Charlotte Elisabeth Nebel

Aufruf zur und Einführung in die Meditation über die Passion Christi
Ein Buch geht um die Welt Cornelia Niekus Moore
Lebensdaten
von 1727 - bis 1761
Unter weiteren Namen bekannt als:
Charlotta Elisabetha Nebelin, Charlotte Elisabeth Rambach
Beziehungen

Charlotte Elisabeth wurde 1727 als zweite Tochter des berühmten Pietisten Johann Jakob Rambach in Halle (Saale) geboren, wo der Vater Professor der Theologie war. Ihre Mutter, Johanna Elisabeth Lange (1706-1730), war die Tochter seines ehemaligen Lehrers Joachim Lange (1670-1744). Die Mutter starb schon 1730 im Kindbett. 1731 nahm der Vater einen Ruf als Professor der Theologie an der Universität Gießen an und wirkte dort als Ordinarius, Prediger und Superintendent. Dort starb er schon vier Jahre später (1735). Rambach hatte wieder geheiratet und hinterließ eine Witwe mit vier Kindern, die den Fürsten Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt nach dem frühen Tod des Gatten um ein Gnadengehalt bitten musste. Charlottes ältere Schwester war die später aus Goethes Dichtung und Wahrheit bekannte Johanna Dorothea Griesbach-Rambach (1725-1775), die Freundin der „schönen Seele“ Susanna von Klettenberg (1723-1774). Mit 18 Jahren heiratete Charlotte 1746 den Gießener Professor der Beredsamkeit, seit Anfang 1753 Wormser Pfarrer, Henrich Christoph Nebel (1715-1786). Dieser gab nach ihrem Tod im Kindbett ihre Werke heraus, ebenso wie er es schon mit den Werken ihres Vaters getan hatte. Nur eines von ihren sieben Kindern erreichte das Erwachsenenalter: Philipp Christian Gottfried Nebel (1753-1783), später Hofarzt in Darmstadt.

Ihre pietistische Herkunft und ihre Heirat mit Henrich Nebel ließen sie lebenslang in einem pietistischen Umfeld verbleiben. Aus ihren Erbaulichen Betrachtungen (postum erschienen 1765) wird deutlich, dass sie eine eifrige Leserin erbaulicher Schriften war. Die meisten „ihrer weitläuftigeren Auszüge aus geistreichen Schriften“ (Betrachtungen S. iv) kamen aus der Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes, der Pietistischen Erbauungszeitschrift, seit 1736 herausgegeben von Johann Adam Steinmetz (1689-1762). Mit Rezensionen, die öfter aus Teilabdrucken der Werke bestanden, lieferte diese Zeitschrift auch Predigtmaterial für Pfarrer. Ihre Präsenz in den Werken Charlotte Nebels weist deutlich auf die Verbreitung pietistischer Ideen durch diese Zeitschrift hin und zeigt, dass auch andere Mitglieder der Pfarrersfamilie Zugang zu dieser erbaulichen Lektüre hatten. Durch das Abschreiben (bzw. Paraphrasieren) wurde der Rezeptionsprozess noch intensiviert. Aus der Dichtung und den Überlegungen der Autorin ergibt sich ein Erbauungs-, Lese- und Kommunikationsmuster, das auf persönlichen Kontakten sowie auf Büchern beruht, die über eine Sammlung auserlesener Materien ins Haus kommen, das dann die eigenen Frömmigkeits-Überlegungen an eine Gruppe von gleich gesinnten Lesern weiterreicht.

Ihre Schwester und ihr Schwager Konrad Kaspar Griesbach (1705-1777) gehörten zu einem frommen Kreis in Frankfurt am Main, zu dem auch Susanna von Klettenberg zählte. Dieser Kreis stand in den fünfziger Jahren unter dem Einfluss von Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700-1760), und so vermutlich auch Charlotte Nebel-Rambach. Seit den fünfziger Jahren wurde die gefühlsmäßige Annäherung an die Passion Christi das Hauptthema ihres Schreibens.

Wirkungsbereich

Natürlich war der Name Rambach in pietistischen Kreisen immer eine gute Empfehlung, aber hundert Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ging eines der von der Tochter des berühmten Pietisten, Charlotte Nebel-Rambach, verfassten Bücher nochmals auf Reisen durch die Welt, weil der Inhalt weiterhin ein interessiertes Lesepublikum fand. Dies wurde möglich, weil ihr Ehemann nach ihrem Tode die folgenden ihrer Werke herausgegeben hat:

Charlotta Elisabetha Nebelin gebornen Rambachin Erbauliche Betrachtungen über mancherley Wahrheiten unsers Christlichen Glaubens, nebst einer Sammlung aus andern geistreichen Schriften, nach dem seligen Abschiede der Verfasserin herausgegeben von ihrem Ehegatten Henrich Christoph Nebel, Evang. Prediger in Worms. Frankfurt und Leipzig, bey Johann Georg Fleischer 1765.

Charlotta Elisabeth Nebelin gebohrnen Rambachin sämtliche Poesien, nach dem seligen Ableben von Ihrem Ehegatten Henrich Christoph Nebel, Evang. Pred. Worms herausgegeben. Frankfurt und Leipzig: In der Fleischerischen Buchhandlun, Johann Friedrich Fleischer Frankfurt a. Main. 1763.

Der große Versöhnungstag: Zum heilsamen Gebrauch des Leidens und Sterbens Jesu Christi Auf die 24 Stunden eines jeglichen Tages  angewendet; Nebst einem poetischen Anhang/ Von Charlotta Elisabetha Nebelin … Und nun nach dem seligen Abschiede der Verfasserin … herausgegeben von Henrich Christoph Nebel, Evang. Prediger in Worms. Speyer: Zeuner; Leipzig: Fleischer 1761. 2. Auflage (mit dem Titel „Der heilsame Gebrauch …“). Frankfurt und Leipzig 1765. 3. Auflage: 1766.

 Spätere Ausgaben von Versöhnungstag:

Der große Versöhnungstag: Zum heilsamen gebrauch des Leidens und Sterbens unsers Herrn Jesu Christi: Auf die 24 Stunden eines jeglichen Tages angewendet von Charlotta Elisabetha Nebelin, geb. Rambachin. Durchgesehen und vervollständigt von Pfarrer Wilhelm Köllner, nebst einem Vorwort von Missionar [Felician von] Zaremba. 1. und 2. Auflage: Basel: C. F. Spittler 1835. 3. Aufl.: Langenthal: Cyr 1851. 4. Auflage: Basel: Pilger Mission 1863. 5. Auflage: Basel: Pilger Mission 1866.

Englische Übersetzung:

The Great Day of Atonement: or Meditations and prayers on the last twenty-four hours of the sufferings and death of our Lord … Translated from the German of C.E.N. Edited by Mrs. Colin Mackenzie. London 1858 (1857); Boston 1859, New York: Gould and Lincoln 1870.

Französische Übersetzung:

Charlotta Elisabetha Nebelin, Le grand jour de la réconciliation. Locle 1865.

Französische Übersetzung:

Méditations sur la Passion: Les 24 heures du Grand Jour de la Rédemption par Charlotte Nebel. Nouvelle Adaptation par (Pasteur) Gabriel Bouttier (1879-1970) … Illustré de dessins de Albert Dürer. Straßburg: Oberlin 1946.

Zu ihren Lebzeiten wurden nur ein paar Gedichte herausgegeben. Aber schon bald nach ihrem Ableben erschien Der heilsame Gebrauch des Leidens und Sterbens unsers Herrn Jesu Christi zum großen Versöhnungstag. Man könnte daher annehmen, dass die Autorin selbst noch am Druck beteiligt gewesen war oder wenigstens ein druckreifes Manuskript hinterlassen hatte. Das Vorwort enthält einen ausführlichen Lebenslauf, in dem der Witwer den Tod seiner Gattin betrauert und mit der Erwähnung ihrer Frömmigkeit den spirituellen Hintergrund des Werkes konturiert. In den nächsten Jahren erschienen auch die anderen Werke (Gedichte, Betrachtungen), aber das erste Buch mit Meditationen über die 24 Stunden der Passion Christi war vorbestimmt, in langen Reisen und mehreren Übersetzungen die Welt zu durchkreuzen und von Kräften weit außerhalb Worms weiterbewegt zu werden.

Die erste Fassung erlebte drei Auflagen (1761, 1765, 1766). Siebzig Jahre später (1835) wurde das Werk in Basel neu ediert und gedruckt. Nach dem neuen Vorwort zu urteilen, hatte ein ursprünglich aus Basel stammender Missionsschüler es in der Kolonie Helenendorf südwärts vom Kaukasus bei einer dorthin aus Württemberg ausgewanderten frommen Frau gefunden, die es als ihre Lieblingslektüre betrachtete. Damit war das Buch in pietistischen Kreisen geblieben. Unter dem Einfluss des Bengelschen Chiliasmus, der eine baldige Wiederkehr des Herrn auf Erden mit Sitz in Jerusalem predigte, und ermutigt von dem Angebot des russischen Zaren, der Land und ungehinderte Religionsausübung im Kaukasus versprach, hatte eine Gruppe pietistischer Württemberger Bauern dort 1818 eine neue Kolonie gegründet.

Die Baseler Ausgabe erlebte insgesamt fünf Auflagen: 1835 (zweimal), 1851, 1863 und 1866. Diese Mehrzahl an Auflagen zeigt auch die Intention der Baseler Mission, die sich dafür einsetzte, dass dieses Buch „in viele Hände“ käme. Der Lebenslauf wurde getilgt. Stattdessen erschien die Geschichte der wundersamen Wiederentdeckung des Buches im Kaukasus. Die Baseler Mission hatte ihre Kontakte in vielen Missionsgebieten, u.a. in Indien. Da verschenkte 1847 eine Missionarin namens Frau Rudolph die Baseler Ausgabe an die Gattin eines britischen Offiziers, eine Mrs. Colin Mackenzie, geborene Helen Douglas.Offensichtlich beschränkten die Missionare ihre Tätigkeit nicht nur auf die einheimische Bevölkerung, sondern dehnten ihren Einflussbereich auch auf die dort ansässigen europäischen Christen aus. Helene Mackenzie-Douglas verfertigte ihre Übersetzung auch nicht für indische LeserInnen sondern für diejenigen „back home.“ In seiner englischen Fassung heißt das Werk: The Great Day of Atonement or Meditations and Prayers on the Last Twenty-Four Hours of the Sufferings and Death of Our Lord. Wieder wurden einige Gebete gekürzt und einige alte Ausdrücke durch modernere übersetzt. Gerade die für eine Meditation so charakteristischen Wiederholungen, in denen man sich widerspricht, seine Gedanken weiter verfestigt oder versucht, einen besseren Ausdruck für das Empfundene zu finden, um damit den Meditationsprozess zu steigern, wurden getilgt oder paraphrasiert. Was dabei entstand, ist ein noch immer sehr lesenswertes Buch.

Mit der englischen Übersetzung hatte das Buch den pietistischen Kontext verlassen. In seiner neuen Umgebung wurde seine Verbreitung jetzt von einer spezifisch englischen Bewegung, „The Oxford Movement”, unterstützt, die das Lesen religiöser Lektüre zu fördern versuchte, um die allgemeine Entkirchlichung (apostasy) zu stoppen und die Anglikanische Kirche wieder zu beleben. Als Übersetzung einer deutschen Schrift war Atonement auch Teil einer Welle von Übersetzungen aus dem Deutschen. Die Verbreitung von Helen Mackenzies Übersetzung wurde also in ihrer Heimat von den dort herrschenden Strömungen gefördert. Als das Buch dann den Ozean überquerte, waren es Verlage in den neuen amerikanischen Metropolen, die das Werk druckten (Boston 1859 und New York 1870) und nicht mehr die traditionell pietistischen Verlage, die auch die Schriften ihres Vaters eine Generation früher herausgebracht hatten.

Versöhnungstag wurde auch mehrmals ins Französische übersetzt. 1865 erschien eine anonyme französische Übersetzung, die sich ziemlich genau an die Baseler Ausgabe hielt. Eine zweite kam 1946 heraus. Der Übersetzer war Gabriel Bouttier (1879-1970), reformierter Pfarrer in Schirmeck (Bas-Rhin, Vogesen) und etablierter Herausgeber von Gebetbüchern. Das Buch hieß nun: Méditations sur la Passion: Les 24 heures du Grand Jour de la Rédemption par Charlotte Nebel (Straßburg 1946). Es wurde mit Passionsbildern von Albrecht Dürer illustriert. In seinem Vorwort berichtet Bouttier, wie er am Anfang des Krieges aus dem Elsass ausgewiesen wurde und die Kriegsjahre „im Exil“ in der Bretagne verbrachte. Dass er das Buch, das er „mal unter einem Haufen alter Bücher gefunden hatte“, in seinem Exil bei sich hatte, wertet er als ein göttliches Zeichen. Es wurde ihm bei seiner wöchentlichen Meditation eine große Stütze. Er schreibt weiter, dass er das Buch wieder herausgebe, weil er anderen Lesern die gleiche Meditationshilfe zukommen lassen möchte, besonders den Mitgliedern des Ordre des Veilleurs, zu dem er und seine Frau gehörten.

Über das tägliche Leben des elsässischen Pfarrers erfahren wir mehr in einem schmalen Büchlein über seine Frau, Hélène Bouttier, geb. Nyegaard, die eine zunehmend aktive Rolle in der seelsorgerischen Tätigkeit ihres Mannes übernahm: En souvenir d’Hélène G. Bouttier, née Nyegaard, 1890-1963 (Montpellier o.J.). Es wurde wahrscheinlich von ihrem Mann als Nachruf herausgegeben und beschreibt, wie das Ehepaar täglich am frühen Nachmittag seine Andachten hielt. Hélène Bouttier habe auch Kontakt zu der oben erwähnten britischen Oxford Movement gehabt, wodurch sie sich „der Notwendigkeit einer methodischen täglichen Andacht“ („la nécessité du recueillement quotidien méthodique[Souvenir: 24]) noch stärker bewusst geworden wäre.

Nach fast 200 Jahren war das Buch also wieder da angekommen, wo es einmal seinen Ursprung genommen hatte, nämlich in einem Pfarrhaus, wo Gebetsstunden und Andachten wichtige Bestandteile des täglichen Rhythmus bildeten, und wo der Hausherr ein erfahrener Herausgeber von Erbauungsliteratur war und deshalb der Lektüre, die er selbst als hilfreich empfunden hatte, zur weiteren Veröffentlichung verhalf. Wie die Familie Nebel-Rambach lebte auch dieses Ehepaar außerhalb der großen Zentren; aber auch sie gehörten zu einem überregionalen Netzwerk, einer ecclesiola in ecclesiam, das sie zwar von der übrigen Kirche abhob, aber nicht ausschloss, und das diese neue Veröffentlichung auch an ihre Mitglieder und andere Interessenten weiterleiten konnte.

Von allen Bearbeitern hat Bouttier am meisten umgeändert und gekürzt. Die Passionsgeschichte ist natürlich noch immer vorhanden, aber jede Stunde ist jetzt ein „Meditations-Paket,“ eine Kombination von Titel, Erzählung, Meditation, Lied und Bild, mit verschiedenen Aktivitäten (Schauen, Lesen, Meditieren, Singen), die unabhängig von den andern Kapiteln zu einer eigenen Meditationsstunde beitragen. Gestrichen hat der französische Übersetzer vor allem „die etwas überschwänglichen Stellen, die den Leser langweilen könnten“ („élaguant les pieuses effusions qui pouvaient lasser le lecteur pressé“). Wenn auch der französische Übersetzer die deutsche Fassung und ihre Autorin lobt, so ist doch von dem Geist und Stil Charlotte Nebel-Rambachs wenig mehr übrig.

Reformatorische Impulse

Wie es sich in ihrem Werk zeigt, hat Charlotte Nebel die herrnhutischen Einflüsse mit dem Pietismus ihres Vaters zu verbinden versucht. Gerade in den letzten Jahren ihres kurzen Lebens muss sie die Konzentration auf den Kreuzestod Christi des Grafen Zinzendorf angesprochen und inspiriert haben. Ihr letztes Werk betont eine gefühlsmäßige Beziehung über eine wörtliche Wiederholung der Bibelpassagen und deren theologische Erklärung.

Kommentar

Der große Versöhnungstag erreichte seine LeserInnen über zwei Jahrhunderte, nicht durch den berühmten Namen des Vaters, sondern vielmehr durch die Kraft des eigenen Textes. Natürlich war es nicht dazu bestimmt, ein Bestseller zu werden. Das Lesepublikum für religiöse Meditationshilfen ist von jeher beschränkt. Aber das Zeugnis der Witwe im Kaukasus, des Ehepaars im Elsass und der Übersetzerin im weiten Indien zeugen davon, dass Leute sich gefühlsmäßig für das Buch begeisterten, seine empathische Annäherung an das biblische Geschehen schätzten und als Meditationshilfe anerkannten.