Dorothee wird als viertes von fünf Kindern der Eheleute Hans Carl und Hildegard Nipperdey am 30. September 1929 in Köln geboren. Der Vater ist Jurist, Professor für Arbeitsrecht, später Präsident des Arbeitsgerichtshofes. Das Elternhaus steht in einem der vornehmsten Kölner Vororte, im Professorenviertel Marienburg, dort wächst Dorothee auf, in einem wertekonservativen bildungsbürgerlichen Milieu, das jedoch dem Faschismus nichts Entscheidendes entgegenzusetzen weiß.
Dorothees Jugendzeit ist bestimmt von einem Rückzug in die Innenwelt der Romantik, der erst allmählich von der Konfrontation mit der realen Welt und ihren Schrecknissen beendet wird. In dem Erschrecken über die Katastrophe des Faschismus und des Krieges beginnt die Studentin nach einer neuen Lebensrichtung zu suchen: der christliche Existenzialismus, wie er ihr in den Schriften Kierkegaards begegnet, hilft ihr, den „Sprung zu wagen, in die Leidenschaft für das Unbedingt, in das Reich Gottes“ (Sölle 1995: 31). Sie wechselt vom Studium der Klassischen Philologie in die Theologie und Germanistik und wird 1954 nach dem Staatsexamen Religions-und Deutschlehrerin an einem Mädchengymnasium in Köln.
Zugleich wird Dorothee als kritische und politisch engagierte Zeitgenossin aktiv in der Bewegung für Frieden und gegen die Wiederbewaffnung in der BRD. Hier begegnet sie ihrem ersten Mann Dieter Sölle: „Wir sind zusammen Christen geworden.“ (Wind, Sölle 2007: 46) Sie heiraten 1954, die Kinder Martin, Michaela und Caroline werden in den nächsten Jahren geboren.
Nach der Trennung von Dieter Sölle folgt zunächst verstärkte theologische Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Köln, beim Westdeutschen Rundfunk und als Autorin; 1965 erscheint ihr erstes theologisches Buch „Stellvertretung – ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“.
1968 beginnt auf dem Katholikentag in Essen die ökumenische Aktion „Politisches Nachtgebet“, in der Information, Meditation und Aktion zusammengeführt werden sollen. Eines der ersten politischen Nachtgebete in Köln führt zu einer Demonstration gegen den Krieg in Vietnam: „Vietnam ist Golgatha“. Die politischen Nachtgebete entstehen in enger Zusammenarbeit mit dem katholischen Theologen und Benediktiner Fulbert Steffensky. Sie heiraten 1969, die Tochter Mirjam wird 1970 geboren.
Es folgen Habilitation, Lehraufträge und Publikationen, 1975 der Umzug der Familie nach Hamburg. Eine Professur ist aber nur in New York am Union Theological Seminary möglich. Dorothee Sölle lehrt dort in den Sommersemestern von 1975-1987, nimmt an den Aktionen der amerikanischen „Graswurzelbewegungen“ teil, begegnet dem Priester und Friedensaktivisten Daniel Berrigan und der katholischen Sozialistin Dorothy Day, arbeitet mit ihnen in ihren Seminaren über die Verbindung von Mystik und Widerstand.
Währenddessen und danach theologische, politische und literarische Arbeiten, Gastdozenturen und weltweite Vortragsreisen, Aktivitäten in der Solidaritäts- und Flüchtlingsarbeit, aber auch Teilnahme an Demonstrationen und Blockadeaktionen vor Militärstützpunkten und Giftgasdepots, was ihr zweimal eine Verurteilung wegen versuchter Nötigung einbringt. In diesen Bewegungen entstehen Freundschaften zu Heinrich Böll und Walter Jens. Wichtigste Gesprächspartnerin und Freundin ist seit langem die Neutestamentlerin Luise Schottroff; mit ihr zusammen wird die feministisch-befreiungstheologische Bibelauslegung zu einem weiteren Schwerpunkt in Dorothee Sölles Schaffen.
1989 beginnt die Arbeit an „Mystik und Widerstand“ als Antwort auf die neuen politischen und theologischen Herausforderungen nach der „Wende“. Ihre letzte Schrift „Mystik des Todes“ bleibt unvollendet. Am 27. April 2003 stirbt Dorothee Sölle während einer Vortragsreise in Göppingen. Ihr letzter Vortrag am 26. April 2003 an der Evangelischen Akademie Bad Boll trug den Titel „Gott und das Glück“.
Die Wahrheit wollte sie wissen, deshalb studierte sie Theologie. Am Anfang war es ein intellektuelles Abenteuer, doch es wurde der Beginn einer abenteuerlichen Lebensreise, eine große Suche nach Heimat und Identität, nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Gott und seinem Reich des Schalom.
Auf dieser Reise wurde Dorothee Sölle irgendwann klar, dass sich Wahrheit nicht abstrakt definieren, sondern nur konkret erleben lässt. Diese Erkenntnis hat in eine radikale Lebenspraxis geführt, in das unbedingte Engagement für Gerechtigkeit und von da aus zu neuen Perspektiven über Gott und seine Wahrheit.
Dorothee Sölle hat sich in ihrem Denken von vielen Männern und Frauen der christlichen Tradition inspirieren lassen; einen lebenslangen Dialog hat sie jedoch mit Dietrich Bonhoeffer geführt, dessen fragmentarische Gedanken zu einem weltlich gelebten Christentum in ihrem Reden und Schreiben weiter gedacht und konkretisiert wurden. Dazu gehört nicht zuletzt der von Bonhoeffer geforderte Perspektivenwechsel, nämlich in der Nachfolge Jesu die großen Ereignisse der Weltgeschichte aus der Perspektive von unten, aus der Sicht der Leidenden sehen zu lernen. Eng damit verbunden ist die Aufforderung, in diesem Kontext eine neue Sprache für das alte Evangelium zu finden. Bonhoeffer wies darauf hin, dass dies nur möglich ist, wenn die Kirche ein anderes Selbstverständnis und eine neue Praxis entwickelt: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun […]. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“ (DBW8 ).
Dorothee Sölle gehörte zu den Menschen, die das Wort Gottes in einer neuen Sprache zu verkündigen verstanden. Zeit ihre Lebens ist sie freischaffende „Theologiearbeiterin“ – so hat sie sich selbst genannt – gewesen, für die es in unserem Land und unserer Kirche kein Predigt- und Lehramt gab, die sich aber einen unübersehbaren LeserInnen und HörerInnenkreis zunächst außerhalb der Institutionen von Kirche und Universität geschaffen hat. Viele Menschen, die sich von der traditionellen Kirche, ihrer Erscheinung und Sprache abgewandt haben, finden in ihren Texten und Reden ebenso neue Hoffnung und Erkenntnis wie diejenigen Christinnen und Christen, die ihrer Kirche ein offenes, der Welt und den Menschen zugewandtes Gesicht geben wollen. In Verbindung mit ihrem Interesse für Kunst und Literatur und mit ihrer eigenen literarische Begabung hat sie eine Sprachform geschaffen, mit der die Rede von Gott in eine säkularisierte Gesellschaft hinein neu gestaltet werden konnte. In ihren 1970 verfassten „Thesen über die Kriterien des theologischen Interesses an Literatur“ heißt es:
„Die Theologie findet in der Sprache der Kunst eine nicht-religiöse Interpretation der theologischen Begriffe.
Theologische Begriffe sind solche, die den Menschen in seiner Totalität aussprechen und die ihn auf sein ewiges, d.h. authentisches Leben beziehen, z.B. Sünde, Gnade, Sterben, Auferstehen, Gerechtigkeit, Frieden.
Das Entdecken der nicht-religiösen Interpretation, das die Theologie leisten soll, ist nicht mit der Reduktion auf eine theologische Nomenklatur abgegolten oder mit der vagen Parallelisierung dichterischer und theologischer Darstellungen. Entdeckt will gerade der Gehalt der in der religiösen Nomenklatur erstarrten Begriffe werden, gefunden ihre gegenwärtige Konkretion. ‚Sünde‘ oder ‚Gnade‘ sind theologische Leerformeln, deren einziger Wert darin liegt, dass sie uns zu einer Fragestellung verhelfen, auf die erst nicht-religiöse, weltliche Konkretion antwortet. Erst die Prädikate sagen, was das Subjekt sei.
Theologisch relevant ist, was uns öffnet, was ‚ein neues Organ in uns aufschließt‘ (Goethe), was uns aus der Versicherung des Gewussten herausnimmt, was uns mit den eigenen Klischees konfrontiert, was uns entlarvt, was unser Verhältnis zur Welt und damit uns selber ändert“ (Sölle 1970: 206f.).
Dass Dorothee Sölle glaubhaft von Gott reden konnte in einer Welt der Gewalt hat mit dieser Bereitschaft, das Verhältnis zur Welt und damit sich selbst zu ändern zu tun, damit, dass dieses Reden dem Protest gegen die Welt der Gewalt entsprungen und mit dem Tun des Gerechten unter den Menschen verbunden war.
Sie selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass erst aus einer neuen persönlichen und politischen Praxis neue Worte für das alte Evangelium gefunden werden. Der Vorrang der Orthopraxie vor der Orthodoxie, den die Theologie der Befreiung betont, hat in ihrem Denken und Handeln Gestalt angenommen, in dem Wissen darum, dass die Praxis selbst immer wieder zum Ort der Erkenntnis wird. Der von dem lateinamerikanischen Befreiungstheologen Gustavo Guiterrez formulierte erste und zweite Akt der Auslegung des Evangeliums wird so zum Charakteristikum theologischer Existenz heute: erst im bewussten Leben für die und mit den anderen, in Parteilichkeit und Solidarität wird sich in einem zweiten Akt der Auslegung der Sinn der Schrift, des Evangeliums, neu erschließen, und es werden sich neue Wege und Worte der Verkündigung einstellen. Auf dieses Experiment hat sich Dorothee Sölle in wachsender Konsequenz und mit ihrer ganzen Existenz eingelassen. Das hat ihr Reden von Gott glaubwürdig gemacht.
Glaubwürdig war dieses Reden von Gott auch deshalb, weil Sölles theologischer Ansatz gerade darin bestand, dieses Reden von Gott in Frage zu stellen: Wie kann man nach Auschwitz von einem Gott reden, „der alles so herrlich regieret“? Für sie bleibt zunächst die „Erfahrung vom Ende einer objektiven, allgemeinen, oder auch subjektiven, privaten, jedenfalls aber unmittelbaren Gewissheit“, theologisch gesprochen: es bleibt die Erfahrung vom „Tode Gottes“ (Sölle 1965: 11). Diese Erfahrung kann nur dadurch aufgehoben werden, dass Christus diese Leerstelle besetzt: als Stellvertreter Gottes vor den Menschen und als Stellvertreter der Menschen vor Gott. In dieser Beziehung der Gegenseitigkeit, wird aber Gott in Christus auch in seiner Ohnmacht erlebt, der die Hilfe von Menschen braucht, um erkennbar zu werden. „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden – dasunterscheidet Christen von Heiden“ hatte bereits Bonhoeffer in einem Brief aus dem Gefängnis geschrieben (DBW8: 535). In einem späteren Kommentar zu diesem ersten „Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘“ schreibt Sölle: „Die Antworten, die hier gesucht werden, hängen mit Jesus von Nazareth zusammen, dem ‚Menschen-für-andere‘, wie Bonhoeffer ihn genannt hat. Nicht mehr kann Gott als Gewissheit des Herzens, als sozial repräsentiert in der Kirche vorausgesetzt werden. Wir fangen vielmehr am gottlosen Nullpunkt, den die entwickelte bürgerliche Gesellschaft darstellt, an, und nehmen wahr, dass Einer, der uns in vielen Brüdern und Schwestern begegnet, anders lebte als wir: Jesus, der mir verständliche und doch entfernte Bruder, mit dem ich mich ohne eine unvermittelte Gottesnaivität auf den Weg machen kann. Wenn es für mich eine theologisch-politische Kontinuität gibt, dann liegt sie in diesem Anfang bei dem Machtlosen, dem Leidenden und dem Hiesigen. Es ist klar, dass aus diesem Ansatz nicht gerade eine Siegerchristologie entstehen kann. Nicht: er hat’s geschafft, darum auch wir, sondern: er wird gekreuzigt, jeden Tag. Mit ihm sein, sein Bild im Herzen tragen, ihm folgen heißt, sich eine Lebensperspektive zu eigen zu machen, die im wesentlichen, unüberbrückbaren Konflikt zur Gesellschaft, in der wir leben, steht“ (Sölle 1965: 179).
In dem von Dorothee Sölle 1968 für das erste politische Nachtgebet verfassten „Credo“ heißt es:
Ich glaube an Jesus Christus,
der recht hatte, als er,
„ein einzelner der nichts machen kann“
genau wie wir,
an der Veränderung aller Zustände
arbeitete und darüber zugrunde ging.
An ihm messend erkenne ich,
wie unsere Intelligenz verkrüppelt,
unsere Phantasie erstickt,
unsere Anstrengung vertan ist,
weil wir nicht leben, wie er lebte.
Jeden Tag habe ich Angst,
dass er umsonst gestorben ist,
weil er in unseren Kirchen verscharrt ist,
weil wir seine Revolution verraten haben…
So hätte es der Reformator Martin Luther vor 500 Jahren nicht gesagt. Trotzdem sind viele reformatorische Impulse, die von ihm ausgegangen sind, bei Dorothee Sölle wieder zu erkennen.
Ein Interview mit Dorothee Sölle findet sich bei dem Projekt „Gedächtnis der Nation“ auf youtube: http://www.youtube.com/watch?v=lrADLw9PkPA
Am Reformationstag des Jahres 1968 provozierte Dorothee Sölle in einer Fernsehsendung mit dem Thema „Brauchen wir eine neue Reformation“? mit folgenden Sätzen:
„Die Zustände in der evangelischen Kirche heute haben große Ähnlichkeit mit denen in der katholischen Kirche vor der Reformation. Damals wie heute stellen Menschen Fragen, auf die die Kirche keine Antwort weiß, weil sie sich mit der bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung ohne Vorbehalt identifiziert hat. Die wirklichen religiösen Fragen unserer Zeit werden von den unruhigen Christen gestellt, die Gerechtigkeit und Frieden für alle verlangen, die sich mit den bestehenden Zuständen nicht abfinden können, die die Humanisierung der Welt als die Sache Christi ansehen“ (Fernsehmanuskript, von F.S. freundlich zur Verfügung gestellt).
Ausgehend von der These, dass sich die Reformation Martin Luthers deshalb ausbreitete, weil die Menschen fromm sein wollten, sieht Dorothee Sölle auch in der heutigen Gesellschaft bei vielen Menschen diesen Wunsch, fürchtet aber, dass ihr guter Wille an den Kirchen scheitert, denn auf ihre „theologisch-politischen Fragen antwortet die Kirche nicht oder nur ganz allgemein, sie verschanzt sich hinter einem „dogmatischen Lehrsystem“ und einer „hierarchisch aufgebauten Verwaltung“. Programmatisch erklärt Sölle: „Für die Reformation, die wir brauchen, stelle ich drei Thesen auf:
Christus hat die Leidenden formuliert, die Kirche formuliert sich.
Christus lebte mit den Armen, die Kirche gehört zur reichen, satten Welt.
Christus hat Partei ergriffen, die Kirche verhält sich neutral.“ (ebd.)
Mit dieser Kritik knüpfte Dorothee Sölle nicht nur an Martin Luther, sondern auch an Dietrich Bonhoeffer an, der 1944 im Gefängnis schrieb: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Dazu sagte Sölle: “Unsere Kirche hat sich nie klar dafür entschieden, diesen Satz ernst zu nehmen – sie ist immer und vor allem Kirche für sich selbst geblieben. Sie spricht nicht die Stummgewordenen aus […]. Sobald sie das täte, käme sie in Konflikte mit unserer Gesellschaft, die so viele Menschen zum Verstummen und zur Resignation zwingt. Ängstlich bemüht, Konflikte zu vermeiden und jedes Element von Protest aus dem Protestantismus heraus zu halten, lässt sie sich auf eine verharmloste entpolitisierte, individuell-religiöse Verkündigung beschränken“ (ebd.).
Ausgehend von diesen Positionen hat Dorothee Sölle das Element des Protestes im Protestantismus neu zu beleben versucht. Sie war Avantgarde und Fanal, Symbol- und Identifikationsfigur, sie war eine aufgeklärte und darum politische und kämpferische Frau. Sie hat für das Politische Nachtgebet ebenso gestanden wie für die Blockadeaktionen vor Militärstützpunkten. Sie hat Wegzeichen der Hoffnung gesetzt für alle, die aufbrechen wollten in das gelobte Land der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit und die sich dabei oft genug in der Wüste wiederfanden. Sie hat die Befreiungsversuche und Emanzipationsprozesse einer unruhigen Generation im Aufbruch in ihrer Widersprüchlichkeit begleitet und dem Widerstand gegen die Strukturen der Gewalt eine spirituelle Dimension verliehen, die über die Erfolge und Niederlagen des Tages hinausreicht. Sie hat in einer Sprache geredet und geschrieben, die die biblischen Texte als Zeugnisse der Befreiung erkennbar werden ließ.
Das politische Nachtgebet, das 1968 zum ersten Mal stattfand, öffnete die Kirche wieder für Menschen, die sich einbringen wollten in die politischen und sozialen Fragen ihrer Zeit, die eine neue öffentliche Diskussion und Kultur forderten, die gegen die vielfachen Erfahrungen von Gewalt eine Vision von Frieden und Gerechtigkeit entwickeln wollten. Die etablierten Kirchenleitungen verschlossen ihnen damals die Türen, doch die neue reformatorische Bewegung ließ sich nicht aufhalten. Denn diesmal ging es nicht um eine konfessionelle Auseinandersetzung, sondern um eine ökumenische Basisbewegung einer Kirche von unten gegen die Kirche von oben in beiden Konfessionen. So sagt es Dorothee Sölle am Ende ihres Reformationsvortrags programmatisch: „Eine Kirche der Armut, eine Kirche des politischen Engagements – das ist ein Leitbild, das die konfessionellen Gremien hinter sich lässt […]. Die Hierarchien sind sich weithin einig gegen diese antiautoritäre Bewegung der Christen in beiden Lagern“ (ebd.).
Dass sich die kirchliche Basis gegen die Hierarchie stellen darf und muss, wenn sie nur so das Evangelium von Christus wieder zur Geltung bringen kann, ist gutes reformatorisches Erbe. Dass sie allerdings auch politisches Engagement im Sinne einer befreiungstheologischen Perspektive wahrnehmen sollte, geht über die traditionelle lutherische Zwei-Reiche-Lehre deutlich hinaus. Dass die reformatorische Freiheit auch Freiheit von Gewalt und Ausbeutung bedeuten müsse, wurde allzu bald und allzu lange zugunsten einer individualistisch gedeuteten Rechtfertigungslehre vergessen.
Deutlich wird dies für Dorothee Sölle an der Entpolitisierung der Gestalt Jesu und seines Todes. Mit Luther stellt sie die das Kreuz Jesu in den Mittelpunkt des Glaubens, will die Passion Jesu aber nicht trennen von seinem Leben und Wirken. Für Sölle ist das Leiden Jesu die Konsequenz seiner herrschaftskritischen Praxis, nicht das von Gott gewollte Sühneopfer. Jesus ist nicht der alleinige Erlöser, sondern ist umgeben von Brüdern und Schwestern, sein Tod ist nicht das blutige Sühneopfer, mit dem die Vergebung der Sünden erkauft wird. Dorothee Sölle erteilt der Sühneopfertheologie eine deutliche Absage. Sie degradiert die Menschen zu passiven Empfängern, die sich nicht verändern müssen: „Davon stimmt wirklich nichts, das ist auch nicht das Interesse Jesu. Das Interesse Jesu ist, dass wir mit ihm zusammen seinen Weg gehen.“ Der gewaltsame Tod Jesu ist nicht zu trennen von seinem Leben und Handeln, er ist die Konsequenz seines Weges, der in den Widerstand gegen eine Welt der Gewalt geführt hat. Ihm auf diesem Weg zu folgen heißt, die Perspektive der Opfer einzunehmen, in den Opfern der Gewaltgeschichte den Gekreuzigten selber wahrzunehmen: „Jesus wird in der Todesqual sein bis zum Ende der Welt“, sagt sie mit Blaise Pascal. „Die radikale Passion für die Gerechtigkeit, die Parteinahme für die Enterbten, führt in die Passion des Leidensweges“ – wer Jesus auf diesem Weg folgen will, wird selbst in den Widerstand geführt, der Leidenschaft und Leidensbereitschaft voraussetzt (Wind 2013: 22)
Hier geht Dorothee Sölle kritisch über die von Martin Luther angestoßenen reformatorischen Impulse hinaus, um die vielfältigen, in der Geschichte oftmals unterdrückten Traditionen des „linken Flügels“ der Reformation wieder aufzunehmen: die sozialrevolutionäre Praxis Thomas Müntzers, die radikale Friedensethik der Quäker, den konfessionsübergreifenden mystischen Protest, das „Nein zur Welt wie sie jetzt ist“. In oft provozierender und radikaler Weise hat Dorothee Sölle den Versuch unternommen, alle diese Strömungen in die Spiritualität und Praxis einer „neuen Reformation“ einzubringen, die sich nicht mehr an Konfessionen festmachen lässt, sondern an einem gemeinsamen, ökumenischen Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. So wird sie am Ende ihres Reformationsvortrags sagen: „Eine Reformation, die nicht von allen Christen gemeinsam getragen wird, ist undenkbar.“