Anna Schlatter

Konsequente Christusnachfolge zwischen Aufklärung und Erweckung
Konsequente Christusnachfolge Peter Zimmerling
Lebensdaten
von 1773 - bis 1826
Unter weiteren Namen bekannt als:
Anna Bernet
Beziehungen

1. Tochter aus bürgerlichem Hause in St. Gallen

Anna Schlatter stammte aus einem seit vielen Generationen in St. Gallen in der Schweiz ansässigen Geschlecht. Zusammen mit vier Schwestern wuchs sie in der Familie Bernet auf. Diese Familie spielte in St. Gallen eine bedeutende Rolle. Immer wieder bekleideten Männer aus ihren Reihen das Amt des Bürgermeisters. Hans Kaspar Bernet, der Großvater Annas, war von 1752–1764 regierender Bürgermeister von St. Gallen. Ihr Vater Kaspar Bernet war Ratsherr und ursprünglich Besitzer einer Musselin-Fabrik, so dass Anna ihre frühe Kindheit in beträchtlichem Wohlstand verbrachte. Die wirtschaftliche Krise in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts veranlasste den Vater, seine Fabrik zu verkaufen und von den Zinsen des erhalten gebliebenen Vermögens zu leben. Das bedeutete eine große Einschränkung im Vergleich zu den Lebensverhältnissen vorher. Wie Anna Schlatters Geschlecht aus St. Gallen stammte, so hat sie selbst ihr Leben dort verbracht und ist 1826 auch in ihrer Heimatstadt gestorben.

2. Berufstätige Ehefrau und Mutter

Die Heirat mit dem jung verwitweten St. Gallener Kaufmann Hektor Schlatter (1766–1842) fand im Februar 1794 statt. Trotz der Verschiedenheit der Charaktere der beiden Eheleute und vor allem der unterschiedlichen Glaubensauffassung wurde die Ehe sehr glücklich. Anna stammte aus einem vom Pietismus geprägten Elternhaus, ihr Mann Hektor neigte mehr einem von der Aufklärung geprägten Glauben zu. Im Verlaufe ihrer über 30jährigen Ehe wurde Anna Schlatter 13 mal Mutter. Von den 13 Kindern starben allerdings drei entweder direkt nach der Geburt oder in früher Kindheit. Man kann sich vorstellen, dass Anna durch das Großziehen ihrer Kinder bereits vollkommen ausgelastet war. Daneben trat jedoch noch die Berufstätigkeit. Sie musste im Laden, der im Wohnhaus untergebracht war, mit bedienen. So ist Anna Schlatter eine berufstätige Frau, die das Problem einer arbeitsmäßigen Doppelbelastung lösen musste, wie wir es in der Breite erst aus dem 20. Jahrhundert kennen.

3. Beziehungen zu Kreisen der Erweckungsbewegung im süddeutschen Raum

Erst nachdem die Kinder größer waren und zum Teil bereits das Elternhaus verlassen hatten, fand Anna mehr Zeit für sich. 1816 reiste sie ins benachbarte Bayern, um dort ihre katholischen Freunde aus der Allgäuer Erweckungsbewegung zu besuchen, mit denen sie schon länger durch Briefe und Besuche in Verbindung stand. Sie traf auf dieser Reise neben ihrem Freund Martin Boos auch Xaver Bayer, Ignaz Lindl und Johannes Goßner. Schon zwei Jahre später unternahm sie eine weitere Reise zur Brüdergemeine Königsfeld im badischen Schwarzwald. Die dritte Reise (1820) brachte sie nach Basel, wo sie führende Männer der Erweckungsbewegung kennenlernte: Heinrich Zeller in Beuggen, einen der Väter der Diakonie, Johann Christoph Blumhardt, der damals bei der Baseler Mission arbeitete, und Christian Friedrich Spittler, den Sekretär der Christentums-Gesellschaft in Basel. Ihre vierte und längste Reise führte sie 1821 vor allem ins Wuppertal und nach Württemberg. Sie nahm Kontakt auf zu den von der Erweckungsbewegung erfassten Menschen aus dem Wuppertal, aber auch mit schwäbischen Freunden in Tübingen und Stuttgart. In Baden besuchte sie den katholischen Pfarrer Aloys Henhöfer, einen der großen Prediger der damaligen Zeit, der wenig später die katholische Kirche zusammen mit seiner Gemeinde verließ. In Bonn traf sie Ernst Moritz Arndt und in Elberfeld Gottfried Daniel Krummacher. Von Elberfeld aus besichtigte sie eine der ersten Einrichtungen der Inneren Mission, die sog. Rettungsanstalt des Grafen von der Recke-Vollmerstein in Oberdyk, in der Friederike Fliedner vor ihrer Heirat gearbeitet hat.

Kurz darauf wurde sie von einer schweren Krankheit getroffen. Die sich immer mehr verschlimmernde Wassersucht führte bereits wenige Jahre später, 1826, zu ihrem frühen Tod.

 

 

Wirkungsbereich

1. Im Inneren der Familie

Grundhaltung: Die Familie hat Vorrang

Anna Schlatter war es nicht leicht gefallen, einen Mann zu heiraten, der sowohl in Glaubensdingen als auch im Charakter ganz anders war, als sie gewünscht hatte. Dieses Ringen klingt noch nach in Briefen an ihre erwachsenen Kinder. Ihre Briefe muten wohl auch deshalb so modern an, weil Anna Auseinandersetzungen vorweggenommen hat, die jede moderne Frau durchzustehen hat.

Im Laufe eines arbeitsreichen Lebens als Ehefrau, Mutter und Unternehmersfrau ist sie zu einem Schluss gekommen, dem heute von vielen Seiten widersprochen werden dürfte. Anna meinte, dass Selbstverwirklichung nur auf dem Umweg über die Liebe zu Gott und dem Nächsten möglich ist. Diese Erkenntnis war schwer erkämpft. In einem Brief an die Tochter Anna gibt sie Rechenschaft über ihr Ringen: „Du weißt, ich war nie von Fremden abhängig, war im 20. Jahre Frau und Mutter, aber als ihr klein waret, blieb mir des Tages keine Viertelstunde für mich allein, geschweige eine Stunde; in eurem Dienst mußte ich 20 Jahre vom Morgen bis in die Nacht ununterbrochen leben; oft war’s mir sauer, trieb meine Thränen und Seufzer nach oben, aber nun hat mir Gott seit 7 Jahren so vielen stillen Genuß verschafft und bald, bald wird er mich aus Gnaden einführen in die Ruhe des Volkes Gottes. Nun wünschte ich nicht aus eigenem Willen eine Stunde mehr mir selbst und meinen besseren Genüssen gelebt zu haben…“ (Leben, 116). Anna Schlatter bekennt sich hier offen zu ihrer Sehnsucht nach stillen Zeiten der persönlichen Gemeinschaft mit Gott. Trotzdem hatte in den ersten 20 Ehejahren die Verpflichtung zur Arbeit für die Familie den Vorrang.

Erziehung der Kinder in der Verantwortung vor Gott 

Mitte der Erziehungsarbeit Anna Schlatters war ihre große menschliche Wärme. Dies müssen die Kinder deutlich gespürt haben: „Alle meine Kinder hangen mit inniger Liebe an mir; dies sah ich nun während meiner Krankheit, in der B. und L. betend und helfend mir rührende Beweise der Liebe gaben. Es geht mir, wie Dir [ihrer Freundin Nette Lavater]; ohne Thränen lassen sie mich nicht weggehen, und wenn sieben Personen in der Stube wären, so würden sie immer nur mich um die Befriedigung ihrer kleinen Bedürfnisse bitten, nur an mich ihr Wort adressiren“ (Freunde, 36).

Anna Schlatter spricht oft von der Gratwanderung, die jede Erziehung darstellt. In vielen Briefen gibt sie zu, dass sie sich vor allem wegen ihres heftigen Temperaments von der Erziehungsaufgabe überfordert fühlt (vgl. Leben, 126; Freunde, 37). Darum erbittet sie Hilfe von Gott: „Gebet ist und bleibt allein meine einzige sichere Zuflucht…“ (Freunde, 37). So kam es, dass Anna ihre Kinder in der Verantwortung vor Gott und im Gespräch mit ihm erzog. Das Gespräch mit Gott im Gebet machte sie erfinderisch in ihren Erziehungsmethoden. Vor allem wurde ihre Pädagogik von biblischen Motiven gespeist. Weil Gott am Menschen wie ein guter Vater handelt, ist zur Veranschaulichung dieses Handelns die Beteiligung der Väter an der Kindererziehung unerlässlich. Erziehung soll helfen, dass ein Mensch verfügbar für Gott und liebesfähig wird.

Die religiös motivierte Erziehung sollte die Lebensfreude ihrer Kinder dabei nicht vermindern, sondern steigern helfen. Anna Schlatter richtete deren Geburtstage als regelrechte Freudenfeste aus. Das gleiche galt für das Weihnachtsfest (vgl. Heinsius, 5f.). Nirgends führte die religiös motivierte Erziehung im Hause Schlatter zu ängstlicher Enge. Der intensive christliche Glaube der Mutter brachte vielmehr auch für die Kinder eine Horizonterweiterung. Anna Schlatter gab ihnen Anteil an ihren weitgespannten Freundschaften. Die Kinder wuchsen wie von selbst in den großen Freundeskreis ihrer Mutter hinein. Indirekt halfen die christlichen Freunde bei der Erziehungsarbeit mit: „[…] was ich an meinen Kindern nicht so ausrichten konnte, können nun die Freunde; die vielen Briefe, die ich ihnen meistens vorlese, wirken mehr als meine Worte oder bestätigen meine Worte. So bekomme ich in Fremden Kinder meines Herzens, und meine Kinder an Fremden geistliche Väter und Mütter“ (Heinsius, 9). Es ist sicher kein Zufall, dass die meisten der Kinder sich später nach Deutschland orientiert haben, wo der Großteil der Freunde ansässig war

Herausforderung der Doppelbelastung: Leben als berufstätige Frau

Es war selbstverständlich, dass die junge Frau von Anfang an im Geschäft des Mannes mitarbeitete. Die finanzielle Situation war in den ersten Jahren nämlich von bescheidenem Zuschnitt. Zudem lag das Geschäft günstig erreichbar im Parterre des Wohnhauses.

Ganz im Sinne von Luthers reformatorischer Berufsethik sah sie ihre weltliche Tätigkeit als Bewährungsfeld des Glaubens. Ihr Vorbild war der Apostel Paulus. Zwar bedauerte sie, dass ihre ganze Zeit von irdischen Tätigkeiten beschlagnahmt wurde. Da aber auch Paulus neben seiner apostolischen Tätigkeit als Handwerker gearbeitet hatte, lernte sie ihre Berufsaufgaben als von Gott gegeben zu betrachten.

Als Anna Schlatter und ihr Mann später zu größerem Wohlstand kamen, behielt sie einen einfachen Lebensstil bei.

Einsamkeit und Stille als Kraftquelle für den Alltag

Bedingt durch die Verschiedenheit der Glaubensauffassung der Eheleute war Anna Schlatter dazu gezwungen, sich im Hinblick auf Glaubensdinge völlig selbständig zu entwickeln. Während eines an Arbeit reichen Lebens hatte sie gelernt, dass die Zeiten der Stille vor Gott die Quellorte waren, aus denen sich die Qualität ihres Alltagslebens speiste und erneuerte. Darum wurden ihr in den letzten Lebensjahren die einsamen Stunden in ihrem Zimmer besonders kostbar: „Es ist bei mir wirklich wie Sabbatabend geworden gegen den früheren geräuschvollen Tag gerechnet. Wenigstens ein paar Stunden kann ich doch jeden Tag ganz allein sein, und das schmeckt mir so köstlich; sie enteilen mir nur zu schnell“ (Heinsius, 11). So bald ihre Kinder groß genug waren, bemühte sie sich um Zeiten der persönlichen Besinnung inmitten des turbulenten Geschäfts- und Großfamilienlebens. Die „rote Stube“ im oberen Stockwerk war der Ort, wo sie sich Zeit zur persönlichen Bibellese und zum Gebet nahm, wo sie aber auch Briefe und kleinere literarische Arbeiten verfasste. Die Zeiten persönlicher Stille halfen ihr, das Alltagsgeschehen auf Gott hin transparent zu machen und auf diese Weise auch ihre Tätigkeit in Familie und Beruf auf ihn zu beziehen.

2.2 Wirkung nach außen

 Anna Schlatter als Freundin

Anna Schlatter war ein Genie der Freundschaft. Zu  Nette Lavater bestand eine lebenslange Freundschaft. Zur Freundschaft gehörte für Anna Schlatter genauso, dass die Freundinnen sich gegenseitig ihre Nöte und Probleme klagen konnten, wie eine innige Liebe der Freundinnen zueinander. „Ich dachte an Dich, wie noch wenige Male, und die Sehnsucht nach Dir erwachte mächtig in meiner Brust. Dulde es, liebes Herz, daß ich so warm und heiß und innig Dich liebe“ (Freunde, 40). Mit der frühromantischen Zeitströmung empfand Anna Schlatter die Freude an der Vielfalt und Unterschiedlichkeit jedes Menschen. Dabei blieb das wichtigste Ziel ihrer Freundschaften, einander im Glauben zu stärken.

Durch ihre Freunde wuchs Anna über einen rein familiären Wirkungskreis hinaus. Zu ihnen gehörten Menschen, die für die weitere Entwicklung der christlichen Kirchen Bedeutung gewannen. Ihre Freundschaften erhielten so öffentliche Bedeutung. Sie bekam Kontakt zu einem Kreis von katholischen Theologen, die der Allgäuer Erweckungsbewegung angehörten, u.a. Johann Michael Sailer (1751-1832), der später Bischof von Regensburg wurde. Neben ihm gehörten Johannes Goßner, Xaver Bayr und Martin Boos zu diesem Kreis katholischer Freunde.

Der Kontakt zwischen den Freunden wurde vor allem durch eine intensive Briefkultur und durch gegenseitige Besuche gepflegt. Nicht nur Anna selbst ging auf Reisen. In ihrem Haus in St. Gallen wurde auch sie regelmäßig von Freunden aufgesucht. Bemerkenswerterweise stand im Zentrum dieser Begegnungen nicht ihr Mann, sondern Anna Schlatter selbst. Zwar ließ sie ihre Familie und ihren Mann Anteil nehmen an diesen Freundschaften. Da er ihre Glaubensauffassung jedoch nicht teilte, blieb sie die entscheidende Gesprächspartnerin. So reifte sie auch aus diesem Grund zu einer eigenständigen Persönlichkeit neben ihrem Ehegatten heran. Diese Eigenständigkeit wurde noch durch die romantische Zeitströmung gefördert, die die Frau als gleichberechtigte Seelenfreundin des Mannes entdeckte.

Annas Wirken als Briefseelsorgerin und Schriftstellerin

Durch ihre Briefe mit weitem Adressatenkreis ist Anna Schlatter bereits zu ihren Lebzeiten bekannt geworden. Sie stand mit ihren aus dem Haus gegangenen Kindern im Briefkontakt, genauso mit ihrer Freundin Nette geb. Lavater und mit den Männern der Allgäuer Erweckungsbewegung. In ihren Briefen ist sie vor allem Seelsorgerin, die entweder auf Anfrage oder von sich aus Hilfestellung zu einem Leben im Glauben gibt. Sie besitzt die Gabe, sehr anschaulich und voller Humor zu schreiben. Schwierige Probleme vermag sie in großer Schlichtheit und Verständlichkeit auf den Punkt zu bringen. Ihre Aufrichtigkeit ist ein wesentlicher Grund für die Anziehungskraft der Briefe Anna Schlatters.

Zur Schriftstellerin wurde Anna Schlatter wider Willen. Sie war erschrocken darüber, als ihre „Mutterworte“, die sie ihren aus dem Haus ziehenden Söhnen als geistigen Reiseproviant mitgegeben hatte, im Druck erschienen. An diesem Erschrecken änderte auch die Tatsache nichts, dass Christian Friedrich Spittler aus Basel sie vorher dazu aufgefordert hatte, literarisch tätig zu werden.

Anna hat auch gedichtet. Einzelne ihrer Lieder gingen in verschiedene Liedersammlungen ein, sogar in einige Kirchengesangbücher, z.B. das Ewigkeitslied „Das Grab“ (Anna Schlatter, 93).

Auf Vorwürfe ihres Mannes wegen zu hoher Portokosten hat Anna sehr klug geantwortet: „Sollen wir des Geldes wegen allen Zusammenhang aufgeben? Ich sage nein, so lange ich noch etwas Münze im Beutel habe. Aber kleiner Schrift wollen wir uns befleißigen, damit die Briefe leicht werden, und das Papier soviel als möglich mit etwas füllen, was uns frommt, damit unser Schreiben nicht als etwas Unnützes vor Gott verworfen werde“ (Heinsius, 11).

Einsatz für die Ökumene: nicht Protestantin, sondern Christin

Anna Schlatters Theologie besaß lange vor dem Beginn der modernen ökumenischen Bewegung ökumenische Züge. Ihre Gesinnung tritt am deutlichsten im Briefwechsel mit Domscholasticus Waldhäuser hervor, in dem sie sich für einen befreundeten amtsenthobenen Priester einsetzte. „Statt es Ew. Gnaden von ferne übelzunehmen, mir, wie Sie es nennen, Ihre katholischen Ansichten dargelegt zu haben, verdanke ich es Ihnen vielmehr aufrichtig, und bekenne Ihnen, daß ich mich wenig bemühe, die unterscheidenden Lehren des Protestantismus kennen zu lernen, und mich auch keine Protestantin nenne, sondern vielmehr im heißen Flehen bei dem Oberhaupte aller Kirchen darum kämpfe und bete, daß ich den Namen einer Christin mit Recht zu tragen würdig werden möge“ (Freunde, 406). In den allen Konfessionen gemeinsamen altkirchlichen Glaubensbekenntnissen sah sie eine unentdeckte ökumenische Potenz.

Die ökumenische Ausrichtung ihres Glaubens und Denkens wurde noch verstärkt, indem sie die praktische Seite der Frömmigkeit betonte. „Erwägend die Ermahnung unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi: alles, was Ihr wollt, daß Euch die Leute thun, das thut ihnen, machte ich es mir von jeher zur Pflicht, Katholiken und Protestanten mit Rath, Hülfe und Trost zu dienen, wo ich konnte, ohne zu fragen: zu welcher Kirche gehörst Du? Nur: was brauchst Du und kann ich helfen?“ (Freunde, 396).

Auch an dieser Stelle hat sie Teil an der Gemütslage der frühen Erweckungsbewegung. Mit der Rückbesinnung auf den allen Konfessionen gemeinsamen Christusglauben waren in der Auseinandersetzung mit dem Atheismus der Französischen Revolution die konfessionellen Unterscheidungsmerkmale zurückgetreten. Trotz ihres Kampfes für die Einheit hat Anna die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konfessionen nicht übersehen. Ihr war durchaus bewusst, dass in der reformierten Schweizer Kirche im Gegensatz zur katholischen Konfession ihrer Zeit kein Gewissenszwang auf die Mitglieder ausgeübt wurde (vgl. Freunde, 397).

Reformatorische Impulse

Christus im Zentrum

Die Mitte der Theologie Anna Schlatters bildete die Lehre von Jesus Christus. Sie ging dabei von seiner Menschlichkeit aus, was eine Ursache für die Innigkeit ihrer Frömmigkeit war: „Osiander [ein Pfarrer, den Anna auf einer Reise durch Deutschland besucht hat] ging immer von der Gottheit Christi aus und stand voll Ehrfurcht von ferne, ich von der Menschheit Christi und sank in seinen Schoß“ (Anna Schlatter, 84). Zentrales Motiv des Handelns Jesu war für sie die Liebe. „Weißt Du nun einen Menschen auf der Welt, auf der ganzen bewohnten Erde, einen Menschen von Adam bis zum Ende der Welt, den Christus nicht geliebt hätte, den Christus nicht lieben wollte, wenn er die Liebe annähme?“ (Frauenbriefe, 194).

Die in Jesus erfahrbare Liebe Gottes ist die einzige Brücke zu Gott. Darum ist die Vernunft in geistlichen Dingen nicht kompetent (vgl. Freunde, 406). Glaubensgewissheit bekommt ein Mensch nur im Herzen, nicht durch Beweise im Kopf. Anna schrieb an ihren Sohn: „Diese Gewißheit des Glaubens, diese Seligkeit der Liebe schien mir Dir immer noch zu fehlen, Du mußtest ihre Beweise suchen in der Exegese, Du hattest sie nicht im Herzen“ (Frauenbriefe, 154f.).

Im Zentrum ihres Christusglaubens stand die durch Christus erwirkte Versöhnung des Menschen mit Gott. Bevor ein Mensch jedoch an die Versöhnung in Jesus Christus glauben kann, muss er seine Schuld erkennen und mit seiner Sünde brechen wollen: Voraussetzung der Versöhnung ist die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis (vgl. Leben, 115).

Heiligung im Licht der Versöhnung Gottes

Als eine entscheidende Aufgabe ihres geistlichen Lebens betrachtete Anna Schlatter die Heiligung. Allerdings nicht im Sinne einer angestrengten Frömmigkeit. Ein Christ kommt dadurch in der Heiligung voran, dass Gott ihn in seiner gewohnten Lebensführung erschüttert (vgl. Freunde, 12). Die Heiligung ist also nicht primär Tun des Menschen, seine Anstrengung und Mühe, sondern ist begründet in Gottes kontinuierlichem Handeln an ihm. Erst an zweiter Stelle steht die menschliche Antwort (vgl. Freunde, 41). Einerseits rechnet Anna nüchtern mit bleibenden Unvollkommenheiten des menschlichen Charakters. Andererseits hofft sie in manchem auf Besserung und Veränderung (vgl. Freunde, 43) und ist traurig darüber, wenn sie den Eindruck hat, in der Heiligung versagt zu haben (vgl. Freunde, 38).

Vergebung zu erfahren, bleibt darum konstitutiv für ihren Glauben. Sie weiß, dass sie auch als im Glauben bewährte Christin allein von der Barmherzigkeit Gottes lebt (Leben, 151). Immer wieder stimmt Anna das große Loblied auf Gottes Versöhnungswillen an und wehrt damit ungesunden Perfektionismus ab – so in einem Brief an ihre Tochter Anna: „Das ist nicht mein Weg, liebe Anna! dies immerwährende sich selbst ansehen, beurtheilen, richten – ich werfe mich lieber als eine ganz Verurtheilte, vom Kopf bis zum Fuß Unreine, mit einem Sprung in die Arme seiner Barmherzigkeit in täglicher Buße und Glauben“ (Leben, 203). Vor allem im Abendmahl trat ihr Jesus sichtbar, fühlbar und schmeckbar als Versöhner vor Augen.

Liebe zum Nächsten

Über allem Bemühen um persönliche Heiligung stand ihre Liebe zu Gott und dem Nächsten. Vermeintliche Liebe zu Gott darf nicht auf Kosten der Liebe zum Nächsten gehen. „… es ist oft geistlicher Eigennutz, was uns von den irdischen Geschäften weg in unsere Zimmer zieht, was uns über die Sorge für uns selbst, die Sorge für andere vergessen macht. Nicht der lebt in Gott, der nach seinem Hang dem Lesen, Nachdenken und der Einsamkeit lebt, sondern der, welcher ganz in dem Willen Gottes lebt, riefe der ihn auch so in’s Aeußere hinaus, daß ihm nur die Nacht für sich selbst übrig bliebe“ (Leben, 104). Erst im liebevollen Dienst für andere, im Selbstvergessen, erfüllte sich für sie die Heiligung. Nicht ständige Selbstkontrolle, sondern frohe Liebe prägte ihr Verhältnis zu Jesus. Der Grundton der Freude hat den Ernst, mit dem sie sich um ein Leben nach den Geboten Gottes bemühte, begleitet und verklärt (vgl. Freunde, 43).

Die Wertschätzung der Heiligen Schrift als Quelle theologischer Erkenntnis

 Anna Schlatter urteilte als engagierte Laientheologin völlig selbständig. Sie verstand sich als unmittelbar vom Heiligen Geist durch die Worte der Bibel gelehrt. Als theologische Autodidaktion hat sie sich ihre gesamte theologische Bildung ohne Studium an eine Universität erworben. Dabei spielten die Bibel, Freunde und theologische Bücher die wichtigste Rolle. Viele Briefabschnitte zeigen ihre ausgezeichnete Bibelkenntnis. Sie hat zudem ein außergewöhnlich großes Wissen über die biblische Zeitgeschichte (vgl. Frauenbriefe, 189f.). Die zeitgeschichtliche Kenntnis erleichterte ihr die praxisorientierte Auslegung der biblischen Texte. Dabei übersah sie nicht, dass sie dem Gespräch mit anderen Christen, wie z. B. Michael Sailer, Entscheidendes für ihre theologische und geistliche Erkenntnis verdankte.

Kommentar

Anna Schlatter – ein Heiligenbild?

Anna Schlatters Leben war eingebunden in ihre Aufgaben als Mutter und berufstätige Frau. Innerlich hat sie jedoch ein ungewöhnlich reiches Leben gehabt. Das hing nicht zuletzt mit ihrer charaktermäßig bedingten und durch die Verschiedenheit der Ehepartner geförderten Eigenständigkeit im Denken und einer sich daraus ergebenden Unabhängigkeit im Urteil zusammen. Ein konsequenter christlicher Glaube prägte ihr Leben bis in die Alltagsentscheidungen hinein. Bis an ihr Lebensende rang sie darum, ihre Christusliebe und ihre Pflichten als Gattin, Hausfrau, Mutter und Geschäftsfrau miteinander zu verbinden. Dieses Praxisfeld war der Wurzelboden ihrer engagierten Laientheologie. Sie scheute sich nicht, eigene theologische Ansichten im mündlichen oder schriftlichen Gespräch mit Fachtheologen zu vertreten.

Die Liebe zu Jesus machte sie zu einer Meisterin der Freundschaft mit anderen Christen und Christinnen. Ihre vielfältigen Freundschaftsbeziehungen pflegte sie vor allem auf dem Weg des brieflichen Austauschs. Die Briefe wurden nach ihrem Tode veröffentlicht und haben z.T. mehrere Auflagen erlebt. Unbeabsichtigt wurde sie dadurch zu einer viel gelesenen Schriftstellerin.

Der berühmte Tübinger Neutestamentler Adolf Schlatter war einer der vielen Enkel Anna Schlatters. In seiner Autobiographie „Rückblick auf meine Lebensarbeit“ (2. Auflage, Stuttgart 1977) schreibt er, was die Großmutter für sein Elternhaus bedeutet hat: „Die Erinnerung an die Großeltern wurde im elterlichen Hause dankbar gepflegt; für mich war dabei bedeutsam, daß sie von jeder Verherrlichung der Menschen gereinigt blieb. Zu einem Heiligenbild wurde die Großmutter bei uns nicht gemacht. Sie hat durch ihre Liebe in ihrem Sohne [Adolf Schlatters Vater] die Liebe geweckt, sie aber auf Jesus gerichtet, wodurch sie von jedem schwärmerischen Zusatz befreit geblieben ist“ (24). Auch meine Ausführungen zu Anna Schlatter sollten sie nicht zu einem Heiligenbild machen, sondern als engagierte Christin von großer Menschlichkeit erkennen lassen. Statt sich in ein Ghetto frommer Innerlichkeit zurückzuziehen, stand sie mitten in den geistigen und politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Aus eigener Initiative ist sie beherzt für zu Unrecht verfolgte katholische Freunde eingetreten und hat Mittel und Wege gefunden, um in Not geratene Mitbürger materiell zu unterstützen. Weiter Horizont, unabhängiges Urteilsvermögen und die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit den Kindern Gottes aus allen Konfessionen ließen die reformierte Christin zu einer der ersten modernen Ökumenikerinnen werden.