika und England längst anerkannt und offen“ (Schimmelmann: 120). Sie fährt fort: „Wenn ich die Hindernisse überwinde, welche mir noch entgegentreten, so werden andere dadurch ermutigt werden, dem Rufe Christi Folge zu leisten, wenn er an sie ergehen sollte, sich einer ähnlichen Arbeit hinzugeben.“ Die Gräfin sah sich als Vorreiterin für eine Öffnung der christlichen Milieus in Deutschland. In der Tat muten ihre Arbeitsweisen und ihr Selbstverständnis in manchen Zügen eher wie das Profil evangelikaler Frauen aus dem angloamerikanischen Raum an. Obzwar es auch zu deutschen Frauen Parallelen gibt, trat im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert keine mit dem Anspruch auf, als selbständige Evangelistin verstanden zu werden. Mit spitzer Feder wendet sich Schimmelmann gegen das übliche Auftreten christlicher Frauen in Deutschland: „Die deutsche hochgestellte Dame arbeitet meist nur durch Vereine, in denen sie patronisierend wirkt. Mit eigener Person sich aber der Arbeit im öffentlichen Leben zu unterziehen und ohne Mittelspersonen selbst die Schäden bessern, retten helfen, oder gar vom Evangelium sprechen zu wollen, wie es in England und Amerika so oft geschieht, wird als unverzeihlicher Bruch des gesellschaftlichen Anstandes angesehen“ (Schimmelmann: 77). In einer Zeit, in der Diakonissen als das Erfolgsmodell christlichen weiblichen Engagements galten, formulierte sie: „Setzt euch eine weiße Haube auf und stellt euer geistiges Leben und eure Individualität unter die absolute Herrschaft – nicht Christi – sondern eines Diakonissenhauspastors und die einzige Sphäre, die christlichen Damen persönliche, direkte Arbeit erlaubt, steht euch offen“ (Schimmelmann: 77-78). Schimmelmann entzog sich jedem Versuch, selbst dem von wohlmeinenden Freunden und Freundinnen, ihre Arbeit zu begleiten und in strukturiertere Bahnen zu lenken. Sie hatte einen Blick für die sozialen Schwächen ihrer Zeit und wollte möglichst allen auf einmal helfen, am liebsten durch ihren persönlichen Einsatz. Das Scheitern, sowohl in persönlicher als auch in finanzieller Hinsicht, war der Preis, den Schimmelmann für ihre Art des Einsatzes zahlte. Beschreibungen, dass sie wie ein Komet oder Leuchtfeuer gewirkt habe, fangen diesen Eindruck ein.

Die Arbeitsbereiche, denen die Gräfin sich zuwandte, können als ungewöhnlich gelten. In der Regel kümmerten sich christlich engagierte Frauen um Kinder und Frauen, aber nicht in erster Linie oder fast ausschließlich um Männer. Die Ausrichtung auf Fischer und Seeleute blieb trotz aller Veränderungen in den Unternehmungen Schimmelmanns erhalten. Ihre seit 1900 in großem Stil aufgezogene Evangelisationstätigkeit allerdings bezog sich gleichermaßen auf Männer und Frauen.

Kommentar

Bei der Beschäftigung mit Schimmelmann stellt sich durchaus ernsthaft die Frage, inwieweit – zumindest phasenweise – von einer psychischen Persönlichkeitsstörung auszugehen ist. Aufgrund der erhaltenen Quellen lassen sich solche Überlegungen nicht eindeutig beantworten, aber sie müssen zumindest zum Ausdruck gebracht werden. Ein gewisser Realitätsmangel kann der Gräfin auf jeden Fall attestiert werden, manche ihrer Ideen und Projekte verdienen das Etikett Größenwahn. Die Gräfin war eine vielschichtige Persönlichkeit, die sich keiner der christlichen Bewegungen ihrer Zeit eindeutig zuordnen lässt; sie entzieht sich jeder klar wirkenden Kategorisierung. Sie bewegte sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, suchte dann aber freiwillig den Kontakt zu sozial Ausgegrenzten. Sie zog sich vom adligen Lebensmodell zurück, um allerdings auf eigene Weise sehr große Aufmerksamkeit zu erlangen. Adeline Schimmelmann sah sich von Gott berufen und fühlte sich zu einer besonderen Mission beauftragt.

Das Leben Adeline Schimmelmanns weist ungewöhnliche Züge auf. Sie selber trug erheblich dazu bei, sich wahlweise entweder als sehr einflussreich und vermögend zu inszenieren oder als verfolgtes Opfer, das wegen seiner außergewöhnlichen Leiden Aufmerksamkeit verdiente. Ihre Lebensgeschichte hat nun auch die Ebene der Trivialliteratur erreicht: 2013 erschien unter dem Titel Die Gräfin und das Haus am Meer ein erzählerischer Versuch, der sich des Materials ihrer Biografie bedient. Die Ambivalenzen des Lebensentwurfs werden hier in simple Muster gekleidet, Klischees ersetzen die Fremdheit eines vergangenen Jahrhunderts. Das, was sich durch historische Recherche erhellen lässt, mutet romanhafter an als diese Erzählung: Mehmed Ali Pascha, der Gesandte der Hohen Pforte beim Berliner Kongress, sitzt im Sommer 1878 mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa im Salon einer Tochter Bettine von Arnims, liest Gedichte vor und schwärmt von der Hofdame Schimmelmann!