Gräfin Amalia hat in ihrer kleinen Reichsgrafschaft Ortenburg, einer evangelisch-lutherischen Enklave im katholischen Altbayern, im Jahre 1703 ein vorbildliches Schulreformwerk umgesetzt, dessen wichtigste Grundpfeiler Schulpflicht, Konfirmation und finanzielle Unterstützung armer Schulkinder waren. Bei der Darstellung dieser großartigen Schulreform stößt man auf ungeahnte Verbindungen und ein Netz von bemerkenswerten Beziehungen tut sich auf. Der Bogen spannt sich von Sachsen-Gotha, dem Land mit den vorbildlichsten Schulgesetzen des Herzogs Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha (1601-1674) für das niedere Schulwesen, bis hin zu allen evangelischen Reichsterritorien, die mit ihrer finanziellen Unterstützung die Verbesserung des Schulwesens in Ortenburg ermöglichten.
Das mitten mit katholischen Altbayern liegende Ortenburg war wegen seiner exponierten Lage ein Bindeglied für die Geheimprotestanten in Oberösterreich zu den Reichsstädten Regensburg und Nürnberg, von wo aus sie mit lutherischen Bibeln versorgt wurden. Aus diesen Reichsstädten kamen auch die Unterstützer und Berater für das Schulreformwerk der Gräfin. Georg Serpilius (1668-1723), sachsen-gothaischer Kirchenrat, war Prediger und Superintendent von Regensburg und Johann Konrad Feuerlein (1656-1718) war Prediger und Inspektor des Egidien-Gymnasiums in Nürnberg. Beide Theologen setzten sich überall an ihren Wirkungsstätten für eine Verbesserung des Schulwesens und für die Einführung der Konfirmation ein. Es war Philipp Jakob Spener (1635-1705), einer der führenden Theologen des Luthertums im 18. Jahrhundert, der mit seinen Schriften zum Promotor der Konfirmation wurde, da er mit der Konfirmation die Kirche wieder stärker in die katechetische Jugendunterweisung einbinden wollte.
Aus Nürnberg stammte auch Amalia Regina (1663-1709), wo sie ihre Jugendzeit verbracht hatte. Das Geschlecht der Grafen von Zinzendorf und Pottendorf war in Österreich beheimatet. Der Vater musste als Protestant die österreichische Heimat verlassen, er starb jedoch, als Amalia Regina noch ein Kind war. Durch ihre Hochzeit mit Graf Georg Philipp im Jahr 1685 kam Amalia Regina nach Ortenburg. Sie war eine Tante des Begründers der Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700-1760). Das Elternhaus gab ihr eine tiefe Frömmigkeit mit auf den Weg. Der Einfluss des Elternhauses zeigt sich auch bei ihrer jüngeren Schwester Renata zu Castell (1669-1743), die sich durch soziales und karitatives Wirken hervortat.
Nach dem Tode ihres Mannes (1702) hat Amalia Regina 1703 unter ihrer vormundschaftlichen Regierung für ihren unmündigen Sohn Johann Georg (1686 -1725) eine Schulordnung nach dem Vorbild des Gothaer Schulmethodus erlassen. Aus derselben Quelle schöpft auch August Hermann Francke, der 1695 in Halle ein Waisenhaus begründete und 1702 eine gedruckte Schulordnung für die Waisenhausschulen herausbrachte. 1703 führte Gräfin Amalia Regina mit ihrer Schulordnung die allgemeine Schulpflicht und die Konfirmation in der evangelisch-lutherischen Reichsgrafschaft Ortenburg ein.
140 Jahre zuvor hatte Graf Joachim von Ortenburg (1530-1600) im Jahr 1563 aus religionspolitischen Motiven heraus das „ius reformandi“ für seine reichsunmittelbare Grafschaft Ortenburg in Anspruch genommen und die Reformation eingeführt.
Die Etablierung des Augsburger Bekenntnisses in diesem höchstens 2000 Seelen zählenden Territorium in Altbaiern führte zur Gründung eines konfessionsgeprägten Schulwesens, das sich bis zum Übergang der Reichsgrafschaft an Bayern im Jahr 1805 eigenständig entwickelte und ein Hort der Glaubensunterweisung war.
Die Schule hatte den Auftrag, für die Jugend eine Pflanzstätte des Glaubens nach der Augsburger Konfession zu sein. Die Jugend sollte zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift als Quelle des Glaubens angeleitet werden, denn ohne Unterweisung im Wort Gottes sei kein Glauben möglich. Durch die Beschäftigung mit dem Katechismus sollte die Kenntnis der Heiligen Schrift vertieft werden. Deshalb bestand das Hauptziel des Unterrichts darin, die Kinder zum selbstständigen Erlesen biblischer Texte anzuleiten. Der Unterricht bestand aus Lehren, Lernen und Abhören des Gelernten durch wechselseitiges Vorsprechen und Nachsprechen. Die Schüler lernten auf diese Weise die biblischen Texte auswendig und verstanden so deren religiöse Botschaft. Das Erlernen des christlichen Glaubens setzte aber elementare Lesekenntnisse voraus. Die Methodik des Leseunterrichts war geprägt von der Erfindung der Buchdruckerkunst und wurde als Zusammensetzen von Buchstaben verstanden. Diese sog. Buchstabiermethode führte deshalb zum Lesen, weil die Kinder an völlig geläufigen Texten, dem Vaterunser, dem Glauben und den Zehn Geboten das Buchstabeninventar kennenlernten.
(Zum Bild: Das erste Schulhaus in Ortenburg, errichtet von Graf Joachim in der Zeit von 1566-1573, das heutige Schellnhuberhaus [Foto: Postkarte Werner Pletz])
Neben der Hinführung zum Evangelium zielte die schulische Unterweisung zugleich auf die Einübung in das gottesdienstliche Leben der Gemeinde. Alles, was in der Schule gelehrt wurde, war aufs engste mit dem Sonntagsgottesdienst verbunden. Gemäß dem reformatorischen Postulat des Priestertums aller Gläubigen stellte die Schule die priesterlich handelnde Gemeinde dar. So wurden durch die Schule die zentralen Glaubenswahrheiten in die versammelte Gemeinde getragen.
Die Schule hatte die Funktion einer „Schola“ während des Gottesdienstes. Durch Singen deutscher Lieder, Beten und Rezitieren von Katechismusstücken übernahm die Schule während des Gottesdienstes den aktiven Part der Gemeinde. Die vom Schülerchor in der Muttersprache gesungenen, in Wort und Gehalt an die Heilige Schrift gebundenen geistlichen Lieder vermittelten der Gemeinde mit einem Klangleib versehene Kernelemente der christlichen Lehre. Dieser Gesang war in Töne gefasste Lehrverkündigung und vollgültiger Bestandteil der Liturgie.
So waren Kirche und Schule eng miteinander verzahnt und bildeten gewissermaßen die zwei Seiten von ein und derselben Medaille. Wie jeder Teil eines Organismus seinen Auftrag nur vom Ganzen her gesehen erfüllen kann, lag der spezifische Aufgabenbereich der Schule darin, die Jugend zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift anzuleiten und ihnen dadurch den Zugang zur Quelle des Glaubens zu eröffnen.
Doch blieb dieser Idealzustand des Ortenburger Schulwesens, wie es sich uns im Reformationsjahrhundert darstellt, nicht bestehen.
Um 1700 waren die Schulverhältnisse in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Neben den äußeren Bedingungen, wie den katastrophalen räumlichen und hygienischen Verhältnissen im Schulgebäude, bildeten vor allem die mangelnden rechtlichen Grundlagen ein Hindernis für einen geordneten Schulbetrieb. Es gab keinen gräflichen Erlass, der den Eltern den Schulbesuch ihrer Kinder zur Pflicht machte.
Auch war das Verhältnis des regierenden Grafen Georg Philipp, dem Ehemann von Gräfin Amalia Regina, mit der Ortenburger Bürgerschaft wegen eines Steuerstreites zerrüttet.
Als ihr Gemahl ab 1701 schwer krank darniederlag, wurden von Amalia Regina schon erste Maßnahmen zur Verbesserung des Kirchen- und Schulwesens getroffen.
Nach dem Tode ihres Mannes am 5. Mai 1702 übernahm Amalia Regina die vormundschaftliche Regierung für ihren Sohn Johann Georg (1686-1725). Am 14. September 1701 wurden an alle evangelischen Reichsterritorien gleichlautende Bittbriefe verschickt. Mit Spendengeldern wollte sie die Kirchen- und Schulgebäude erneuern. Die Kollekte war erfolgreich, und so konnte mit der Renovierung der Marktkirche und des Schulhauses begonnen werden. In der kurzen Spanne ihrer Regierung von 1702 bis 1706 tat Gräfin Amalia Regina sehr viel Gutes für die notleidende Jugend in einer Zeit, die vom Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1714) erschüttert war. Zu ihren ersten Amtshandlungen gehörten die Beendigung des Steuerstreites, wodurch das Vertrauensverhältnis zur Bürgschaft wieder hergestellt wurde, und die tiefgreifende Neugestaltung des Schulwesens.
Amalia Regina verstarb im Jahr 1709 im Alter von 46 Jahren.
Gräfin Amalia Regina erließ am 27. Januar 1703 eine Schulordnung.
(Zum Bild: Ausschnitt aus der Schulordnung der Gräfin Amalia Regina von 1703 [Landeskirchliches Archiv Nürnberg Or. 266/3]; Foto: Wilfried Hartleb)
In der Präambel zu dieser Schulordnung wird deutlich, weshalb Gräfin Amalia Regina dem Schulwesen ihrer Grafschaft besonderes Augenmerk zuwendet. Sie wollte die Jugend aus dem Elend des „sündlichen Müssiggangs“ herausholen und der „barbarischen Unart der Eltern, die ihre Kinder wie das Vieh aufwachsen lassen“, entreißen. Durch schulische Erziehung und Unterrichtung sollte das ersetzt werden, was die Eltern durch „schlimme Hauszucht“ bei den Kindern vernachlässigten. Die Schule sollte als Korrektiv zur elterlichen Erziehung einspringen, da viele Eltern ihre Kinder „wie das Vieh aufwachsen“ ließen und unfähig waren, sie zu „christlicher Zucht und Sitten“ zu erziehen.
Eine Besserung in der Kindererziehung erwartete Gräfin Amalia durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für alle Kinder beiderlei Geschlechts.
Dies sollte nicht nur obrigkeitliche Absichtserklärung bleiben, sondern für die gesamte Reichsgrafschaft zur allgemein verbindlichen Norm mit allen Konsequenzen. In 13 Punkte unterteilt, regelte dieses Schulgesetz die gesamte Schularbeit und gab den Pfarrern als Schulaufsichtspersonen, den Eltern und den Lehrern genaue Anweisungen für ihre Erziehungsaufgabe der nachwachsenden Generation gegenüber. Die Ausführungsbestimmungen dienten zur Begründung einer festen institutionellen Ordnung. Der mangelhaften Schulgesetzgebung, die zu den schlimmen Schulzuständen geführt hatte, war damit ein Ende bereitet. Die Schulordnung wurde 1706 als Nummer 3 in die Ortenburger Kirchenverordnungen übernommen.
(Zum Bild: Ortenburgische Kirchen-Verordnungen auf verschiedene Jahreszeiten und bey bewißen Begebenheiten zu verlesen [Pfarrarchiv Ortenburg] – Foto: Wilfried Hartleb)
(Zum Bild: Dom. Quasimodogeniti: Erinnerung wegen Information derer jungen Leuth so zum hl. Abendmal sollen unterrichtet werden. Num 3. [Pfarrarchiv Ortenburg] – Foto: Wilfried Hartleb)
Der Gothaer Schulmethodus in der Fassung von 1672 als Grundlage der Ortenburger Schulordnung von 1703
Die für die damalige Zeit vorbildliche Ortenburger Schulordnung lässt ein genialisches schulgesetzgeberisches Konzept als Vorbild erahnen. Es ist dies der Gothaische Schulmethodus, auf den die Gräfin „das ganze Fundament der Schulordnung und Kinderzucht gesetzt wissen“ wollte. Dies ist bemerkenswert, denn der Schulmethodus des Herzog Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha (1601-1674) in seinen drei Fassungen aus den Jahren 1642, 1662 und 1672 war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein kaum übertroffenes Gesetz zur Regelung des niederen Schulwesens in evangelischen Territorien (Hettwer 1964, 256). Auch August Hermann Francke, der mit seinen Schulanstalten in Halle in die Geschichte der Pädagogik einging, zog in seiner Schulordnung für die Waisenhausschulen von 1702 den Schulmethodus zu Rate.
Konfirmation und Schulpflicht
Im zwölften Punkt ihrer Schulordnung hatte Gräfin Amalia Regina die Konfirmation, die als liturgische Handlung im Raum der Kirche vom Pfarrer vollzogen wird, für alle Schulentlasskinder vorgeschrieben: „Insonderheit aber sollen die Kinder, so zum ersten Mal das hl. Abendmahl gebrauchen wollen und darzu tüchtig erachtet sind, nicht nur in der Schule besonders von denen Schulbedienten, sondern auch einige Zeit vorher von denen Pfarrern zur christlichen Vorbereitung dieses hl. Actus zulänglich unterwiesen, darauf in der Kirchen öffentlich vorgestellet, in Gegenwart der ganzen christlichen Gemeinde examiniert… werden“ (LKAN Or 266/3; Mehrmann 1863: 141).
Mit der Konfirmation zeigt sich deutlich ein Miteinander und Aufeinanderangewiesensein von Schule und Kirche. Die Grundlagen zum Bestehen der Konfirmation legte der Schulunterricht, der in erster Linie Religionsunterricht war. Die Unterrichtsfächer „Catechismus“, „Sprüche“, „Psalmen“ waren ausschließlich religiösen Inhalts. Die wichtigste Aufgabe leisteten die Lehrer jedoch mit der Vermittlung der Kulturtechniken Lesen und Schreiben, die ja erst die Auseinandersetzung mit Katechismus und Bibel ermöglichten. Aus dem Schulunterricht erwuchsen organisch die nötigen Kenntnisse zum Bestehen der Konfirmation, die quasi als Krönung das Ende der Schulpflicht markierte.
Auf den Akt der Konfirmation sollten die Konfirmanden laut Schulordnung nicht nur vom Pfarrer, sondern auch von den Lehrern in einem besonderen Unterricht vorbereitet werden.
Der Termin für den Konfirmandenunterricht wurde durch den Pfarrer anberaumt, der am ersten Sonntag nach Ostern diese Verkündigung von der Kanzel verlesen hat.
Gräfin Amalia Regina lässt sich von Theologen Serpilius und Feuerlein bei der Schulreform beraten
Mitgestaltet haben die Schulreform zwei Theologen, die in Beziehung zu August Hermann Francke und Philipp Jakob Spener standen, und die somit als Mittler Franckescher und Spenerscher Reformvorstellungen in Ortenburg tätig waren.
(Zum Bild: Ortenburgische Gastpredigt von Georg Serpilius 1706, gedruckt 1707 [Foto: Wilfried Hartleb])
Der erste, Georg Serpilius (1668-1723), war als sachsengothaischer Kirchenrat mit den Ernestinischen Schulanstalten in Sachsen-Gotha wohlvertraut. Außerdem wird berichtet, dass „H. Serpilius voritzo an das sel. Spener Schriften gar besonderen Geschmack findet“ (Wotschke 1933: 12).
Seit 1695 war G. Serpilius in Regensburg, dem Ortenburg am nächsten gelegenen evangelischen Zentrum, als Prediger, Scholarch und Superintendent tätig. Serpilius war mit seinem Freund Feuerlein vom 14. bis 20. März 1706 in Ortenburg anlässlich einer Kirchen- und Schulvisitation und hielt eine Visitationspredigt, die auch im Druck erschienen ist (Serpilius 1707).
(Zum Bild: Ortenburgische Gastpredigt von Johann Konrad Feuerlein, 1706, gedruckt 1707 [Foto: Wilfried Hartleb])
Der andere für die Schulreform bedeutsame Mann, Johann Konrad Feuerlein (1656-1718), kannte Spener persönlich. Eine Begegnung mit diesem führenden Theologen des deutschen Luthertums in Frankfurt Ende 1682 musste für Feuerlein zum Schlüsselerlebnis geworden sein, denn er initiierte überall an seinen Wirkungsorten eine Verbesserung des Schulwesens, setzte sich für die Armen und Waisen ein und warb für die Konfirmation (vgl. Simon 1952: 493).
Als Feuerlein 1697 Inspektor des Egidiengymnasiums in Nürnberg wurde, kam er über die Reform dieser Anstalt auch mit August Hermann Francke in brieflichen Kontakt (Weiske 1937).
Nach der Inspektion der Ortenburger Schule hielt Feuerlein eine Abschiedspredigt. Gemäß seiner pietistischen Überzeugung sieht er in der Schulreform der Gräfin Amalia Regina auch einen Beitrag zur Intensivierung evangelischer Frömmigkeit, „dass also ihre Vorsorge in Kirchen und Schulen/und in aller Hertzen je mehr und mehr/nebst der wahren Glauben Lehr die rechtschaffene Gottseligkeit fördere/und die sinckende Andacht/wo sie irgend erkalten will/erwecke, O wol ein gottseliges Beginnen“ (Feuerlein 1707: 8).
Die Verbindungen der an der Ortenburger Schulreform beteiligten Theologen und Schulmänner zeigt, dass man das Reformwerk der Gräfin Amalia Regina nicht isoliert betrachten kann, sondern einem größeren Rahmen zuordnen muss.
Ein so großartiges Beispiel einer grundlegenden Kirchen- und Schulreform konnte in der evangelischen Kirche nicht unbekannt bleiben. Ein größerer Leserkreis erfuhr davon, als Serpilius 1708 in den weitverbreiteten „Unschuldigen Nachrichten“, der ersten theologischen Zeitschrift, darüber berichtete. Er spricht höchstes Lob über das Ortenburger Kirchen- und Schulwesen aus, dass „auch anderen zu Heil Anreitzung dienen“ (UN 1708, 358) sollte. Besonders preist Serpilius den „herrlichen Actum Confirmationis nach dem alten Kirchengebrauch für die das erste Mal zum Hl. Abendmahl gehende Jugend.“
Das besondere konfessionelle Ambiente dieser evangelisch-lutherischen Enklave verhalf der Schule wegen ihrer religiösen Erziehungsaufgabe bei der heranwachsenden Jugend zu einem einzigartigen Stellenwert im Bewusstsein der Ortenburger Gemeinde. Die Schule stand nicht im Abseits, sondern war in das sie umgebende Leben der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde eingebunden.
Die Gräfin wollte die religiöse Erziehung aller ihrer Landeskinder erzwingen und langfristig sicherstellen.
Als die Reichsgrafschaft Ortenburg im Jahr 1805 an Bayern fiel, fand die ausschließlich konfessionelle Erscheinungsform des Ortenburger Schulwesens ihr jähes Ende. Nun wurde auch die Ortenburger Schule vom Kirchenwesen gelöst und den Gesetzen eines zentralistisch-bürokratischen Flächenstaates unterworfen, der die Schulen als „reine Staatsanstalten“ und nicht als „religiöse Institute“ ansah (vgl. Reble 1978: 954).
Ohne Rücksicht auf historisch Gewachsenes zu nehmen, suchte Graf Montgelas nach 1803 auch im Bildungswesen „die landschaftlichen, rechtlichen und religiösen Traditionsunterschiedlichkeiten der alt- und neubayrischen Gebiete durch das Instrument der zentralistisch-bürokratischen Herrschaftsorganisation zu vereinheitlichen“ (Boehm 1980: 206), so dass von dieser buntfarbigen pädagogischen Musterkarte nichts mehr übrig blieb. Damit war auch in Ortenburg, das schon 100 Jahre vor Bayern die Schulpflicht kannte, eine 250 Jahre alte eigenständige schulische Entwicklung beendet.
(Zum Bild: Schulhausneubau von 1810 nach dem Verlust der Eigenständigkeit; Bauplan von C.S. Deiß vom 30.11.1810 [Staatsarchiv Landshut Rep. 168 Verz.1 Fasz 1244, Nr. 73] – Foto: Wilfried Hartleb)
Als nach der Übernahme der Reichsgrafschaft Ortenburg durch Bayern die zweieinhalb Jahrhunderte lange eigenständige schulische Entwicklung ihr Ende fand, entwickelten sich aus der Ortenburger Bürgerschaft heraus unvermittelt Initiativen, um im Schulbereich die alten Zustände in die neue Zeit hinüberretten zu können. Der mit einer Begeisterung sondergleichen betriebene, an sich unnötige Schulhausneubau in engster Nachbarschaft zur Kirche sollte den besonderen Aufgabenbereich der Schule als Pflanzstätte des Glaubens sinnbildlich dokumentieren.
Gerade die aus der Insellage der Reichsgrafschaft herrührende konfessionelle Konkurrenzsituation zum katholischen Altbayern hatte hier das Denken und Handeln in traditionellen konfessionellen Kategorien lebendig erhalten, und in der Schule, die von ihrem Selbstverständnis her seit der Reformation immer ein Hort der Glaubensunterweisung für die Jugend gewesen war, zeigte sich dieses Festhalten an überkommenen Werten sichtbar gebündelt.
Gräfin Amalia Regina war als vormundschaftliche Regentin zwar primär Vertreterin des weltlichen Regiments, aber als vornehmstes Glied der christlichen Gemeinde musste sie sich auch um die ihr als Landesherrin und Territorialfürstin zustehenden Aufgaben und Belange des geistlichen Regiments kümmern (Summepiskopat = landesherrliches Kirchenregiment). In der Fürsorge um das Schulwesen handelte Gräfin Amalia Regina aus dieser doppelten Verantwortung heraus.
Durch die Schulordnung gab Gräfin Amalia Regina dem Schulwesen eine feste Rechtsgrundlage und gestaltete die finanziellen Rahmenbedingungen. Kraft der Unterschrift der Gräfin war die Schulordnung bei der Einführung ein staatliches Gesetz. 1706 wurde sie der Kirchenordnung einverleibt. Somit unterstand die Schule der Kirche und als Teil des Kirchenwesens wurde das Schulwesen im Rahmen der Kirchengesetzgebung geregelt.
Die speziell auf die Ortenburger Verhältnisse zugeschnittene Schulordnung der Gräfin Amalia Regina von 1703 war auch deswegen ein geniales Schulreformwerk, weil sie sich an den Gothaer Schulmethodus anlehnte, dem besten Schulgesetz in der damaligen Zeit. Durch die Fixierung der Schulpflicht im ersten Punkt der Schulordnung waren die Eltern zum Schulbesuch ihrer Kinder verpflichtet. Damit schränkte die Gräfin das Elternrecht faktisch ein, denn die verordnete Schulpflicht bedeutete, dass den Eltern die Kinder zeitweise entzogen wurden und der Einflussnahme der Lehrer ausgesetzt waren.
Die bleibende Gültigkeit der Schulreform erklärt sich aus der Konfirmation, die Schule und Kirche bei der religiösen Unterweisung der Jugend unauflöslich miteinander verwob. Wegen der Konfirmation, die die Schulpflicht zum Abschluss und zum Höhepunkt brachte, musste die kirchliche Aufsicht über das Schulwesen sehr engagiert gehandhabt werden.
Gerade durch die Konfirmation, die Kirche und Schule wieder in die gemeinsame Verantwortung für die religiöse Erziehung der Jugend zusammenführte, war das Ortenburger Schulsystem sehr leistungsorientiert, obwohl es „nur“ – in der Beurteilung unseres heutigen säkularisierten Denkens – um religiöse Inhalte ging. So wurde im Jahr 1744 einem ganzen Konfirmationsjahrgang die Schulentlassung verweigert, weil er in dem Generalexamen unzureichende Leistungen erbracht hatte (PAO a 14 Nr. 5).
Als Hort der Glaubensunterweisung war die Schule in Ortenburg mehr als eine Unterrichtsstätte. Hier wurde in einzigartiger Weise der Glaube der Väter an die jüngere Generation weitergegeben.
Ortenburg gehört zu den ersten evangelischen Territorien, in denen die Konfirmation eingeführt wurde. Was an der Schulreform der Gräfin Amalia Regina so bemerkenswert ist, dass in Ortenburg, dieser kleinen, weitab von den evangelischen Zentren gelegenen Enklave in Niederbayern eine eigenständige Antwort auf die drängenden Erziehungsprobleme der damaligen Zeit gesucht wurde. Als Ergebnis entstand ein vorbildliches, in sich stimmiges und effektives Schulsystem, das zugeschnitten war auf die Ortenburger Verhältnisse. Der Erfolg der Schulreform ergab sich aus der Konfirmation, die Schule und Kirche bei der religiösen Unterweisung der Jugend unauflöslich miteinander verwob.
Gräfin Amalia war das Schicksal ihrer Untertanen nicht gleichgültig, ganz deutlich sieht sie die Verkettung von Familie, Schule und Staat, wenn sie in Punkt 6 der Ortenburger Schulordnung ausspricht, dass „aus übler Hauszucht nachgehends nicht nur in Schulen, sondern wenn die Kinder erwachsen sind, im Polizeiwesen selbst gar großer Verlust zu entstehen pfleget.“
Wenn in der Familie, dem Hort der Erziehung, die Kinder vernachlässigt würden, hätte dies negative Folgen für den Staat. Da also die Familie eine geordnete Erziehung nicht gewährleisten konnte, sollte die Schule die elterliche Erziehung ergänzen.
Wollte Gräfin Amalia Regina für ihre jugendlichen Landeskinder etwas erreichen, musste sie das Übel an der Wurzel packen. Deshalb verpflichtete sie die Eltern zum Schulbesuch ihrer Kinder, die, während sie ihre Zeit in der Schule verbrachten, als Arbeitskraft in Haus und Hof fehlten. Im Schulzwang sahen die Eltern keinen Vorteil für die berufliche Tätigkeit ihrer Kinder. Im handwerklichen und bäuerlichen Leben waren Schulkenntnisse entbehrlich.
Weil aber die Konfirmation in der feierlichen Form vor der ganzen Gemeinde als herausragendes Ereignis den Schulunterricht zum Abschluss brachte, zeigte sich augenfällig der Sinn und das Ziel des Schulunterrichtes, der neben der Vermittlung der Elementarkenntnisse wie Lesen und Schreiben in der Hauptsache Katechismusunterricht war. Gerade die Konfirmation hat für den Erfolg der Schulreform der Gräfin Amalie Regina die entscheidende Bedeutung. Als deutliche Grenze zwischen Schule und Berufsleben musste jedes Kind konfirmiert werden. Erst die Konfirmation stattete den Jugendlichen in aller Öffentlichkeit mit allen kirchlichen Rechten aus und bestätigte ihm die Mündigkeit.
Die Konfirmation gab der Schulpflicht den Sinn und dem Schulunterricht das Ziel an, denn sie legitimierte die Schulpflicht. Nicht umsonst fällt der Termin der Konfirmation mit dem Ende der Schulzeit zusammen. Mit der Konfirmation zeigte sich den Eltern Sinn und Ziel des Schulunterrichts. Als deutliche Grenze zwischen Schule und Berufsleben musste die Konfirmation ausnahmslos von jedem Schüler passiert werden. Die Bedeutung der Konfirmation kann in dieser Zeit, als es noch keine staatlichen Schulabschlussprüfungen gab, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Konfirmation war im Sinne einer Freisprechungvon schulischen Verpflichtungen auch ein Akt zur Aufnahme des Jugendlichen in die bürgerliche Gemeinde.
Die schulreformerischen Bemühungen der Gräfin Amalia Regina unter dem Begriff der „Sozialdisziplinierung“ subsumieren zu wollen, würde ihrer Person nicht gerecht werden. Sie wollte nicht den gehorsamen, fleißigen und tüchtigen Untertanen, sondern Bürger. Ihrem Schulreformwerk lagen keine merkantilistisch-utilitaristischen Überlegungen zugrunde, denn nirgendwo kann man in der Schulordnung Bemerkungen über den Vorteil und Nutzen der Schulreform für die Wirtschaftskraft ihres Landes ablesen.
Ihr Eifer zum Wohl ihrer Untertanen war wohl begründet in ihrer tiefen Frömmigkeit. Gräfin Amalia Regina gab sich nicht den ihrem Stande möglichen Vergnügungen hin. Weil „zur Erhaltung christlicher Zucht und Ehrbarkeit immer ein Stand dem anderen die Hand bieten sollte“, sah sie es als ihre Verpflichtung an, „aus christlichem Antrieb und obrigkeitlicher Vorsorg“ für ihre Untertanen zu sorgen.
Im Jahr 2013 feierte Ortenburg die Einführung der Reformation im Jahr 1563. Da wurde ganz besonders auch Gräfin Amalia Regina gedacht, die mit ihrer Schulreform Spuren in der Geschichte der Reichsgrafschaft hinterlassen hat.