Anna Maria van Schurman

„Frauen müssen ihre Geschichte selbst überliefern, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.“
Vorreiterin für Frauenbildung im Barock Diemut Meyer
Lebensdaten
von 1607 - bis 1678
Unter weiteren Namen bekannt als:
Anna Maria von Schürmann, Anna Maria van Schuurman
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Beziehungen

Anna Maria van Schurman wurde am 5. November 1607 als Kind reformierter Eltern in Köln geboren. Ihr Vater Friedrich van Schurmann († 1623) stammte aus Antwerpen, ihre Mutter Eva von Harff zu Dreiborn aus einer Jülich-Eifeler Adelsfamilie. Religiöse Verfolgung und Flucht sind Thema der Familie. 1610 müssen sie Köln verlassen und siedeln sich nach einer Station in Dreiborn (heute Stadt Schleiden) ab 1615 im liberalen Utrecht an. Die hochbegabte Anna Maria wurde schon als Kleinkind durch ihren Vater und einen Hauslehrer unterrichtet. Als Dreijährige kann sie schon aus der Bibel zitieren. Ihr theologischer Lehrer in Utrecht war Gisbert Voetius (1589-1676). Sie korrespondierte mit den europäischen Gelehrten ihrer Zeit u.a. mit Spanheim, Descartes, Richelieu, Huyghens, Simon d’Ewes, Marie de Gournay und Elisabeth von der Pfalz. Briefkorrespondenz von 1632-1650 mit dem reformierten Theologen Andreas Rivet (1572-1651), später auch u.a. mit Elisabeth von und zu Merlau und Johann Jakob Schütz (Frankfurter Collegium pietatis), einem bedeutenden Vertreter des frühen lutherischen Pietismus. Sie starb am 4. Mai 1678 in Wieuwerd, Westfriesland.

Wirkungsbereich

Anna Maria van Schurman war eine niederländisch-deutsche Universalgelehrte, Theologin, Philosophin, Linguistin, Polyhistorikerin, Pädagogin, Geographin, Astronomin, Portraitistin, Kunsthandwerkerin, Dichterin, Briefschreiberin, sie sprach 12 Sprachen fließend, sie verfasste selber eine äthiopische Grammatik, über 20 Gemälde und Stiche sind von ihr erhalten. Als zehnte Muse, „Alpha der Frauen“, „holländische Sappho“ und „Stern/Wunder von Utrecht“ erregte sie mit ihrer umfassenden Bildung europaweit Aufsehen und wurde für ihre Talente bewundert. Von ihr stammt das folgende Zitat: Grundsätzlich schlummern in jedem Menschen die Anlagen zu allen Künsten, also auch in der Frau. Frauen stehen allen Tugenden wohl an, auch die Wissenschaft“ (Van Schurman 1641).

Ab Mitte der 1630er Jahre erhielt sie bei Gisbert Voetius Privatunterricht und durfte als erste protestantische Theologin an der theologischen Fakultät in Utrecht studieren, allerdings saß sie in einer „loge grillé“, einer Art vergittertem Kasten und nahm – für die männlichen Studenten nicht sichtbar – an den Disputationen und Vorlesungen teil. Das war ein großer Tabubruch, denn Frauen waren grundsätzlich vom Studium ausgeschlossen (erst 1900 werden die ersten Frauen als Studentinnen immatrikuliert). 1636 schrieb Schurman ein lateinisches Gedicht anlässlich der Einweihung der Utrechter Akademie, indem sie den Ausschluss der Frauen vom akademischen Studium anprangerte. 1641 erschien Schurman‘s Dissertation „De ingenii muliebris ad doctrinam, et meliores litteras aptitudine“, in der sie das Recht der Frauen verteidigte, als Wissenschaftlerinnen arbeiten zu können. Frauenbildung war im Schurmanschen Sinne eine religiöse, keine politisch-emanzipatorische Frage. Christliche Frauen sollten durch ein Studium ihre christliche Gelehrsamkeit und moralische Tugend verbessern. Das erörterte sie auch in Briefwechseln mit Professor André Rivet, der Herforder Fürstäbtissin Elisabeth von der Pfalz und der Philosophin Marie de Gournay. Im Jahr 1642 wurde sie als Wissenschaftlerin in das Lexikon „Bibliotheca Belgica“ des Valerius Andreas (1588-1655) aufgenommen. 1648 kamen bei Elzevir in Leiden ihre gesammelten Opuscula mitsamt einer Auswahl der an sie gerichteten Briefe und Gedichte ihrer gelehrten Korrespondenzpartner heraus. Die Neuausgaben von 1650, 1652 und 1749 bezeugen das anhaltende Interesse eines großen Publikums. In Altona arbeitete sie – inzwischen zur Labadistengemeinde gehörig –, an ihrer autobiographischen Schrift „Eukleria“, deren erster Teil 1673 erschien. Der zweite Teil des großen Werkes „Eukleria seu melioris partis electio“ entstand in Wieuwert und erschien nach ihrem Tod 1678.

Reformatorische Impulse

In ihrer Autobiographie „Eukleria“, erinnert sich Anna Maria van Schurman an die Kindheit, die von Flucht geprägt war. Das war charakteristisch für die Zeit der Religionskriege (Dreißigjähriger Krieg von 1618-1648). Auch die Familie Schurman war davon betroffen. Schon ihr Vater Frederik musste als Glaubensflüchtling Antwerpen verlassen. Anna Maria erlebt als Dreijährige die Flucht aus Köln. Als Protestanten werden sie im katholischen Köln immer wieder verfolgt, bis sie 1610 ins liberalere Holland, nach Utrecht, fliehen. Anna Maria van Schurman prägen diese Erfahrungen. Sie lernt es, um des Glaubens willen keine Kompromisse zu schließen. In ihrer intellektuell reflektierten christlichen Lebenseinstellung verbinden die Eltern das aufrechte Einstehen für den Glauben im Alltag und die Entsagung gegenüber dem „Weltlichen“. Die Bildung der Kinder erfolgt durch häuslichen Privatunterricht. Wissenschaft und Religion sind die Grundlage. Früh erkennt der Vater Anna Marias Hochbegabung und fördert ihre intellektuellen Fähigkeiten nach Kräften. Latein lernt sie spielend und gilt als beste Latinistin ihrer Zeit. Sie ist außerordentlich sprachbegabt, kann messerscharf argumentieren, hat aber auch künstlerische und dichterische Fähigkeiten. Schon als 14-Jährige korrespondiert sie mit dem Dichter und Staatsmann Jacob Cats (1577-1660), ein vielgelesener Autor und literarische Instanz, dem sie auch ein lateinisches Gedicht widmet. Cats attestiert ihr, dass „sie auch in den schwersten und subtilsten scholastischen Quaestionen“ bewandert ist. Ihr Wissensdurst- und eifer ist unglaublich. Sie lässt keine Wissenschaftsgattung aus, dass der Naturforscher Adolph Vorstius ihr schrieb: „Ich bitte Sie inständig, liebe Frau, lassen Sie meinem Geschlecht auch noch etwas übrig […]“.

Seit den 1630er Jahren tritt sie mehr und mehr als umfassend gebildete Theologin und Wissenschaftlerin in Erscheinung.Van Schurman‘s religiöse Haltung, ihre Nähe zum Puritanismus und ihr Bedürfnis nach einem tätigen, aktiven Christentum, brachte sie in die Nähe zu ihrem theologischen Lehrer Voetius.

Sein Anliegen war es, Frömmigkeit und Wissenschaft zu vereinen. Höhere Bildung fördere die Frömmigkeit, so seine These. In der Konsequenz seien alle Wissenschaften auf die Theologie, als der Grundlage und Höhepunkt aller Studien, hin ausgerichtet. Van Schurman übernimmt diese These und ordnet ihre wissenschaftlichen Studien der Theologie unter, verknüpft sie aber lebenslang mit der Frage des praktischen, christlichen Handelns. Mit dem Gedicht zum Festakt der Eröffnung der Utrechter Universität 1636 nimmt sie öffentlich Stellung zum Ausschluss der Frauen vom akademischen Studium. Dabei geht es ihr auch um sie selber, um ihren eigenen Rang als Wissenschaftlerin. Ihrer Argumentation liegt ein christlich-theologisches Menschenbild zugrunde. Frauen seien ebenso Ebenbilder Gottes wie die Männer (Schöpfungsbericht) und in dieser Gottähnlichkeit liege der göttliche Auftrag des Menschen und eben auch der Frauen, nach der Erkenntnis Gottes zu streben.

Im langjährigen Briefwechsel mit dem Alttestamentler André Rivet vertieft sie die Frage und konstatiert: Frauen hätten die Fähigkeit, das Recht oder auch die Pflicht, sich mit den Geistes- und Naturwissenschaften zu beschäftigen oder sie sogar zu studieren. Damit eröffnete sie eine politische Frauendebatte, die von zahlreichen Gelehrten der Zeit aufgegriffen wurde. Auch über Ländergrenzen hinweg wurde die Geschlechterfrage diskutiert, besonders in Frankreich, das in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Zentrum der „Querelle des femmes“ war. Eine prominente Stimme war Marie de Gournay (1565-1645). Sie korrespondierte wie viele andere „Promifrauen“ dieser Zeit auch mit Anna Maria van Schurman.

Zeit ihres Lebens pflegte sie besondere Freundschaft mit Pfalzgräfin Elisabeth, die 1670 ihrer niederländischen Freundin und den Anhängern Labadies zeitweise Asyl gewährte.

In der 1648 veröffentlichten „Opuscula“ nahm Schurman auch Stellung zu anderen theologischen Themen. Beispielhaft seien genannt: das Ende des Lebens, die Frage des Gnadenstreites im 16. und 17. Jahrhundert, Fragen der Prädestinationslehre. Die philosophischen Debatten über Erkenntnistheorie und Methodik der Wissenschaft (u.a. Diskurs mit Descartes) prägte sie mit. Niederschlag finden ihre scholastisch formvollendeten Argumente in der 1641 veröffentlichten, Aufsehen erregenden „Dissertatio“. „Originell ist die literarische Form […] ein bloßes, logisches Begriffsgerüst. Philosophische und dialektische Fachtermini […] werden ganz selbstverständlich verwendet“ (Spang 2009: 123).

Die „Dissertatio“ bleibt van Schurmans einziges theologisch-philosophisches Werk, das wissenschaftlich rezipiert wurde. Es schließt mit dem Satz: „Also steht meine These. Der christlichen Frau steht ein Studium der Wissenschaften zu“ (Van Schurman 1652: 34).

Ab Ende der 1640er Jahre zieht sich Schurman mehr und mehr aus dem wissenschaftlichen Leben zurück. Ihre „Weltflucht“ begründet sich durch die Schriften von Voetius (nadere reformatie, zweite Reformation). Am Ende des 16. Jahrhunderts kamen gegen den orthodoxen Dogmatismus der Kirchen religiöse Strömungen auf, die wieder stärker die individuelle, persönliche Frömmigkeit betonten. Dieser Frühpietismus wurde auch von mystischem Gedankengut (u.a. Schriften Jacob Böhmes) beeinflusst. Schurman versuchte ihre Theologie mit ihrem Glauben noch enger zusammenzubringen, d.h. Lehre und Leben zu verknüpfen und gründete eigene Hausgemeinden (vgl. auch Eva von Buttlar und Antoniette de Bourignon, die allerdings eigene Glaubensgemeinschaften gründeten) in Lexmond und Utrecht, bevor sie 1662 Jean de Labadie kennenlernte und sich dessen separatistischer Hausgemeinde 1669 in Amsterdam anschloss. Dies implizierte einen endgültigen Bruch mit der reformierten Kirche. Weite Teile der reformierten Kirche reagierten mit Unverständnis, dass die kluge Frau sich vorbehaltlos an die Seite Labadies stellte. Für Schurman war der Anschluss an die Hausgemeinde ein Bekenntnis zum Christentum, zu der es keine Alternative gab. „Biographen konstatierten hier einen Bruch im Leben Schurmans: die Gelehrte in der ersten, die Theologin und religiöse ‚Eiferin‘ in der zweiten Lebensphase“ (Spang 2009: 191).

1673 schrieb sie in Altona den ersten Teil ihres großen Werkes „Eukleria seu melioris partis electio“, in Wieuwert den zweiten Teil. Van Schurman verteidigt in der „Eukleria“, ihre „Erwählung des besseren Theils“. Über ihre Lebenszeit bis 1660 erfährt man in ihrer „Autobiographie“ nur wenig. Zum größten Teil sind es spirituelle Schilderungen der Labadistengemeinde. Sie distanziert sich von ihrem früheren wissenschaftlichen Leben und widerruft alle ihre Schriften, sie seien in einem „eitlen und weltlichen“ Geist verfasst. Auch ihr wichtigstes Werk die „Dissertatio“ triebe ihr die Schamröte ins Gesicht. In mehreren Passagen kritisiert sie die einzelnen Wissenschaften, die nur wenig zu einem christlichen Leben beitragen würden. Einzig allein die Theologie Labadies und seine Idealvorstellung einer christlichen Gemeinschaft – an der Urgemeinde orientiert – lässt sie als wahre Glaubensgemeinschaft gelten. Als Theologin kann sie vor allem mit der „Eukleria“ in den spiritualistischen, separatistischen Flügel des Pietismus eingeordnet werden.

Anna Maria van Schurmanns letzte Lebensjahre sind von Flucht gekennzeichnet. Von 1670 an floh sie mit der labadistischen Hausgemeinde aus Amsterdam über Herford, Altona, nach Wieuwert, Friesland, wo sie auf Schloss Walta-State Zuflucht fanden. Von hier aus begann sie einen intensiven Briefwechsel mit Eleonora von Merlau und Johann Jakob Schütz, einem der bedeutendsten Vertreter des frühen lutherischen Pietismus.

Kommentar

1991 kam Anna Maria van Schurman, Tochter der Stadt Köln und eine der gelehrtesten Frauen des Barocks, als Skulptur an den Kölner Rathausturm. Ohne das Betreiben des Kölner Frauengeschichtsvereins hätte die Bildhauerin Elisabeth Perger nicht den Auftrag bekommen. Nun steht sie da, in Köln, die Superintellektuelle und schaut zusammen mit vielen anderen Gelehrten, Mächtigen und klugen Köpfen der Stadt mit Staffelei, Pinsel, einem aufgeschlagenen Buch und einer Eule als Symbol für die Weisheit auf die Kölner/innen vom Turm herunter.

Eine späte Würdigung, aber immerhin haben heutige Frauen die Spur dieser Frau aufgenommen. Van Schurman selber wusste, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, von Dunkelheit umhüllt wird. Im Jahr 1638 schreibt sie: „Daher kommt es, dass bei der Lektüre historiographischer Werke über weite Zeitläufe hinweg von den Spuren der Frauen nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“ (Van Schurmann 1648: 69-70).

Anna Maria van Schurman ist eine Frau, deren Spuren nicht im Meer versunken sind. Sie hat Zeit- und Theologiegeschichte geprägt und als „Mindmakerin“ in den Gelehrtendisputen mitgemischt. In viele wissenschaftliche Disziplinen hat sich die Hochbegabte binnen kürzester Zeit eingearbeitet. Die Theologie aber war und blieb für die reformiert geprägte Protestantin die höchste Disziplin.

Dass sie sich in ihrer zweiten Lebenshälfte dem entstehenden Pietismus mehr und mehr widmet und ein bescheidenes, frommes Leben führt, ist eine Konsequenz das Leben und den Glauben noch stärker als eine Einheit zu leben. Sie gründet keine eigene Glaubensgemeinschaft wie andere Pietistinnen ihrer Zeit, sondern ordnet sich der Gemeinschaft eines Mannes unter, wenn sicherlich auch dort in herausragender Position. War es am Ende die eigene weibliche Bescheidenheit? Sicher war sie dem Theologen Jean de Labadie haushoch an wissenschaftlicher und allgemeiner Bildung überlegen. Sie teilt mit vielen Frauen bis heute das Schicksal, die lieber in der „2. Reihe“ bleiben, obwohl sie selber die Glaubwürdigkeit, Kompetenz und Autorität für die Leitung besitzen.