Annemarie Schmidt wurde am 14. August 1932 in Zörbig in Sachsen Anhalt geboren. Die Familie gehörte dem Bildungsbürgertum an, ihr Vater war Lehrer, Heimatforscher und Kirchenältester, die Mutter war eine starke Frau mit starkem Willen. Ihre Eltern erzogen die beiden Töchter bewusst christlich. In der atheistisch ausgerichteten Oberschule hatte Annemarie den Mut, zum Thema „Mein liebstes Buch“ einen Aufsatz über die Bibel zu schreiben. Sie wuchs wie selbstverständlich in die Junge Gemeinde hinein und schilderte als 25-Jährige die gemeinsamen Ziele in dieser Gemeinschaft: „[…] wir spürten in der Nachkriegszeit die zwingende Notwendigkeit, unserm Denken einen Inhalt zu geben, der ein Leben lang gestaltungskräftig sein konnte“ (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript von Annemarie Schönherr „Freiheit und deutsch-deutsche Erinnerungen“ vom 15.6.2001). Annemarie war dabei führend in diesem wie in späteren Kreisen und wurde in ihrem Freundeskreis „Corinna“ genannt, in Anlehnung an Corinna Schmidt aus Fontanes Roman „Frau Jenny Treibel“ – „Corinna, die blitzgescheite Tochter des Professors Schmidt“, so wird sie von Fontane charakterisiert, und das passte perfekt auf Annemarie Schmidt.
Das Ziel „ihrem Denken einen Inhalt zu geben, der ihr Leben lang gestaltungskräftig sein konnte“, führte Annemarie nach ihrem Abitur zum Theologiestudium in Halle. „Was sonst?“ fragte sie erstaunt zurück, als sie nach ihren Motiven für dieses Studium Auskunft geben sollte und notierte zu ihrer Berufswahl im kirchlichen Dienst: „Bestimmend war immer der Wunsch, es ganz direkt mit Menschen zu tun zu haben (Schulaufsatz zum Thema „Mein liebstes Buch“, zitiert nach Hopstock: 1). Wesentlich für ihre geistige Entwicklung und für ihr Interesse an politischen Zusammenhängen war für sie das Leben in und mit der Studentengemeinde in Halle. Sie sagt selber, dass sie damals zusammen mit ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen zu begreifen begann, „dass der Zusammenbruch [Deutschlands am Ende des Krieges, Anm. E.R.) , auch unsere Befreiung war; dass Deutschland den Krieg zu Recht verloren hatte und dass seine Teilung Folge seiner unermesslichen Schuld war“ (Vortrag „Freiheit …“s.o.). Diese Haltung prägte sie ihr Leben lang in ihrem Verhältnis zur Geschichte Deutschlands im Nationalsozialismus und im 2. Weltkrieg. Im Verhältnis zu ihrem Lebensort als Erwachsene vermittelte ihr der Studentenpfarrer Johannes Hamel die Einsicht, dass Gott auch in der ungeliebten DDR gegenwärtig war. „Wir erkannten, dass Freiheit im Glauben auch und manchmal gerade, in äußerer Unfreiheit erfahrbar ist, da wo man sich häufig ziemlich ohnmächtig und ausgeliefert vorkommt“ (Vortrag „Freiheit…s.o.); die massiven Angriffe der DDR-Behörden auf Glieder der Jungen Gemeinden und der Studentengemeinden in den frühen 50er Jahren, vor allem nach dem Aufstand vom 17 Juni 1953, Verhaftungen von Pfarrern und Mitarbeitern der kirchlichen Jugendarbeit, die halb öffentlichen „Verhöre“ von Studierenden auch anderer Fakultäten und ihr Ausschluss vom Studium hielten Annemarie und ihre Freundinnen und Freunde damals monatelang in Atem. Sie sagt dazu selber: „Viele sind 1953 und danach aus guten Gründen gegangen. Viele nahmen sich die Freiheit zu bleiben – auch aus guten Gründen. Sie wussten, dass jeder der ging, ein Stück Hoffnung mit sich nahm. Sie wollten nicht, dass christliche Gemeinden im zweiten deutschen Staat ausstarben. Seit 1959 bis 1989 hieß es im Mittagsgebet der Jenaer Evangelischen Studentengemeinde: ‚Du hast uns hier unsern Platz gegeben. Wir wollen, mit deiner Hilfe, ihn nicht verlassen‘“ (Vortrag Freiheit…s.o.).
Diese früh erworbene Haltung prägte Annemaries Leben entscheidend bis zum Jahr 1989, und sie stand auch nach der Wiedervereinigung dafür ein. Nach 1989 hatte sie oft das Gefühl, sich dafür sowohl im Westen wie gegenüber vielen der DDR Bürgerrechtler verteidigen zu müssen. Das konnte sie etwas bitter machen, wobei sie nie der DDR nachgetrauert hat. Sie wollte sich nur ihr Leben in der DDR nicht schlecht reden lassen, und sie war – für mich – die Frau, die die Haltung derjenigen, die bewusst und aus christlicher Überzeugung in der DDR blieben, am eindrücklichsten und überzeugendsten erklären konnte.
(Zum Foto: Annemarie Schönherr mit zwei Freundinnen, ca. 1959; Copyright: Waltraud Hopstock)
Nach dem Studium und ihrer kurzzeitigen Arbeit am Institut für christliche Forschung in Halle wurde Annemarie zunächst für 2 Jahre Pfarrerin in der Gemeinde Halle Gesundbrunnen, dann für kurze Zeit Reisesekretärin der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR. Im Predigerseminar in Brandenburg lernte sie Albrecht Schönherr kennen, der sie mit anderen angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern in Bonhoeffers theologisches Denken einführte. Das Predigerseminar hatte er nach dem Modell des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde aufgebaut.
1963 geschah ein wesentlicher Einschnitt in Annemaries Leben durch ihre Heirat mit dem verwitweten Albrecht Schönherr, der damals gerade Generalsuperintendent des neu gegründeten Sprengels Eberswalde geworden war. Das bedeutete Umzug nach Eberswalde und Wechsel in die Berlin Brandenburgische Kirche, es bedeutete, dass ihre Ordination ruhen musste, wie das damalige Kirchenrecht es für verheiratete Pfarrerinnen vorsah. Es bedeutete schließlich die Führung eines großen Pfarrhaushalts und die Sorge für drei Kinder, die damals noch zu Hause lebten.
Zwei Jahre nach dem Bau der Mauer war man damals in der DDR auf dem Weg, sich in der Kirche neu zu orientieren. Bis 1961 war es möglich gewesen, sich der EKD im Westen zugehörig zu fühlen. Das war nun schwierig oder unmöglich geworden. Die Kirchenstrukturen, das Selbstverständnis als Kirche in einem atheistischen Staat musste neu durchdacht werden, und die Frage, wie man als Christin und Christ in einem solchen Staat authentisch leben konnte, wurde für Annemarie Schönherr nun erneut brisant. Ihr Mann, Albrecht Schönherr, wurde 1967 Verwalter des Bischofsamtes in Berlin Brandenburg und nach der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahr 1969 dessen Vorsitzender. „Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bestimmen haben: in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie. Sie wird die Freiheit von Zeugnis und Dienst der Kirchen bewahren müssen“ heißt es in einem Synodalbericht von 1971. Aus dieser Überzeugung wurde dann das berühmte Selbstverständnis der Kirche als „Kirche im Sozialismus, nicht neben ihm, nicht gegen ihn.“ Diese Formel bedauerte Annemarie allerdings im Rückblick, weil sie den Eindruck erwecke, die Kirche habe den „real existierenden“ Sozialismus damit als realisierten anerkannt und auf ihn eingeschworen (s. Vortrag AS „Freiheit…“s.o.). In Wirklichkeit empfand Annemarie die Kirche und die Gemeinden in all den Jahren als einzige ideologiefreie gesellschaftliche Größe, als „Enklave der Freiheit“ (Vortrag „Freiheit…“ s.o.). Dass sie ihre Angelegenheiten selbständig regeln konnten, unabhängig ihre Ämter besetzen und Synoden abhalten konnten, unterschied sie von den Kirchen in praktisch allen anderen sozialistischen Staaten (Der Preis der Freiheit, Interview des Kirchentagmagazins mit Annemarie Schönherr, Ausgabe 2, 2009, S. 12).
Diese Freiheit nutze Annemarie auf ihre Weise. Sie wandte sich zunächst den Pfarrfrauen zu, deren „abgehängte“ Rolle sie nur allzu gut verstehen konnte. So sorgte sie dafür, dass für und mit den Pfarrfrauen eigene inhaltlich gestaltete Treffen und Rüstzeiten mit Bibelarbeiten, Vorträgen, Literaturlesungen, Diskussionsrunden zu aktuellen Themen organisiert wurden. Bis 1988 blieb Annemarie dieser Pfarrfrauenarbeit treu. Wie Waltraud Hopstock berichtet, unterschrieb sie oft Briefe mit „In Treuen“ – und diese Treue kennzeichnete sie in allen ihren Beziehungen!
Annemarie Schönherr übernahm in der Folgezeit an vielen Stellen Verantwortung und hatte dabei immer die Anliegen der Frauen im Blick. Bei ihren „unermüdlichen Versuchen, Freiheitsräume auszuloten und auszuweiten“ (Vortrag „Freiheit…s.o.) bot ihr vor allem der Evangelische Kirchentag in der DDR und die Evangelische Akademie Berlin Brandenburg gute Gelegenheiten. Wichtige Personen waren hier Elisabeth Adler, Direktorin der Evangelischen Akademie Berlin Brandenburg, und viele junge Frauen, für die sie zur Mentorin wurde, wie Christiane Markert Wisliza, Friederike von Kirchbach, Angelika Engelmann u.v.a. Die Veranstaltungen in der Akademie und bei den Kirchentagen bildeten so etwas wie eine „Ersatzöffentlichkeit“. Hier konnte man frei unterschiedliche Meinungen austauschen oder über offiziell tabuisierte Themen miteinander sprechen, z.B. über Friedensfragen, das Verhältnis zum Staat Israel, aber auch Themen wie Feministische Theologie oder Homosexualität(Vortrag „Freiheit… s.o., auch: Hopstock: 3).
Die Feministische Theologie hat Annemarie in der DDR in gewisser Weise erst „salonfähig“ gemacht. Sie war dabei beeinflusst durch die große Ökumenische Konferenz „Sexismus in den 70ern“ 1974 in Westberlin und von der ökumenischen Studie zur „Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“, die von 1978 bis 1981 weltweit durchgeführt wurde. Durch den Ökumenischen Rat der Kirchen und das Ökumenische Forum Christlicher Frauen in Europa hatten einige Frauen in den Kirchen der DDR Zugang zur weltweiten theologischen Diskussion. Annemarie war lange Jahre Mitglied im Koordinierungsausschuss und im Ausschuss für Gerechtigkeit und Frieden des Ökumenischen Frauen Forums und hatte so regelmäßigen und engen Kontakt zu ökumenisch engagierten Frauen aus Westeuropa. Die Feministische Theologie war von den USA nach Europa gekommen und hatte zu einem großen Aufbruch geführt, den Annemarie aufmerksam verfolgte und deren Erfahrungen und Erkenntnisse sie in ihrem Kontext versuchte umzusetzen.
Im März 1981 kamen in der Wohnung von Schönherrs in Berlin einige Frauen zusammen, die sich für diesen neuen Ansatz in der Theologie interessierten. Daraus entstand ein Arbeitskreis Feministische Theologie. Susanne Kahl-Passoth kam aus Westdeutschland mindestens einmal dazu und brachte Literatur und Gedanken aus der westlichen feministischen Diskussion mit. Zur DDR Ausgabe von Catharina Halkes (NL) wegweisendem Buch „Gott hat nicht nur starke Söhne“ schrieb Annemarie Schönherr das Vorwort, mit den für die Diskussion in der DDR bezeichnenden Bemerkungen zum Begriff „Feministische Theologie“: „Man mag darüber streiten, ob der Begriff glücklich gewählt ist. Mir scheint, schon allein, daß er provoziert, macht ihn geeignet. Denn es ist Zeit, darauf aufmerksam zu machen, daß Frauen bisher fast ausschließlich in der Sprache von Männern angesprochen wurden und deren Sprache zu sprechen genötigt waren“ (zitiert Hopstock: 3f.).
Aber ihre Sprachkritik hatte noch einen tieferen Grund: denn die traditionelle Sprache war Symbol für die patriarchale, herrschaftsbetonte Gesellschafts- und Familienordnung und, am schwerwiegendsten für die Theologin, sie war Ausdruck eines herrschaftsbetonten Gottesbildes. In einer Bibelarbeit, die sie zum Gleichnis vom Barmherzigen Samariter beim Frauenforum des Kirchentags im Augustinerkloster in Erfurt 1988 hielt, sagt sie: „Es ist die Stärke der Gleichnisse Jesu, dass sie Verhältnisse aufnehmen, die alle kennen, Beziehungen, die allen geläufig sind. Mit dieser Geschichte, die im patriarchalen Sozialgefüge seiner Zeit spielt, setzte Jesus die alten Muster von Macht und Ohnmacht, Oben und Unten, von Befehl und Gehorsam außer Kraft. Der Vater im Gleichnis […] will nicht besitzen und niemanden beherrschen[…]. Die Heimkehr zu diesem Vater ist wie eine Auferstehung, weil sich in seiner Nähe frei atmen lässt und aufrecht gehen“ (Bibelarbeit Frauenforum Erfurt 11.6.88 „Umkehr führt weiter“, privates Schreibmaschinenmanuskript, S.7). Und dann folgt eine harsche Kritik der Wirkungsgeschichte des Vaterbildes: „aus dem liebenden und verzeihenden Vater wurde der Gott-Vater, autoritär, allmächtig, fern und unnahbar, wurde er an die Spitze einer hierarchischen Pyramide gesetzt […]. Gott wurde in die Fesseln einer patriarchalen Welt zurückverwiesen.“ (Bibelarbeit Frauenforum 1988, s.o. S. 9) Die Kirche blieb in diesem Bild gefangen, und ich zitiere Annemarie Schönherr noch einmal: „Es gibt mir immer mehr zu denken, dass wir aus dem reichen Bilderangebot der Bibel in unserer kirchlichen Sprache vorwiegend die benutzen, in denen Gott in männlichen Herrschaftsstrukturen beschrieben wird: König und Richter, Herr und allmächtiger, und eben auch Vater. […] Jesus dagegen beschreibt einen Vater, der das Patriarchat außer Kraft setzt […]“(Bibelarbeit Frauenforum 1988, S. 10). Das sind klare radikale Worte. Annemarie war, das können wir an vielen ihrer Äußerungen ablesen, bei aller Diplomatie und allem Charme radikal in ihrem Versuch, ungerechte Verhältnisse aufzudecken. Dabei orientierte sie sich immer ganz eng an der biblischen Botschaft, und das machte sie auch vielen kirchenleitenden Männern gegenüber glaubwürdig. Ihr hörten Pfarrer, Oberkirchenräte und auch Bischöfe, nicht nur ihr eigener Mann, zu – wie Friederike von Kirchbach berichtet. Darin ist sie vielen anderen Frauen vorangegangen und hat sie ermutigt, kritisch und unabhängig zu denken und die biblische Botschaft unbefangen und befreit vom Ballast der jahrhundertelangen kirchlichen Interpretation wahrzunehmen und auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung und ihrer Sehnsucht nach Befreiung selber auszulegen.
Von ihrem theologischen Ansatz her konnte Annemarie die westlichen feministischen Vorstellungen von der Selbstverwirklichung und von der Unabhängigkeit der einzelnen Frau von ihrer familiären oder sozialen Gruppe nur kritisch sehen. Sicherlich spielten dabei ihre große Familie und ihr starkes Familienbewusstsein eine Rolle, aber vor allem viel grundsätzlichere Überlegungen zum Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft. Sie war überzeugt, dass wir die Frauenfrage nie von der sozialen Gerechtigkeitsfrage trennen können. Sie kannte den Abschlussbericht der ökumenischen Studie zur Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche aus dem Jahr 1981: darin stand die individuelle Befreiung der Frauen im Norden dem gemeinschaftsbezogenen Befreiungswunsch der Frauen im Süden gegenüber, die – wie ihre ganzen Familien – unter Hunger und Armut litten, unter Gewalt und Krieg und die den Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft nicht für einen westlichen feministischen Individualismus aufs Spiel setzen wollten.
Ganz ähnlich dachte Annemarie. In einer Meditation zu den drei großen Themen des Konziliaren Prozesses Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung wählte sie drei der Seligpreisungen bei Matthäusals Ausgangstext und schreibt 1988 im Bulletin des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE) u.a.: „Glückselig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, sie werden satt werden […]. Die Bettelarmen um Jesus, die Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, die kleinen Fischer, die kranken Frauen und Männer, die moralisch Abqualifizierten, die Unterdrückten, sie verstanden wohl unmittelbar, was ihnen hier versprochen wurde […]. In meiner Kirche hat man den Hunger und Durst vergeistigt interpretiert, wie auch die Gerechtigkeit […]. Arm und Reich zählten als gottgewollte Zustände. Die soziale Herausforderung, die in den Bußrufen der Propheten und den Umkehrworten Jesu steckt, verblasste […]. Ein Programm für Gerechtigkeit unter den Menschen kam von außen. Karl Marx füllte die im 19. Jahrhundert auf himmelschreiende Weise spürbar gewordene Lücke mit seinem politischen und sozialen Gegenentwurf.“ Und etwas weiter unten: „Umkehren beginnt mit dem Bekennen und Benennen dessen, was am bisherigen Weg falsch war. Als europäische Christen und Christinnen sind wir in die ungerechten Strukturen auf unserm Kontinent und in der ganzen Welt unlösbar verstrickt. […] Die Aufspaltung der Welt in reiche Industrienationen und eine arme Zweidrittelwelt hat mit der engen Verquickung von Mission und Kolonialismus zu tun […]“ (aus: Die Arbeit der Ausschüsse: Annemarie Schönherr, DDR: Gerechtigkeit Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, in: Unterwegs zur Versöhnung, Bulletin des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa Sommer 1988, Privatdruck, ohne Seitenzahlen). Dabei suchte sie neben aller kritischen Analyse nach den kleinen Schritten, die wir alle, auch wir Frauen, auf mehr Gerechtigkeit hin tun können. Sie ermutigte zu diesen kleinen Schritten und ließ nicht so leicht Entschuldigungen gelten, warum wir sie dennoch nicht tun. Sie konnte in heilsamer Weise streng sein!
Im ökumenischen Umfeld war Annemarie’s wichtigstes Thema Versöhnung und Frieden.Sie hat in vielen Bibelarbeiten, und bei ihrem großen Vortrag zum Thema Frieden bei der 1. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel 1989 darüber gesprochen, und man merkte ihr, die sie den 2. Weltkrieg als Kind und Heranwachsende noch selbst erlebt hat, sehr an, wie existentiell sie diese Frage betraf (vgl. Schönherr 1989: 288-299).
In mehreren Bibelarbeiten zu Gen 32 und 33, der Geschichte von Jakob und Esau hat sie ihre Einsichten dazu entwickelt, wobei sie ihr Augenmerk auch auf die Rolle der Frauen richtete: die ränkeschmiedende Rebecca hat an der Täuschung des Vaters Isaac und der Prellung Esaus um den väterlichen Segen einen ebenso großen Anteil wie Jakob. Aber die Versöhnung findet (nur) zwischen den beiden Brüdern statt. Wo hätte Rebecca ihre Schuld bekennen müssen, wo hätte sie Vergebung erfahren, welche Befreiung war für sie nötig? Das waren die Fragen, die Annemarie stellte und die uns alle ins Nachdenken brachten! Frauen haben ihre eigene Schuld auf sich geladen, sei es durch das Ränkeschmieden oder dadurch, dass sie ihre/ unsere eigene Verantwortung als selbständig denkende Menschen nicht wahrgenommen und die Männer in ihrem Machtrausch und ihren Kriegen haben gewähren lassen. Die notwendige Umkehr lag für Annemarie für uns Frauen darin, „Einzug zu halten in den gesellschaftlichen und politischen Bereich, in alle Entscheidungsgremien in Kirche und Gesellschaft.“ Und dazu beizutragen, dass im Europäischen Haus eine Hausordnung entwickelt wird, die die Frage des Friedens als die höchste Priorität erkennt und auf eine gemeinsame Sicherheit in West- und Osteuropa und letztlich der ganzen Welt hinarbeitet.
„Friedensmacher sind zu Vorleistungen bereit. Schon ihr Gruß ‚Schalom‘, der den Freunden und den Fremden Gutes zuspricht, ist eine Vorleistung. Der Schalom Gottes meint mehr als den Frieden innerhalb der eigenen Grenzen, der nach außen mit Tötungswerkzeugen verteidigt wird….der Schalom Gottes umfasst die Beziehung zwischen Gott und den Menschen und die zwischen den Menschen. Er geht von Gott aus, in ihm sind das persönliche wie das allgemeine Wohl, die politischen wie die sozialen Bedingungen aufgehoben. Darum hat er ganz eng mit der Gerechtigkeit zu tun. Darum ist er keine Zustand sondern ein ständiger Prozess…Gottes Söhne und Töchter …werden den Konflikten nicht ausweichen. Aber sie werden den Krieg als eine untauglich gewordene Möglichkeit, Konflikte zu lösen, verwerfen.“ (Artikel für das Bulletin des ÖFCFE im Jahr 1988). Mit ihrem Mut zum neuen Denken war Annemarie an so vielen Stellen wegweisend: in der Sprachkritik, in der Diskussion um Gerechtigkeit, im Einsatz für Gewaltlosigkeit dachte und handelte sie im reformatorischen Geist.
Orte für ihre Bibelarbeiten waren in der DDR Feministische Werkstätten, dann die Frauenforen bei den DDR Kirchentagen und bei den Kirchentagen im Westen.
(Zum Foto: Erika Reihlen und Annemarie Schönherr – die beiden weiblichen Mitglieder des damaligen Vorstands des Kirchentags [ca. 1994]; Copyright: Deutscher Evangelischer Kirchentag)
Annemarie Schönherr war Mitglied des Vorstands des Kirchentags in der DDR und nach der Vereinigung beider Kirchentage im November 1992 auch im Vorstand des DEKT. Sie wurde nie Präsidentin, da im Sommer 1992 bereits Erhard Eppler Kirchentagspräsident gewesen war, der ihr im Herbst dann seinen Platz im Vorstand überließ, und die Präsidentschaft der kommenden beiden Kirchentage schon vergeben war. 1995 hätte sie wieder für den Vorstand und damit auch für eine Präsidentschaft kandidieren können, aber sie tat es nicht – in einem Brief an die Verfasserin gibt sie als Begründung an, dass ihre Neurologin ihr nach einem Kreislaufzusammenbruch zwei Jahre zuvor dringend abgeraten hatte. Die Begründung ergänzt sie aber mit dem Satz: „Das hat mich von der selbstkritischen Frage befreit, ob ich das überhaupt gekonnt hätte“. Natürlich hätte sie es gekonnt und sie wäre eine sehr gute Präsidentin geworden. Aber die Bemerkung zeigt, dass sie trotz dem Mut, den sie andern Frauen mitgegeben hat, auch Selbstzweifel hatte. Sie verstand sich eher als eine Ermöglicherin denn als eine Repräsentantin, auch wenn sie „in die Bütt ging“ wenn es darauf ankam; aber sie wollte sich selbst nie in den Mittelpunkt stellen.
Dabei hat sie hat außerordentlich strategisch gedacht. Sie hat nicht nur in der DDR die Feministisch Theologischen Werkstätten organisiert und geleitet, sondern hat die Feministisch Theologische Basisfakultät beim Kirchentag in Leipzig 1997 zusammen mit Bärbel Wartenberg-Potter geplant und geleitet.
Aus der Einleitung durch Bärbel Wartenberg-Potter können wir die wichtigsten Gründe ablesen, die sie und Annemarie bewogen haben, diese Idee voranzutreiben: Sie wollten den Frauen in der Theologie einen Ort verschaffen, wo sie sich über ihre ureigensten theologischen Entdeckungenaustauschen könnten; und damit die Erneuerung der Theologie und der Kirche voranbringen; die Basisfakultät sollte eine Ort kreativen theologischen Denkens sein und eine Lücke in den Universitäten füllen – wo die Feministische Theologie bisher keinen Platz hatte; die spirituelle Seite der Feministischen Theologie sollte einen Ort bekommen. Und sie sollte ein Ort des Gesprächs mit Frauen aus andern Teilen der Welt sein. Es war ein Programm des Aufbruchs – und des Umdenkens. Glücklicherweise bietet der Kirchentag für solche Aufbrüche genügend Raum.
Annemarie Schönherr hat m.E. in der ganz neuen und unkonventionellen Weise, in der sie die Bergpredigt auslegte, reformatorische Impulse gesetzt. Sie nahm sie wörtlich und verabschiedete sich entschieden von der klassischen Auslegung, in der z.B. die Seligpreisungen nur für Auserwählte gelten sollten und für normale Menschen untauglich seien. Ich zitiere noch einmal aus dem Artikel für das Bulletin des ÖFCFE 1988: „Eine lange Tradition hat die Schleier (um die Seligpreisungen, Ergänzung E.R.) gelegt. Schon Matthäus mit seinen „Armen im Geist“ (anders als Lukas) hat verdunkelt, dass die Angesprochenen auch sozial Arme waren, kleine Leute, die als erste zu den Jesusgemeinden gehörten (…) Als die Gemeinden größer wurden setzte sich die Meinung durch, der Bergrede Jesu und mit ihr die Seligpreisungen, seien für den engeren Kreis der Glaubenden gedacht, für die Asketen und Mönche, für die „vollkommenen“ Christen (…) Die Bergpredigt sei dazu da, uns zu überführen, dass wir arme Sünder sind, die an der Verwirklichung der Forderungen Jesu immer scheitern werden. Christliche Politiker versuchen bis heute nachzuweisen man können (mit der Bergpredigt, Ergänzung E.R.) nicht regieren, weil sie alle bewährten Ordnungen ausser Kraft setze. (…) Soll sie weiter eine Sache von einer Handvoll hoffnungsloser Idealisten oder gefährlicher Spinner bleiben? Unter den vielen Fehldeutungen, den Verkürzungen und Abschwächungen leuchtet heute für uns auf, dass der Gegenentwurf Jesu die Überlebenschance für unsere Welt beschreibt (…) Er wird zur Orientierungshilfe, nicht nur für Christen. Das Himmelreich (oder Utopia) bleibt nicht länger der Ort, den es nicht gibt. Es wird immer mehr zu dem Ort, den es „noch nicht“ gibt. An ihm ist das Bestehende zu messen (…)In Richtung auf das Himmelreich, das Utopia Jesu, sind die kleinen Schritte zu tun, die wir, jede und jeder von uns, in unsern Biografien tun können. (…)“ Im Sinn dieser kleinen Schritte, dieser ständigen Bewegung war sie 1989 die Anregerin des schönen Titels der ökumenischen Frauenvorkonferenz in Boldern/Schweiz vor der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel. Anstelle von ‚Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung‘ nannten wir unsere Tagung „Gerechtigkeit suchen, Frieden machen, mitgeschöpflich leben“ (Raiser/Schönherr 2010: 63). Der gerechte Friede ist ein ständiger Prozess, ein Weg, den wir immer wieder neu suchen müssen; diese Erkenntnis aus der weltweiten Ökumene haben christliche Frauen in der DDR damals durchbuchstabiert und uns in den Westen sozusagen mitgebracht. Heute stehen ähnliche Gedanken in der Denkschrift des Rates der EKD zum gerechten Frieden.
Wie Martin Luther nahm Annemarie Schönherr die Bibel wörtlich in dem Sinn, dass sie uns gegenüber der überlieferten Tradition eine Befreiungsbotschaft bringt; auch für uns Frauen. Das war damals in den 80er Jahren nicht selbstverständlich, die Befreiungstheologie Lateinamerikas, Asiens oder der Schwarzen in den USA war ja noch nicht wirklich Allgemeingut, und bezeichnenderweise zitiert Annemarie Schönherr, so viel ich sehe, nirgends die bekannten Befreiungstheologinnen und -theologen der damaligen Zeit. Sie kam zu ihren Erkenntnissen aus ihrer eigenen Erfahrung und aus der eigenen intensiven Beschäftigung mit den biblischen Texten. Darin ist sie Reformatorin.
Das gilt auch für ihre Kritik der patriarchalen Denk- und Sprachmuster in ihren Vorträgen und Bibelarbeiten, die oben beschrieben wurden. Auch hier war sie Reformatorin, vor allem in ihrem Kontext in der DDR, wo die feministische Theorie und Theologie damals noch weitgehend unbekannt war und wo sie bekannt wurde auf viel Widerstand stieß. Annemarie Schönherr hat sich durch diesen Widerstand nicht entmutigen lassen; ebenso wenig wie durch die Kritik an ihrer Überzeugung von einem erfüllten christlichen Leben in einem sozialistischen und diktatorischen Staat nach 1990.
Annemaries Vermächtnis bleibt die Herausforderung zum unabhängigen Denken. Sie hätte den Satz von Ingeborg Bachmann: „Es treibt das Denken Risse in die Wand“ selber erfinden können. Dazu gehörte auch ihre Mahnung zur Genauigkeit, sowohl im Denken wie in der Wortwahl. Fähigkeit zu unverbrüchlicher Freundschaft, Treue, unbestechliches Denken, Mut und Achtsamkeit in all ihren Beziehungen zeichneten sie aus. Im Gedenken an sie erfüllt mich zusammen mit unendlich vielen, die sie kannten, große Dankbarkeit.
(Zum Foto: Annemarie Schönherr im Jahr 2011; Copyright: Ursula Esselborn)