Agnes von Zahn-Harnack

Glaube an Geistesfreiheit, Vernunft und Wissenschaft, Recht im ethischen Sinne und den Primat der Liebe
Frömmigkeit und Frauenemanzipation Gisa Bauer
Lebensdaten
von 1884 - bis 1950
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Beziehungen

Agnes von Zahn-Harnack wurde am 19. Juni 1884 in Marburg als dritte Tochter von Amalie Thiersch und Adolf von Harnack geboren. Zusammen mit ihren sechs Geschwistern wuchs sie in Berlin auf, wohin die Familie 1888 zog, als der Vater Adolf von Harnack Professor für Kirchengeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität wurde. Adolf von Harnack (der 1914 den erblichen Adelstitel erhielt) war Sohn des Praktischen Theologen Theodosius Harnack und dessen Frau Anna Ewers und heiratete 1879, am Ende seines Studiums und zu Beginn seiner Kirchengeschichtsdozentur in Leipzig, Amalie Thiersch, die älteste Tochter des Leipziger Chirurgen und Medizinprofessors Carl Thiersch und seiner Frau Johanna von Liebig, einer Tochter Justus von Liebigs.

Der weitverzweigte Familienkreis der Harnacks, die freundschaftlichen Beziehungen des Vaters zu Kollegen und deren Familien sowie die engen nachbarschaftlichen Beziehungen im Berliner Westen, einer damaligen Hochburg deutscher Intellektueller, Schöngeister und Wirtschaftsgrößen, ergaben ein Kaleidoskop von sozialen Beziehungen, in die die Harnackkinder schon frühzeitig einbezogen wurden. Zu den Verwandten, Freunden und Bekannten gehörten u.a. die Familien Delbrück, Planck und Mommsen, später die Familien von Dohnanyi, Bonhoeffer, Lüders und weitere. Eingebettet in dieses soziale Netz innerhalb protestantisch-bürgerlicher Kreise verbrachte Agnes von Harnack eine Kindheit und Jugend, die reich an Eindrücken und Anregungen für ihre eigenen Entwicklungen war und ihr schon frühzeitig Einblicke in das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben der Kaiserzeit boten.

Von 1889 bis 1900 war Agnes von Harnack Schülerin an zwei Berliner Mädchenschulen, von 1900 bis 1903 erfolgte ihre Ausbildung zur Lehrerin für Mittlere und Höhere Mädchenschulen. In den nächsten 17 Jahren arbeitete sie als Lehrerin für Religion, Deutsch und Englisch an der Höheren Töchterschule Wellmann-von Elpons in Berlin-Charlottenburg. Parallel dazu legte sie 1908 – nach privater Vorbereitung – das Abitur ab und immatrikulierte sich im Oktober 1908 als erste Frau an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bis 1912 studierte sie deutsche und englische Philologie und Philosophie und wurde im selben Jahr in Greifswald im Fach „Germanistische Philologie“ mit einer Arbeit über ein bis dahin unveröffentlichtes Trauerspiel von Clemens Brentano promoviert. 1917/18 war Agnes von Harnack Mitarbeiterin und zuletzt, an Stelle der ausgeschiedenen Marie-Elisabeth Lüders, Leiterin der „Frauenarbeitszentrale“ im Kriegsamt. Im Dezember 1919 heiratete sie den Juristen und späteren Regierungsrat im Reichsinnenministerium Karl von Zahn (1877-1944). Drei Kinder gingen aus der Ehe hervor: Gabriele (1920; kurz nach der Geburt verstorben), Edward (1921-1977) und Margarete (1924-2010).

In der Zeit der Weimarer Republik arbeitete Agnes von Zahn-Harnack als freie Schriftstellerin und Publizistin, wobei sie sich vorrangig frauenemanzipatorischen und theologischen Themen widmete. Wirkungsgeschichtlich am bedeutendsten sind ihre Monografie „Die Frauenbewegung: Geschichte, Probleme, Ziele“ (1928) und die in Zusammenarbeit mit Hans Sveistrup herausgegebene Bibliografie „Die Frauenfrage in Deutschland. Strömungen und Gegenströmungen 1790-1930. Sachlich geordnete und erläuterte Quellenkunde“ (1934) sowie die Biografie ihres Vaters „Adolf von Harnack“ (1936; 2. Aufl. 1951). Politisch engagierte sie sich auf Lokalebene für die Deutsche Demokratische Partei (DDP).

Von 1926 bis 1930 war Agnes von Zahn-Harnack erste Vorsitzende des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB). Mit dieser Tätigkeit waren zahlreiche Vortragsreisen ins Ausland, besonders in die USA, verbunden. 1931 nahm sie als Delegierte des DAB an der 12. Generalversammlung des Völkerbundes in Genf teil. Im Herbst 1931 wurde sie zur ersten Vorsitzenden des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) gewählt, dem größten Dachverband der Vereine, Verbände und Gruppen der so genannten bürgerlichen Frauenbewegung mit bis zu einer Million Mitglieder, an dessen Selbstauflösung am 15. Mai 1933 zum Schutz vor der nationalsozialistischen Gleichschaltung sie maßgeblich beteiligt war. Ab diesem Zeitpunkt zog sich Agnes von Zahn-Harnack bis 1945 als Schriftstellerin in die „innere Emigration“ zurück und lehnte die ihr angetragene Mitarbeit in der nationalsozialistischen Frauenbewegung konsequent ab.

Von 1945 bis 1950 war Agnes von Zahn-Harnack als freie Mitarbeiterin beim RIAS sowie als Journalistin und Schriftstellerin tätig und verfasste zahlreiche Rundfunk- und Pressebeiträge zu frauenspezifischen, christlich-ethischen und kulturellen Themen.

Bereits im Juli 1945 gehörte sie zu den Gründerinnen des Deutschen Frauenbundes 1945 (heute: Berliner Frauenbund 1945 e.V.) und war 1949 Mitinitiatorin der Neugründung des DAB.

Im Juni 1949 wurde ihr die Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Marburg verliehen. Agnes von Zahn-Harnack starb am 22. Mai 1950 in Berlin.

Wirkungsbereich

Durch ihr Elternhaus wuchs Agnes von Zahn-Harnack in den Wertehorizont des bildungsbürgerlichen, liberalen Protestantismus hinein und hielt ihr Leben lang an der Überzeugung fest, dass evangelisches Christentum ohne Werte wie Bildung, Gesinnung, Humanität und Individualität nicht denkbar ist. Der Kern dieses so genannten Kulturprotestantismus war, christliche Ethik in aktuellen gesellschaftlichen Situationen in Anwendung zu bringen und Frömmigkeit als „Lebenspraxis“ umzusetzen. Dieser ethische Anspruch entsprang einer tiefen evangelischen Frömmigkeit, der der Anspruch der Bewährung im sozialen Engagement inhärent war.

In der Zeit der Weimarer Republik schlug sich die kulturprotestantische Haltung Agnes von Zahn-Harnacks v.a. auf dem Gebiet der Frauenemanzipation nieder, seit den 1930er Jahren in einem stärkeren Wirken für die direkte Bewahrung liberal-protestantischer Werte, nach 1945 wiederum im Engagement für die Frauenemanzipation. In zahllosen Aufsätzen, Schriften, Vorträgen und Büchern setzte sie sich mit den verschiedenen Facetten der Frauenemanzipation auseinander und gilt noch heute als eine der führenden Persönlichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung. Das Wirken für Rechte für Frauen erwuchs für sie unmittelbar aus dem Christentum, es war untrennbar verbunden mit „den letzten Überzeugungen des Christentums“ (vgl. Quellentext Nr. 6) bzw. es „hat zum Protestantismus eine tiefe innere Verwandtschaft“ (vgl. Quellentext Nr. 4). Eine besondere Konnotation erhielt der Konnex Christentum – Frauenemanzipation durch die spezifische Deutung der Reformation als eine historische Marke der religiösen Entwicklung zur Gewissensfreiheit des Einzelnen und der Freiheit des Individuums (vgl. Quellentext Nr. 4). Soziale und religiöse Bewegungen, u.a. eben die Frauenbewegung, wurden von Zahn-Harnack generell als von „religiösem Pathos“ getrieben definiert (vgl. Quellentext Nr. 5), Bewegungen aber, die „unauflöslich mit dem sittlichen und sozialen Aufstieg der Menschheit“ verbunden waren und aus „reinem Herzen“ erfolgten, so Zahn-Harnack, waren „aus Gott“ (vgl. Quellentext Nr. 9) – wobei sie hier speziell die Frauenbewegung vor Augen hatte.

Der Ursprung aller sittlichen Werte lag bei Zahn-Harnack letztlich im Religiösen. So war z.B. Erziehung, ein hohes Gut im kulturprotestantischen Wertehorizont, ihrer Meinung nach „in der tiefsten Tiefe“ in Religion begründet, da von ihr letztlich alle richtunggebenden und erziehenden Kräfte ausgingen (A. von Zahn-Harnack: Mütterschulung, 149).

Agnes von Zahn-Harnacks Wirken als Frauenrechtlerin, als Lehrerin und als Publizistin kann nur vor dem Hintergrund ihrer protestantischen Frömmigkeit, die sich in der Lebenspraxis äußerte, verstanden werden.

Vor diesem Hintergrund kulturprotestantischer Frömmigkeit war die evangelische Kirche für Zahn-Harnack zwar eine stete Reibungsfläche (vgl. Quellentexte Nr. 1, 2 und 3), wurde aber im Nationalsozialismus in Form der Bekennenden Kirche auch für sie die Bastion des Widerstandes, deren theologische Haltungen sie zwar nicht teilte, aber die sie unterstützte und für die sie sogar frauenemanzipatorische Anliegen zurückstellte (vgl. Quellentext Nr. 7). Trotz aller Ausfälle der Bekennenden Kirche gegen die Frauenemanzipation und trotz ihrer Tendenz, eine „neue Orthodoxie“ herauszubilden, bestärkte Zahn-Harnack die Front in der evangelischen Kirche, die sich noch am meisten vom Nationalsozialismus abgrenzte. In einer „politischen Beurteilung“ der Berliner Gauleitung von 1938 wurde sie zu den „Bekenntnischristen“ gezählt (vgl. Politische Beurteilung).

Allerdings suchte Zahn-Harnack nach Möglichkeiten des Widerstandes im kulturprotestantischen Sinne. Mit der von ihr verfassten und 1936 erschienene Biografie ihres Vaters Adolf von Harnack gelang ihr dies, zumindest in dem Maße, wie Widerstand in Diktaturen durch Bücher bewirkt werden kann. Das herrschende Regime vertrat alles andere als humanistische, liberale und christliche Werte, so wie sie von Adolf von Harnack verkörpert worden waren, der nun von seiner Tochter zu einem Symbol gegen die Diktatur in Anwendung gebracht wurde, die er selbst nicht mehr erlebt hat. Agnes von Zahn-Harnack positionierte sich mit dieser Biografie als liberale (Laien)Theologin sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch gegen eine durch Dogmatismus und Ahistorizität verengte Theologie.

Zusammen mit verschiedenen anderen (protestantischen) Frauen aus der ehemaligen Frauenbewegung verfolgte Zahn-Harnack darüber hinaus andere Formen des Widerstandes und nutzten andere Kreise zur Informationsgewinnung. So fanden in ihrem Haus in der gesamten Zeit des „Dritten Reiches“ Treffen statt, bei denen über die politische Situation diskutiert wurde. Die Zeitzeugin Ilse Reicke erwähnt in ihrem „Lebensbild“ von Zahn-Harnack darüber hinaus Gesprächskreise im Haus Anna von Gierkes sowie bei der Schwester Agnes von Zahn-Harnacks, Elisabet von Harnack, in denen regimekritische Debatten geführt wurden. Über den letztgenannten Kreis sei „nie ein Wort an fremde Ohren gelangt“. Durch ihren Bruder Ernst von Harnack, der 1945 wegen seiner Beteiligung am Widerstand des 20. Juli 1944 hingerichtet wurde, war Zahn-Harnack über weitere Oppositionskreise informiert. Auf der Gedenkfeier für ihren Bruder hielt Agnes von Zahn-Harnack im Jahr 1946 die Ansprache für die Familie und erinnerte an die hingerichteten Widerstandskämpfer des Berliner Bildungsbürgertums christlich-protestantischer Gesinnung: Erwin Planck, Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher, Hans von Dohnanyi, ihren Cousin Arvid und seine Frau Mildred Harnack. Alle diese Männer und Frauen, so Agnes von Zahn-Harnack, hätten aus der Kraft des Christentums gelebt und die Kraft für ihren Widerstand geschöpft.

Das spiegelt auch ihre eigene Haltung wider: Aus liberalprotestantischem Geist widersetzte sie sich dem Nationalsozialismus und seiner Ideologie. Wie weit ihr Widerstand ging, ist zum gegenwärtigen Stand der historischen Forschung nicht geklärt, da für die Zeit 1933 bis 1945 zu viele Quellen fehlen und sie selbst sich naheliegender Weise in Briefen nicht über subversive Aktivitäten äußerte. Dass sie mindestens einem jüdischen Kind illegal bei sich zu Hause Privatunterricht erteilte, ist nur auf Grund der Aussage des Betreffenden und erst seit einigen Jahren bekannt. Im Hinblick auf ihre engen Verbindungen über ihre Schwester Elisabet sowie ihre Mitstreiterin im ehemaligen Vorstand des BDF Anna von Gierke zu dem Landjugendheim Finkenkrug, wo Jüdinnen und jüdische Kinder versteckt bzw. ihnen bei der Flucht ins Ausland geholfen wurde, ist zu vermuten, dass sich Zahn-Harnacks Engagement für Verfolgte des Nationalsozialismus noch weiter erstreckte. Aber auch die Geschichte und Bedeutung des Landjugendheimes Finkenkrug wurden erst in den letzten Jahren begonnen aufzuarbeiten und sind bei Weitem noch nicht vollständig erforscht.

Zahn-Harnacks Einsatz für die Frauenemanzipation kam erst nach dem Ende des „Dritten Reichs“ wieder zum Tragen: im Juli 1945 fand die Gründungsversammlung des von ihr angeregten Deutschen Frauenbundes 1945 statt, zu dessen Vorsitzender sie gewählt wurde. Im Rahmen ihrer Tätigkeit im Frauenbund setzte sich Agnes von Zahn-Harnack dezidiert für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und gegen die beginnende atomare Aufrüstung ein. Im Juni 1949, zum 65. Geburtstag Agnes von Zahn-Harnacks, lud die Hochschulkommission des Berliner Frauenbundes Akademikerinnen aus Westdeutschland nach Berlin ein. Aus diesem Treffen ging die Neugründung des DAB hervor. Zeitgleich erreichte Agnes von Zahn-Harnack die Nachricht, dass die Theologische Fakultät der Universität Marburg ihr anlässlich ihres 65. Geburtstages die Ehrendoktorwürde verlieh, die sie im Februar 1950, kurz vor ihrem Tod, in Form der Ehrendoktorurkunde in Marburg entgegen nahm. In ihrer Dankesrede, in der sowohl ihre eigene theologische Haltung als auch die ihres Vaters zum Ausdruck kommt, erörterte sie den „Apostolikumsstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart“ (vgl. Quellentext Nr. 8) und zeigte sich dabei als kluge und souveräne Theologin – sie, die nie Theologie studiert hatte.

Reformatorische Impulse

Die Reformation wurde von Agnes von Zahn-Harnack als Ereignis gedeutet, durch das Bildung und dadurch die „sittliche Entwicklung der Menschheit“ entscheidend angestoßen wurde. In der Lutherrezeption der liberalen Theologie Ende des 19. Jahrhundert spielte die „Freiheit eines Christenmenschen“, verstanden als die „innere Freiheit vom Dogma“ (Stephan: Geschichte, 222), die zentrale Rolle. Die „Befreiung der Religion von kirchlicher Autorität, von Tradition, Ritus und Gesetz“ „sub specie reformationis“ wurde als eigentlicher Sinn der Christentumsgeschichte identitätsstiftendes Interpretament im kulturprotestantischen Sinne. Bei Zahn-Harnacks Reformationsinterpretation lag der Schwerpunkt weniger auf der Befreiung von kirchlicher Autorität, sondern auf der Befreiung des Individuums von Autoritäten, die die den Menschen von Gott gegebene Persönlichkeit einengten. Die Entfaltung der Persönlichkeit unter dem Aspekt der Gewissensfreiheit war für Zahn-Harnack die unmittelbare Brücke zu den Anliegen der Frauenbewegung, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Frauen ermöglichen wollte. Die Reformationsdeutung Zahn-Harnacks als Bildungsbewegung, die gleichzeitig die Gewissensfreiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellte, bildete die Schnittmenge von liberalem Protestantismus und frauenemanzipatorischem Engagement in ihrem Denken und Handeln (vgl. Quellentext Nr. 3). Bei dieser Form des Rückgriffs stellte die Reformation für beide Phänomene eine historische Legitimationsbasis dar. Hinsichtlich der Frauenbewegung ist dies besonders erstaunlich, da hier keine kirchenhistorisch-theologischen Identitätslegitimationen zu vermuten sind. Allerdings stellt Zahn-Harnack dafür keinesfalls einen Einzelfall dar. Auch bei Gertrud Bäumer, einer weiteren führenden Persönlichkeit der frühen bürgerlichen Frauenbewegung, tauchen diese Argumentationsmuster in ganz ähnlicher Form auf.

So ambivalent bzw. einseitig diese Reformationsinterpretation war, die sowohl das Menschenbild der Aufklärung als auch des Idealismus in die reformatorische Epoche hineintrug, so stark wirkte sie auf das kulturprotestantische Denken und schrieb die Reformation fort.

Kommentar

Bei der Analyse der Wirkungsgeschichte Agnes von Zahn-Harnacks sticht ins Auge, wie unterschiedlich sie von der Nachwelt wahrgenommen wird, und zwar entweder als Frauenrechtlerin oder als Schriftstellerin in den theologischen Fußstapfen ihres Vaters – aber nicht beides zusammen. Pointierten Ausdruck findet diese gegenseitige Ignoranz der Frauengeschichtsschreibung und der Kirchengeschichtsschreibung in der Unkenntnis der Bedeutung Zahn-Harnacks wirkungsmächtiger Werke für den jeweils anderen Bereich: Während ihre Untersuchung „Die Frauenbewegung. Geschichte, Probleme, Ziele“ in der Frauengeschichtsschreibung als Grundlagenwerk herangezogen und die von ihr initiierte „Bibliographie der Frauenfrage“ bis heute aktualisiert wird, gehört die Biografie „Adolf von Harnack“ zur Referenzliteratur in der Forschung zur liberalen Theologie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, ist aber wiederum in der Frauengeschichtsforschung nahezu unbekannt. Diese disparate Wahrnehmung der Wirkungen einer historischen Person legt nicht nur beredtes Zeugnis der Fächeraufspaltung und der Spezialisierungen in der Gegenwart ab, sondern auch davon, wie weit insbesondere die Theologie von der Lebenspraxis des Kulturprotestantismus als einer Einheit von Christentum und Welt, von Frömmigkeit und Engagement für die verschiedenen Belange des Lebens inzwischen entfernt ist. Bei Zahn-Harnack bildete frauenemanzipatorisches Engagement und kulturprotestantische Frömmigkeitshaltung noch eine untrennbare Einheit.

Durch diese untrennbare Einheit wurde Zahn-Harnack direkt oder indirekt durch die Nachgeborenen zwei Vorwürfen – und man kann durchaus sagen: Verleumdungen – ausgesetzt: Einmal ist sie als Vertreterin des Kulturprotestantismus von der Kritik am liberalen Protestantismus durch Karl Barth und derer, die sich undifferenziert in seiner Gefolgschaft befinden, betroffen und zweitens durch die Kritik der feministischen Frauengeschichtsschreibung der 1980er, 1990 Jahre an der bürgerlichen Frauenbewegung, diese habe den Nationalsozialismus befördert. Zu beiden Aspekten ist zu sagen, dass sie sich in der Kirchengeschichts- bzw. Allgemeingeschichtsschreibung teilweise sogar bis heute gehalten haben, aber durch die historiografischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte obsolet bzw. stark hinterfragt worden sind.

Die Kulturprotestantismuskritik Barths im Zuge der liberalprotestantischen Propaganda für den Ersten Weltkrieg und die Rezeption dieser Kritik verdeckte die Widerstands- und Resistenzhaltung vieler liberaler Protestanten und v.a. derer Kinder im Nationalsozialismus, die, wie z.B. Ernst von Harnack, für ihre Einstellung sogar mit dem Leben bezahlten.

Der Vorwurf gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung und ihren führenden Persönlichkeiten, sie hätten dem nationalsozialistischen Mutterkult den Weg bereitet und schon frühzeitig die nationalsozialistische Ideologie verbreitet, übersieht einerseits die völlig anders gelagerte Intention von „Mütterlichkeit“ in der Frauenbewegung und der nationalsozialistischen Ideologie und andererseits die dezidiert antinationalsozialistische Haltung vieler Frauenrechtlerinnen der frühen Frauenbewegung.

Beides, sowohl das Verdikt des Feminismus gegenüber der angeblich pronationalsozialistischen bürgerlichen Frauenbewegung als auch das Urteil kirchenhistorischer Darstellungen, die liberale Theologie habe dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet, ist im Falle von Agnes von Zahn-Harnack strikt zurückzuweisen, und anhand ihres Beispiels zu fragen, inwiefern diese Vorwürfe generell stichhaltig sind.