(Zum Bild: Das Bild zeigt die Grabstätte von Amalie Sieveking im ältestem Mausoleum Hamburgs auf dem Alten Friedhof in Hamburg-Hamm; copyright: Joern M)
Um das Amalie Sieveking prägende Lebensumfeld und ihren Wirkungskreis näher darzustellen, sind einleitend die wichtigsten biografischen Daten aus ihrem Leben aufgeführt.
Am 25. Juli 1794 wurde Amalie Sieveking in Hamburg geboren. Der Vater, Heinrich Christian Sieveking (1752–1809) war Kaufmann und Ratsherr. Die Mutter Karoline Louise, Tochter des Senators Diedrich Volkmann, starb bereits 1799. Fortan führte eine Verwandte den Haushalt. Auch drei der vier Brüder starben früh. Einer kurz nach der Geburt; ein weiterer als 13-Jähriger im Jahr 1806. Gustav, der jüngste der vier Brüder (geb. 1795), starb 1817. Der älteste Bruder Eduard (1790–1868) absolvierte eine Kaufmännische Lehre und zog nach London.
1809, nach dem Tod des Vaters, muss das Haus aufgegeben werden. Das Vermögen der Familie ist durch wirtschaftliche Krisen in dem seit 1806 von Franzosen besetzten Hamburg verloren gegangen. Die Geschwister werden getrennt. Amalie hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Privatunterricht erhalten, der sie langweilte. Sie findet zunächst bei einer alleinstehenden älteren Dame Unterkunft.
Seit 1811 wohnt Amalie bei einer entfernten Verwandten, Anna Ilsabe Brunnemann, um sie bei der Betreuung des schwerkranken Sohnes zu unterstützen. Sie bleibt dort bis zu deren Tod im Jahr 1839. Zum Unterhalt erhält sie eine kleine Summe aus dem Fond für verwaiste Senatorentöchter und Zinsen aus zwei kleineren Erbschaften.
1813 gründet Amalie mit sechs Kindern von befreundeten Familien ihre erste kleine Schule. Sie entwirft die Lehrpläne selbst und versucht, der Individualität jedes Kindes gerecht zu werden. Durch diese Unterrichtstätigkeit bildet sie sich auch selber weiter und findet zeitlebens in der Tätigkeit als Lehrerin und Erzieherin ihre größte Erfüllung.
1815 beteiligt Amalie sich an der Gründung und am Unterricht einer Freischule für arme Mädchen, die bis 1858 existiert. Kinder, die keine Schule besuchen können, werden mit Hilfe biblischer Geschichten im Lesen und Schreiben unterrichtet. Sie bereitet die Mädchen auf die Konfirmation vor und lädt sie auch danach zu Glaubensgesprächen ein.
1816 berichtet Amalie von ihrer Ergriffenheit durch den Gesang der weißgekleideten Frauen der Herrnhuter Brüdergemeine, die sie bei einem Besuch in Gnadau bei Magdeburg kennen lernt. In dieser Zeit erfährt Amalie eine Wende in ihrem religiösen Leben; weg von einer rationalistisch vermittelten abstrakten Glaubenslehre und hin zu einer emotional berührenden, persönlichen Christus-Nachfolge.
1823 erscheint anonym ihre erste Schrift zu „Betrachtungen über einzelne Abschnitte der heiligen Schrift“.
Sie schmiedet Pläne, nach dem Vorbild der katholischen Barmherzigen Schwestern (Vinzentinerinen und Borromäerinnen) einen ähnlichen Orden innerhalb der protestantischen Kirche zu gründen. 1824 verfasst sie eine entsprechende Ordensregel in 69 Artikeln, die sie jedoch zunächst nicht veröffentlicht.
1831 bricht in Hamburg die Cholera-Epidemie aus und Amalie erkennt, dass sie sich in den Dienst der Krankenpflege stellen muss. Ihr „Aufruf an christliche Seelen“ in der Beilage des „Bergedorfer Boten“, Nr. 37 vom 10. September 1831, worin sie auch andere Frauen des Bürgertums zur Mithilfe auffordert, bleibt jedoch ohne Resonanz.
Am 23. Mai 1832 gründet sie mit 12 weiteren Mitgliedern den „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“.
1837 kann der Verein bereits mit dem Bau von Armenwohnungen beginnen.
1840 wird das Amalienstift eingeweiht, dem ein privates Kinderkrankenhaus angegliedert ist.
Zur gleichen Zeit erteilt Amalie in einem neu gegründeten Institut für Erzieherinnen Religionsunterricht.
In ihren Publikationen, den Jahresberichten des Vereins und auf zahlreichen Vortragsreisen setzt sie sich in den folgenden Jahren vor allem mit Themen der Armenfürsorge auseinander.
Gegen Ende ihres Lebens hat ihr Verein für Armen- und Krankenpflege 85 tätige Mitglieder. Rund 256 Familien werden von ihnen regelmäßig besucht. Die Einnahmen und Ausgaben des Vereins belaufen sich auf 72.000 Courant-Mark. Nach diesem Vorbild werden in und außerhalb Deutschlands in den folgenden Jahren ähnliche Vereine gegründet.
Am 1. April 1859 stirbt Amalie in Hamburg. Nach eigenem Wunsch erhält sie ein Armenbegräbnis. Sie wird auf dem Alten Hammer Friedhof in dem ältesten Mausoleum Hamburgs bestattet (vgl. Grolle: 120-131; Remé: 12-32; Postel: 233-242). Ihr Cousin Karl Sieveking hatte diese Grabstätte von dem Architekten Alexis de Chateauneuf entwerfen lassen (vgl. H. Sieveking).
Vor dem Hintergrund dieser biografischen Daten gewinnt folgendes Zitat von Amalie Sieveking besonderes Gewicht: „Gehemmt von allen Seiten durch Beschränkung der Vermögensumstände, durch Abhängigkeit von fremdem Willen […] Durch das Urteil der Welt, durch tausend lästige Convenienzen […] In tausend Fällen dürfen wir Unverheirateten das Gute nicht tun, wozu unser Herz uns treibt, weil das Ansehen eines entschiedenen, geheiligten, auch von der Welt anerkannten Berufes fehlt“ (Brief an Eduard und Louise; zitiert bei Grolle: 124). Mit diesen Worten beschreibt Amalie Sieveking die besondere Benachteiligung der unverheirateten Frauen und Witwen zu ihrer Zeit. Ihr Lebensweg zeigt zugleich, unter welchen Bedingungen Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts es dennoch vermochten, durch Weiterbildung, berufliche Qualifikation und öffentliche Teilhabe die Ständegesellschaft der Geschlechter zu unterwandern oder teilweise auch zu überwinden. Denn in der Frühphase der deutschen Frauenbewegung und Frauenemanzipation war Hamburg eines ihrer Zentren (vgl. Paletschek: 286f. und 303f.).
Die Familie Sieveking stammte ursprünglich aus Westfalen und war eine seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Hamburg ansässige Kaufmannsfamilie. Bekannte und einflussreiche Persönlichkeiten sind daraus hervorgegangen. Ein Cousin von Amalie war Karl Sieveking (1787–1847), der es ermöglichte, in Hamburg das „Rauhe Haus“ für verwahrloste Kinder zu gründen, indem er Johann Hinrich Wichern (1808–1881) ein Grundstück aus seinem Privatbesitz überließ. Edward Sieveking (1816–1904) war ein Neffe von Amalie. Von 1842 bis 1846 wirkte er als Arzt in Hamburg und unterstützte seine Tante bei der Gründung eines Kinderkrankenhauses. 1847 reiste Edward S. nach London; war Leibarzt des späteren Königs Edward VII., ab 1873 der Königin Viktoria und wurde 1886 in den Adelsstand erhoben.
Angesichts vieler tragischer Schicksalsschläge in ihrem Leben – dem frühen Tod der Eltern und dreier Brüder und der wirtschaftlichen Verarmung – verhalf Amalie die Herkunft aus der gesellschaftlichen Oberschicht immerhin zu einem bescheidenen Einkommen. Sie fand Möglichkeiten, sich weiterzubilden und andere Mädchen zu unterrichten.
Ihre bürgerliche Herkunft ließ Amalie am kulturellen Leben der Stadt teilhaben und mit wichtigen Persönlichkeiten ihrer Zeit in Verbindung treten. Über ihren jüngeren Bruder Gustav lernte sie Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865) kennen, der sie in ihrem christlichen Glauben maßgeblich inspirierte. Theodor Fliedner (1800–1864) bot ihr leitende Positionen in seinen Einrichtungen und dem Diakonissenwerk an. Mit Johann Hinrich Wichern (1808–1881) als Ratgeber für ihre Vereinsarbeit und als Förderer war sie zeitlebens eng verbunden.
Amalie trat persönlich für den reformierten Theologen und Kirchenhistoriker Jean-Henri Merle d’Aubigné (1794–1872) ein. Dieser wirkte von 1818 bis 1822 als Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Hamburg und hatte großen Einfluss in der Erweckungsbewegung. Auch mit dem evangelisch-reformierten Theologen Johannes Geibel (1776–1853) stand Amalie in Verbindung. Von ihm erhielt sie begeisterte Zustimmung hinsichtlich ihrer theologischen Schriften.
1838 machte sie Bekanntschaft mit Prinzessin Caroline Amalie von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, der späteren Königin von Dänemark. Viermal folgte sie Einladungen zu Vorträgen nach Kopenhagen und trug zu entsprechenden Vereinsgründungen bei (vgl. Postel: 240).
Geschlechterrollen und soziale Herkunft
„Ich bin keine Freundin meines Geschlechts“, bekennt Amalie Sieveking. Sie bezieht sich dabei vor allem auf ihre Erfahrungen als unverheiratete Frau, für die es, durch die Beschränkung auf Haus und Familie, und angesichts der Verelendung ganze Bevölkerungsschichten, in der bürgerlichen Gesellschaft keine sinnvollen Beschäftigungen zu geben schien. Und sie kritisiert in diesem Zusammenhang ihre durch Heirat wirtschaftlich versorgten Geschlechts- und Standesgenossinnen, die sich oftmals arrangiert hätten mit einem Leben in Müßiggang und Geschwätzigkeit.
Am eigenen Leib hat Amalie die Unsicherheit ihrer Existenz erfahren; den Einbruch durch Verarmung der Familie und ihre beschränkten „standesgemäßen“ Möglichkeiten, sich als unverheiratete Frau den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Zwar findet sie selbst dank familiärer Verbindungen Unterkunft und finanzielle Hilfe. Aber als Aufgabe bleibt ihr zunächst nur die heimische Anfertigung von „feinen“ – nach eigenen Worten: nutzlosen – Handarbeiten. Später ergibt sich für sie als Erzieherin und Privatlehrerin die Möglichkeit, ihre intellektuellen und pädagogischen Begabungen weiterzuentwickeln.
Religiös-konfessionelle Zugehörigkeit
Als einen „Wendepunkt ihres inneren Lebens“ beschreibt Amalie den plötzlichen Tod ihres jüngsten Bruders Gustav im Jahr 1817. Mit dem angehenden Theologen verband sie seit dem Tod der Eltern und zweier Geschwister eine tiefe Freundschaft. Mit dem Bruder spricht sie über viele ihrer Glaubenszweifel und er bringt ihr Ideen der Erweckungsbewegung nahe. Nach dem äußerst schmerzlichen Verlust wird Gustavs Studienfreund Johann W. Rautenberg ihr seelsorglicher Begleiter und religiöser Ratgeber. Amalie beginnt nun eigenständig mit dem Studium der heiligen Schrift und findet zu einer emotional berührenden, persönlichen Christusfrömmigkeit.
Schriftstellerei
Dadurch eröffnet sich für Amalie ein weiterer Wirkungskreis: das Schreiben und Publizieren. „Nicht stolzer Eigenwille“ habe sie dazu getrieben, hebt sie hervor, sondern sie folge damit der Stimme Gottes (vgl. Grolle: 123). Ihre ersten „Betrachtungen über einzelne Abschnitte der heiligen Schrift“ veröffentlicht sie im Jahr 1823 anonym. Als vier Jahre später unter ihrem Namen die „Beschäftigungen mit der heiligen Schrift“ folgen, trifft dies nicht nur auf Zustimmung. Manche Eltern melden ihre Kinder vom Unterricht ab. Der Hamburger Theologe und Gründer der „Evangelischen Kirchenzeitung“ Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) empört sich und meint, es handle sich um die ungebührliche Selbstherrlichkeit einer Frau, geistliche Texte zu veröffentlichen (vgl. Grolle: 124). Amalie lässt sich trotz herber Kritik nicht beirren. Zeitlebens verleiht sie ihren Tätigkeiten auch schriftlichen Niederschlag und Öffentlichkeit. Bestärkt wird sie darin durch männliche Förderer und durch ihr christlich fundiertes Selbstbewusstsein. Sie übt nicht nur irgendeine Beschäftigung aus, sondern fühlt sich zu ihrem Dienst von Gott berufen.
Weibliches Vereinswesen und Vortragstätigkeit
Bedeutsam im Hinblick auf die Überwindung der herkömmlichen Ständegesellschaft und einer sozialen Öffentlichkeit ist das Aufkommen des Vereinswesens. Amalie kommt dabei das Verdienst zu, die organisierte protestantische Wohltätigkeit, zuvor nur eine Domäne der Männer, für Frauen geöffnet zu haben. Und es gelingt ihr, der „Wohltätigkeit“ ein professionelleres Profil zu geben. Die Frauen sollen in den bedürftigen Familien keine Almosen verteilen, sondern den konkreten Bedarf dokumentieren. Es soll Hilfe zur Selbsthilfe geleistet, Werte vermittelt, Arbeit verschafft und die Ergebnisse schriftlich vorgelegt werden. Innerhalb von zehn Jahren entstehen in vielen Städten im In- und Ausland ähnlich strukturierte Vereine. Auf zahlreichen Vortragsreisen erläutert Amalie die Ziele des Vereins und die von ihr verfassten Jahresberichte finden weite Verbreitung.
Leitungsaufgaben
Im Laufe der Jahre wächst in der Hamburger Gesellschaft die Anerkennung des Frauenvereins, Spenden fließen und Amalie dehnt ihren Bekanntheitsgrad durch zahlreiche Vortragsreisen weit über ihre Heimatstadt hinweg aus. Anfragen und Leitungsangebote aus Berlin oder vom Hamburger Krankenhaus lehnt sie jedoch ebenso ab wie das Angebot von Theodor Fliedner aus dem Jahr 1837, die Leitung seines Diakonissenwerkes in Kaiserswerth zu übernehmen. Der Hamburger Frauenverein ist ihr Werk und Amalie, die nach eigenen Worten in ihrem religiösen Leben „an eine gewisse selbständige Entwicklung gewöhnt war“, will sich nicht durch anderweitig vorgeschriebene Formen einengen lassen (vgl. Grolle: 128).
Das religiöse Leben jener Kreise, in denen Amalie Sieveking in ihrer Kindheit und Jugend verkehrte, war durch moralisierenden Glauben und kirchlichen Rationalismus geprägt. Sie fand darin keine befriedigende Antwort auf ihre geistlichen Fragen und Bedürfnisse. Im Gegenteil! Vor allem die Lehre von der Person Christi und der Rechtfertigung durch den Glauben war ihr ein Ärgernis. Durch die 1814 in Hamburg gegründete Bibelgesellschaft und durch Vertreter der Erweckungsbewegung wird Amalie dann jedoch zu eigener Bibellektüre angeregt. Sie schreibt: „Ich las – und der Herr gab Gnade; das Auge meines Geistes, solange gehalten durch Stolz und Vorurteil, ward geöffnet. […] So ist mein Heiland im Lichte des Evangeliums mir erschienen. […] Nicht mehr fällt mir ein, auf Verdienst der Werke zu pochen; zu deutlich wird es jetzt von mir empfunden, dass meine besten Werke auch der Vergebung bedürfen und ich mich darüber zu demütigen habe vor dem Herrn“ (Remé: 137f.).
Der christliche Glaube wird für Amalie zu einer inneren Erfahrung und geistlichen Gewissheit. Daraus schöpft sie den Mut, „der vollkommensten Glaubens- und Gewissensfreiheit immer das Wort“ zu reden. Alles andere wäre für sie „eine Art Misstrauen … in die göttliche Kraft der Wahrheit“ (Remé: 148f.).
In ihren Publikationen wendet sie sich ausdrücklich an die christlichen Frauen der bürgerlichen Gesellschaft und an die nachfolgende Generation. „Forschet in der Heiligen Schrift“, mahnt Amalie und sie schreibt: Wenn ihr Frauen „es nur öfters über euch gewinnen könntet, einmal eurem Schlafe, eurer Bequemlichkeit, eurem Vergnügen etwas abzubrechen, wenn ihr den Mut hättet, euer geistliches Bedürfnis an den Tag zu legen, auch vor solchen, die euch darin nicht verstehen“.Den Hinweis der Frauen auf Zeitmangel lässt sie ebenso wenig gelten wie die Skepsis jener Männer, die Frauen generell von geistlicher Bildung fernhalten wollen. Vor dem Hintergrund der Verelendung ganzer Gesellschaftsschichten wird sie nicht müde, wohlhabende Frauen zu mehr Bildung, eigenständiger Lektüre der Bibel und zu sinnvoller Arbeit im Dienst der Bedürftigen zu ermutigen (vgl. Remé: 152).
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte ein gesellschaftlicher Umgestaltungsprozess eingesetzt. Die Revolution von 1848/49 besiegelte schließlich das Ende der Ständegesellschaft. Beruf und gesellschaftliche Stellung des Einzelnen sollten nicht mehr durch Geburt, sondern durch individuellen Einsatz bestimmt werden. Allerdings zeigte sich bald, dass die Entwicklung der bürgerlichen Industriegesellschaft und die für sie charakteristische Trennung von Erwerbs- und Familienleben nicht ohne „ständische Geschlechtsschicksale“ funktionierten. Die Gesellschaftsstruktur trennte die Frauen noch relativ scharf nach sozialer Herkunft, nach dem Beruf der Männer und nach religiös-konfessioneller Zugehörigkeit. Und diese Ständegesellschaft blieb auch innerhalb der christlichen Kirchen wirksam (vgl. Paletschek: 285-287).
Ein Blick auf das „Unvollendete“ im Leben von Amalie Sieveking zeigt, dass auch sie einerseits zukunftsweisende Initiativen gründete, andererseits selbst ein Kind ihrer Zeit blieb und sich mitunter dem Einfluss herrschender Denkmuster beugen musste. Drei Punkte verdeutlichen dies:
1) Bei ihrem Entwurf eines weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege war Amalie zunächst an einer sozial gemischten Zusammensetzung der Mitglieder gelegen. Der Verein sollte zur „Verschmelzung der Klassen“ beitragen. Amalie wollte in diesem Zusammenhang die luxusgewohnten Frauen unter ihren Mitgliedern daraus hinweisen, dass materieller Wohlstand den Weg zu geistlicher Erkenntnis verstellen könne. Von Seiten der Bürgerinnen gab es jedoch gerade in diesem Punkt erhebliche Widerstände, so dass die Gründerin auf diesen Aspekt ihres Werkes in der öffentlichen Begründung verzichtete.
2) Durch Vereinsgründung und öffentliches Wirken hatte Amalie es innerhalb der sozial eng umgrenzten Vorgaben ihrer Zeit vermocht, Bürgerinnen neue Perspektiven aufzuzeigen, ihr Leben selbständiger zu gestalten und ihre Begabungen sinnvoll zu nutzen. Eine aktive Beteiligung von Frauen an der Politik kam für Amalie jedoch nicht in Frage. Ihrer Meinung nach seien „die natürlichen Anlagen des weiblichen Geistes dem tieferen Studium der Politik nicht günstig“ (Remé: 51). Es war gerade ihre Verwurzelung im traditionellen Christentum, die es den bürgerlichen Mitgliedern des Sieveking’schen Vereins unmöglich machte, sich mit anderen Reformbewegungen in Hamburg zu solidarisieren; etwa mit dem 1846 von Emilie Wüstenfeld und Bertha Traun gegründeten „Frauenverein zur Unterstützung der Deutschkatholiken“, dem 1849 von Charlotte Paulsen ins Leben gerufenen „Frauenverein zur Unterstützung der Armenpflege“ oder der Gründung von Kindergärten sowie der ersten „Hochschule für das weibliche Geschlecht“ im Jahr 1850. Diese freisinnigen Hamburger Frauenvereine waren demokratisch organisiert. Frauen aller Stände und Konfessionen – Katholikinnen, Jüdinnen, Protestantinnen aus freireligiösen Gemeinden – konnten an ihnen teilnehmen. Sie waren vor allem liberalem und sozial-demokratischem Gedankengut gegenüber aufgeschlossen.
„Immer mehr scheiden sich die Gebildeten über der christlichen Religion als solcher in zwei Lager“, so beschrieb die Frauen-Zeitung im Jahr 1849 den Konflikt zwischen dem von protestantischer Orthodoxie dominierten Sieveking’schen Verein und den Anhängerinnen einer freien Kirche. Letztere verbanden soziales Engagement mit Kritik an einem überlieferten Christentum, bei dem religiöser Glaube, politische Macht und gesellschaftliche Ordnung aufs engste miteinander verknüpft waren (vgl. Paletschek: 300).
3) Der Erfolg gab Amalie zunächst Recht. Während fortschrittlichere Emanzipationsbestrebungen der ungünstigen Zeitstimmung im 19. Jahrhundert zum Opfer fielen, konnte sich ihr Wirkungskreis immer weiter ausdehnen. Durch die Ausblendung politischer Fragestellungen blieb jedoch ein wichtiger Aspekt diakonischen Handelns unberücksichtigt: Die kritische Frage, inwieweit Diakonie u.U. Hilfeleistungen übernimmt in Situationen, die ihre Ursachen in sozialen und wirtschaftlichen Strukturen haben, aber dort, wo sie erzeugt werden, nicht behandelt werden. Und inwiefern das Ausblenden dieses sozialstrukturellen Aspektes auch für die Benachteiligung von Frauen systemerhaltende Wirkungen zeitigen kann.