Am 26. März 1805 wurde Charlotte Reihlen als Charlotte Mohl in Kemnat (heute: Ostfildern) südlich von Stuttgart geboren, von 1808 an lebte sie in Weissach (bei Leonberg) und von ca. 1821 an in Stuttgart, der Hauptstadt des damaligen Königreichs Württemberg.
Der Vater (Wilhelm Mohl) war Pfarrer und die Mutter (Euphrosine Regine Mohl geb. Göz) entstammte einem Pfarrhaus. Eine höhere Bildung ermöglichte ihr ihr Vater durch Privatunterricht: Er hat sie selbst unterrichtet. Seit ihrem 12. Lebensjahr musste Charlotte aber ihre Mutter pflegen und ihrem Vater den Haushalt führen. Als 18-Jährige heiratete sie den Sohn eines Kaufhändlers, Friedrich Reihlen.
Als junge Ehefrau und Mutter wurde Charlotte Reihlen von Männern und Frauen aus dem pietistisch-erwecklichen Milieu Württembergs geprägt. Sie hörte Predigten von Ludwig Hofacker, Wilhelm Hofacker und Christian Adam Dann. Sie las Schriften großer Pietisten des 18. Jahrhunderts. Im Jahr 1830 erlebte sie eine Bekehrung.
In der Folge ihrer neuen religiösen Orientierung trat eine Distanz zu ihrem Ehemann ein. Dieser drohte, sie in ein „Irrenhaus“ – wie man damals sagte – zu schicken. Als Friedrich Reihlen 1833/34 in die USA reiste, um die Möglichkeit einer Auswanderung zu prüfen, erlebte er dort jedoch selbst eine Bekehrung. Er kehrte reumütig zurück und teilte fortan das religiöse Leben seiner Frau.
Von 1841 an bewegte sich Charlotte Reihlen, gemeinsam mit ihrem Mann, in pädagogisch und diakonisch engagierten Kreisen der Landeshauptstadt und wirkte bei der Gründung zahlreicher Institutionen mit oder initiierte sie sogar. Sie stand in engem Kontakt zu zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten wie Prälat Sixt Karl Kapff sowie Königin Pauline von Württemberg.
Von 1841 an wirkte Reihlen in den Bereichen Erziehung, Diakonie und Mission, ferner bei der Verbreitung von Bibeln und Gesangbüchern. Einige der von ihr (mit-)gegründeten Einrichtungen gibt es noch heute. Eine ist sogar nach ihr benannt.
Die erste Gründung, an der Charlotte Reihlen maßgebend beteiligt war, war die Gründung des sogenannten „Weidle’schen Töchterinstituts“ in Stuttgart im Jahre 1841, einer konfessionell gebundenen Schule für „höhere Töchter“, also für Mädchen aus gehobenen Verhältnissen der Landeshauptstadt. Es war die erste Gründung dieser Art in Stuttgart. Zuvor hatte es selbst in der Landeshauptstadt kein gehobenes Bildungsangebot für Mädchen gegeben. Das Institut trug den Namen von Friedrich Weidle (1808–1876), der Hauslehrer bei Reihlens gewesen war. Zur Institutsgründung kam es, als nach und nach andere Mädchen außer Reihlens eigenen Töchtern an dem Privatunterricht teilnahmen und die Verlagerung in größere Räume notwendig wurde. Aus der privaten Hausschule wurde eine öffentliche Privatschule. Reihlen erteilte zeitweise Gesangs- und Handarbeitsunterricht. 1873 wurde die Schule in „Evangelisches Töchterinstitut“ umbenannt, 1911 in eine Mädchenrealschule verwandelt und zur „Schulstiftung Evangelisches Töchterinstitut“ gemacht, und heute besteht sie als „Mörike-Gymnasium“ in gewandelter Form, unter landeskirchlicher Trägerschaft noch immer.
1860 wurde von Reihlen gemeinsam mit der Königin Pauline eine sogenannte Mägdeanstalt gegründet, eine Schule für angehende Mägde, also für Frauen aus den unteren Schichten, die als Dienstbotinnen Arbeit finden sollten. Die Anstalt ist auch als die „Dienstbotenschule Paulinenheim“ bekannt. Jährlich wurden etwa 30 Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren in häuslichen Arbeiten ausgebildet. Noch 1921 wurde die Institution von einer Enkelin Reihlens geleitet.
Für Kinder aus armen Verhältnissen war auch die Sonntagsschule gedacht, die 1865 – wenige Jahre vor Reihlens Tod – im Hause ihres ältesten Sohnes eingerichtet wurde. Sonntagsschulen waren nach englischem Vorbild gestaltete freiwillige und ehrenamtlich organisierte Privatschulveranstaltungen am Sonntag, gedacht für Kinder, die werktags arbeiten mussten und deswegen keine Schule besuchen konnten. In der Sonntagsschule übten die Kinder Lesen und Schreiben und wurden auch in religiösen Fragen unterwiesen.
Die bedeutendste Gründung Reihlens war das Stuttgarter Diakonissenmutterhaus. Diese 1853 nach Kaiserswerther Vorbild gegründete Einrichtung wollte Frauen, die ehelos leben mussten oder wollten und sich dazu berufen sahen, sich im kirchlichen Rahmen um Menschen in Not zu kümmern, eine Ausbildungs- und Heimstätte geben. Das Diakonissenhaus war im 19. Jahrhundert die modernste Frauenberufsschule, die es gab. Es wirkte erfolgreich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Dann jedoch fand das Berufsbild der Diakonisse, wie überall, immer weniger Resonanz. Zur noch heute bestehenden Anstalt gehört auch ein „Feierabendhaus“, ein Altersheim für Diakonissen. Es trägt heute Reihlens Namen.
Charlotte Reihlen gehörte zu den Ersten aus den Kreisen der Stuttgarter Erweckten, die den Kontakt zur Basler Mission suchten und am Aufbau einer Verbindung arbeiteten, die bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. 1842 besuchte Reihlen in Basel das Missionsfest und gründete noch im gleichen Jahr in Stuttgart gemeinsam mit anderen Frauen einen sogenannten Hilfsverein für die Basler Mission, einen Verein, der nach dem Vorbild entsprechender Vereine in Korntal und Leonberg die Arbeit der Basler Mission durch die Verbreitung von Informationen, das Sammeln von Geld und das fürbittende Gebet unterstützte. 1843 fand in Stuttgart erstmals ein Missionsfest statt, das öffentliche Aufmerksamkeit für die Anliegen der Mission wecken sollte. Insgesamt 80 Gäste waren angereist und wurden von Reihlen betreut und untergebracht.
Einen Bibelverein hat Reihlen 1844 gemeinsam mit Charlotte Stammbach gegründet und einen sogenannten Bibelkolporteur angestellt, Bruder Schlenker, einen reisenden Mitarbeiter, der die Verbreitung der Bibeln in die Hand nahm. Unter anderem suchte er die Bahnwärter in ihren einsam gelegenen Häusern auf. Bibelvereine gab es im 19. Jahrhundert vielerorts. Sie wurden in der Regel getragen von erweckten Christen und Christinnen und suchten die von den Bibelgesellschaften hergestellten preiswerten Bibeln unters Volk zu bringen. Der Bibelverein ist später in der Evangelischen Gesellschaft aufgegangen.
Im Jahre 1841 wurde in Württemberg ein neues Kirchengesangbuch eingeführt. Reihlen gründete einen Hilfsverein zur Verbreitung dieses Gesangbuchs und engagierte sich für die Herstellung eines „Armengesangbuchs“, einer billigen, für jeden erschwinglichen bzw. zur kostenlosen Verbreitung geeigneten Auflage. Gemeinsam mit Pfarrer Baumann gab Reihlen ein „Christliches Hausbüchlein“ heraus, das 90 Lieder enthielt, außerdem Gebete und Bibeltexte. Dieses Buch wurde in den erweckten Kreisen gerne an Konfirmanden verschenkt.
Namentlich auch außerhalb Stuttgarts und Württembergs bekannt ist Reihlen bis in unsere Zeit wegen ihres heute noch gedruckten und verbreiteten, vielfach rezipierten Zwei-Wege-Bildes. Das kurz nach der Jahrhundertmitte entstandene Bild stellt in schroffer Form zwei Lebensweisen einander gegenüber, ruft damit in die Entscheidung und fordert zu einem christlichen Leben im Sinne der pietistischen und erweckten Kreise auf. Das Bild spiegelt das diakonische Engagement Reihlens, es dokumentiert die diakonischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, es wirbt für das diakonische Engagement und es enthält eine theologische Begründung des diakonischen Engagements.
Zwei alternative Wege werden einander gegenübergestellt: Der breite Weg führt an Gasthöfen, Ballhäusern, Theatern und Spielhöllen vorbei in den ewigen Tod. Der schmale Weg führt entlang von Kirchen, Rettungsanstalten und Diakonissenhäusern in die Seligkeit. Den breiten Weg beschreiten vornehme, modisch gekleidete Standespersonen, viele auf Pferden oder in Kutschen. Auf dem schmalen Weg dagegen sieht man einfache Menschen, alle zu Fuß und viele mit Lasten, zahlreiche Kinder und überdurchschnittlich viele Frauen. Die beiden Wege sind durch eine tiefe Schlucht getrennt, und zwischen ihnen gibt es nur wenige Verbindungsbrücken, die – das ist besonders auffällig – kein einziger beschreitet. Im Vordergrund steht ein Prediger und informiert die Leute über die Alternativen.
Das Bild lädt zum Betrachten und Entdecken ein und dazu, es mit Hilfe der Bibel zu interpretieren. Manches entdeckt man erst auf den zweiten Blick und überrascht: Die Tierquälerei wird ebenso verurteilt wie die Eisenbahn. Beim ersten Punkt waren die Frommen des 19. Jahrhunderts Bahnbrecher einer neuen Tier- und Umweltethik, beim letzteren offenbarte sich eine nicht haltbare und bald schon durchweg aufgegebene Technikfeindlichkeit.
Wie viele kirchlich engagierte Frauen verkörpert auch Charlotte Reihlen das von der Reformation propagierte allgemeine Priestertum: Sie war eine mündige Christin, die sich kirchlich und gesellschaftlich engagierte.
Unmittelbar an reformatorische Ziele knüpfen der hohe Stellenwert des Bibellesen und Predigthörens in Reihlens Frömmigkeit an. Die Bibelverbreitung – auch indirekt durch die Verbreitung von Kirchengesangbüchern – war ebenfalls im vollsten Sinne reformatorisch.
Gute Werke als Früchte des Glaubens zeigten sich bei Reihlen in ihrem breiten diakonischen Engagement. Auch diesen reformatorischen Impuls gab sie ihrer Mit- und Nachwelt. Zeitgenossen verehrten sie deshalb nach ihrem Tod als echte Nachfolgerin der „Stuttgarter Tabea“, der Beata Sturm, die ein Jahrhundert vor Reihlen diakonisch aktiv gewesen war.
Reihlen starb am 21. Januar 1868, gut reformatorisch, wie Luther selbst, im Bewusstsein ihrer Sünden. Eines ihrer letzten Worte war: „Ich bin durch und durch Sünder und gehöre mit Haut und Haaren in die Hölle.“ Reihlen wusste sich bis zuletzt auf die Gnade Gottes angewiesen. Sie fand auf dem Stuttgarter Fangelsbach-Friedhof ihr Grab. Es kann noch heute besucht werden.
Grab Reihlens auf dem Fangelsbachfriedhof Stuttgart
(Foto: Martin H. Jung)
Reihlen gehört zu den bekannten und einflussreichen Frauengestalten in der Geschichte des deutschen Protestantismus und hat große Bedeutung für die Geschichte der Diakonie in Württemberg.
Das bekannteste Werk Reihlens, das Zwei-Wege-Bild, ist aus evangelisch-reformatorischer Sicht freilich problematisch. Man kann es als Ausdruck von Werkgerechtigkeit und eines ganz und gar nicht evangelischen, zumindest nicht lutherischen Vollkommenheitsstrebens interpretieren. Außerdem war es ganz und gar nicht in Luthers Sinn, Menschen so mit der Hölle zu drohen. Auch die radikale Abwendung von der Welt entsprach nicht Luthers reformatorischem Programm.
Das Zwei-Wege-Bild gibt also interessante Einblicke in die Kultur und Frömmigkeit der Frommen im 19. Jahrhundert und eignet sich hervorragend für didaktische Zwecke. Es sollte aber nicht als Leitbild recht verstandenen evangelischen Lebens angesehen werden, wie das in manchen Kreisen noch heute der Fall ist.