Elisabeth Cruciger

Die erste Liederdichterin der evangelischen Kirche – ihr Lied wird heute noch gesungen!
Die erste Liederdichterin der ev. Kirche Elisabeth Schneider-Böklen
Lebensdaten
von ca. 1500 - bis 1535
Unter weiteren Namen bekannt als:
Elisabeth von Meseritz
Herrn __ Doctor Cas=__par Creutzigers ausle=__gung vber Sanct Pau=__lus spruch z.pdf
Beziehungen

Elisabeth von Meseritz entstammte vermutlich einem pommerschen Adelsgeschlecht, das auf dem Gut Meseritz (heute: Dorf Międzyrzecze) bei Schievelbein (heute: Swidwin) in Pommern saß. Jung kam sie in das Prämonstratenserinnenkloster Marienbusch bei Treptow an der Rega (heute: Trzebiatów). Das Leben als Klosterschwester bedeutete, eingebunden zu sein in ein enges Beziehungsgeflecht mit anderen Mädchen und Frauen, vermutlich die meisten ebenfalls aus einer adligen Familie stammend. Daneben hieß Klosterleben auch für die Mädchen und Frauen, Latein sowie vielfältiges biblisches und kirchliches Wissen lernen zu können. Denn das gemeinsame Singen und Beten (auf Lateinisch) bei Gottesdiensten und den täglichen Stundengebeten vermittelte dies ganz selbstverständlich. Wenn sie in ihrem Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (s.u.) so gekonnt Wendungen aus dem großen Glaubensbekenntnis wie aus der Bibel (und auch der Frauenmystik) verwendet, so hat dies seinen Ursprung in ihrer Zeit als Nonne. Elisabeth von Meseritz hatte aber auch Beziehungen außerhalb der Klostermauern: als Johannes Bugenhagen in das nahegelegene Kloster Belbuck als Lehrer kommt und angeregt durch Martin Luthers Theologie die Bibel im evangelischen Sinne auslegt, lässt sich Elisabeth von Meseritz davon überzeugen. Sie verlässt das Kloster und folgt 1523 Bugenhagen nach Wittenberg, wo dieser inzwischen zum Theologiestudium gezogen war und auch geheiratet hatte. Elisabeth Cruciger lebte dann im Haushalt Bugenhagens bis zu ihrer Heirat mit Caspar Cruciger, dem Mitarbeiter und Schüler Martin Luthers. Dass die Heirat eines Theologen mit einer Nonne nichts Selbstverständliches war, beweist ein Briefzitat über Caspar Cruciger, „der kürzlich eine Nonne geheiratet hat, was manchem missfällt; doch tut Kaspar nichts Unüberlegtes“. Immerhin war die neue soziale Rolle der Pfarrfrau überhaupt noch nicht festgelegt. Elisabeth Cruciger hat wohl an den regen theologischen Gesprächen in den Familien der Reformatoren manchmal teilgenommen, wie ihre Erwähnung in den Tischreden Martin Luthers zeigt. Dort spricht der Reformator sie mit „Liebe Els“ an. Zu Katharina von Bora, der Frau Martin Luthers, hatte sie besonders Kontakt: Luther erwähnt in einem Brief von 1532 an Caspar Cruciger den Austausch von Schmuckgeschenken der beiden Frauen. In dem damals kleinen Wittenberg war durch die reformatorische Bewegung unter den Theologen und ihren Frauen (vielleicht auch Familien) ein ganz enges Beziehungsgeflecht entstanden, mit viel gegenseitigem Austausch, Reden und Diskussion, Essen und Trinken, Briefe schreiben, wohl auch gegenseitiger Hilfe. Ich denke, dass schon beim Einkaufen auf dem Markt vieles beredet und „vernetzt“ wurde – dass hauptsächlich Martin Luthers Reden und Aussprüche aufgeschrieben und gedruckt wurden, heißt nicht, dass die Ehefrauen wie Elisabeth Cruciger in diesem Beziehungsgeflecht stumm und ohne eigene Ausdrucksmöglichkeiten gewesen wären (siehe dazu die Ausführungen unter „Wirkungsbereich“ und „Reformatorische Impulse“).

Elisabeth Cruciger gebar zwei Kinder: Caspar, genannt der Jüngere, der als Theologe Melanchthons Nachfolger wurde und später zur reformierten Kirche übertrat, und Elisabeth, die zuerst den Rektor Kegel in Eisleben heiratete und nach dessen Tod Luthers Sohn Johannes. Bemerkenswert ist dabei, nach evangelischem Verständnis, „auch das Kindergebären ein Gottesdienst ist“, wie ihr Mann später 1538 in einer theologischen Schrift über die Ehefrauen schreibt. Diese theologische Schrift, die den Titel trägt „Herrn || Doctor Cas=||par Creutzigers ausle=||gung/ vber Sanct Pau=||lus spruch zum Thimotheo/|| wie die Eheweiber selig || werden/ nicht allein allen || Eheweibern/ sondern || auch allen Christen || seer nuetzlich vñ trœst||lich durch M. || Georgium Spalati=||num verdeudscht.||“, kann im Original unten als Download eingesehen werden. Übrigens: Cruciger-Nachfahren gibt es immer noch!

Elisabeth Cruciger starb am 2. Mai 1535 in Wittenberg; ihr Mann muss darüber sehr traurig und verzweifelt gewesen sein – Melanchthon berichtet in einem Brief :“[…] Cruciger nahm Sebaldus als Begleiter mit, damit er seine Trauer aufhebe, denn Cruciger hat die Gattin verloren.“

Ein alter Biograph schreibt über ihren Tod: „[Sie ging] in den unveränderlichen Genuß ihres guten Christenthums ein“.

Weder ist ein sicheres Bild von ihr vorhanden, noch wissen wir, wo ihr Grab liegt oder lag; manche vermuten, dass Elisabeth Cruciger unter den Predigthörerinnen des Reformationsaltars von Lukas Cranach in der Stadtkirche St. Marien dargestellt sei. Einzig an der Stelle, wo die Familie in Wittenberg in der Collegienstraße 81 wohnte, ist eine Gedenktafel angebracht.

Wirkungsbereich

Von Elisabeth Cruciger ist wenig auf uns gekommen bzw. die Kirchengeschichtsforschung hat sie zwar nicht vergessen (dank ihres Liedes), aber ihr Lebenslauf fand fast bis zum Aufkommen der Frauenforschung Ende des 20. Jahrhundert keine Beachtung. Gleichwohl hatte Elisabeth dank ihrer Kenntnisse – Lesen, Schreiben, Latein und Theologie – aus der Klosterzeit wie auch ihres Beziehungsnetzes in Wittenberg mehr Wirkungschancen über die Familie hinaus als andere Frauen ihrer Generation:

1. So ist der auf uns gekommene Brief von ihr (1524) an den „getauften Juden Joachim in Stettin“ erhalten bzw. Joachim zitiert in seinem Brief den ihrigen.

2. Ihr Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (EG 67): Von diesem Lied sagt Magister Cyriakus Spangenberg eine Generation später (1571): „Hie haben wir einen sehr schönen Geistreichen Betpsalm, den jr billich eure Kindlein und Gesinde sollet lernen / und offt singen lassen […]. Und hat diesen Psalm ein recht fromb Gottfürchtiges Weib gemacht / Elisabeth Creutzigerin geheissen […] und hat dem Doctor martino so wol gefallen / dass er jn selbst hat in sein Gesangbüchlein zu setzen befohlen …“. (Damit ist wohl das Wittenberger Gesangbuch von 1524 gemeint, wie auch die Erfurter Enchiridien aus dem gleichen Jahr.)

Ihr Lied wurde und wird durch alle Jahrhunderte bis heute gesungen. Johann Sebastian Bach komponierte dazu in Leipzig 200 Jahre später eine Kantate:  „Herr Christ, der einge Gottessohn“ (BWV 96), in welcher er den ersten und letzten Vers des Liedes verwendete. Heute steht es im Evangelischen Gesangbuch unter Nr. 67 und wird (mindestens) in den meisten Gemeinden als Wochenlied am letzten Sonntag nach Epiphanias gesungen – zudem ist es auch in anderen Sprachen bekannt und wird gesungen. Eine sehr schöne Aufnahme des 1. Chorus „Herr Christ, der einge Gottessohn“ ist bei youtube zu finden (siehe dazu das eingestellte youtube-Video).

Reformatorische Impulse

Obwohl so wenig Quellen überliefert sind, geht doch von dem tiefgründigen Lied Elisabeth Crucigers bis heute ein Impuls des (evangelischen) Glaubens aus. Deshalb will ich hier dieses Lied genauer betrachten:

Hier der Text (ursprünglich könnte er auch in niederdeutsch gedichtet sein, dann ergeben die Anfangsbuchstaben der fünf Verse den Namen „Hulda“!)

1. Herr Christ, der einig Gotts Sohn

            Vaters in Ewigkeit,

            aus seim Herzen entsprossen,

            gleichwie geschrieben steht,

            er ist der Morgensterne,

            sein Glänzen streckt er ferne

            vor andern Sternen klar;

2.         für uns ein Mensch geboren

            im letzten Teil der Zeit,

            daß wir nicht wärn verloren

            vor Gott in Ewigkeit,

            den Tod für uns zerbrochen,

            den Himmel aufgeschlossen,

            das Leben wiederbracht:

3.         laß uns in deiner Liebe

            und Kenntnis nehmen zu,

            daß wir am Glauben bleiben,

            dir dienen im Geist so,

            daß wir hie mögen schmecken

            dein Süßigkeit im Herzen

            und dürsten stets nach dir

4.         Du Schöpfer aller Dinge,

            du väterliche Kraft,

            regierst von End zu Ende

            kräftig aus eigner Macht.

            Das Herz uns zu dir wende

            und kehr ab unsre Sinne,

            daß sie nicht irrn von dir.

5.         Ertöt uns durch dein Güte,

            erweck uns durch dein Gnad,

            den alten Menschen kränke*

 

            daß der neu‘ leben mag

            und hie auf dieser Erden

            den Sinn und alls Begehren

            und G‘danken hab zu dir.

 

            * schwäche, gib in den Tod

 

Elisabeth Cruciger verbindet in einer einmaligen Art a.) biblisches Zeugnis, b.) altkirchliche theologische Tradition, c.) mittelalterliche (Frauen-)Mystik und d.) evangelische Lehre.

Zu a.): Biblisches Zeugnis ist in jedem Vers zu lesen: als Beispiel erwähne ich nur: der Sohn aus dem Herzen (Schoß) des Vaters nach Joh 1,18; Jesus der Morgenstern (Offb 22,16) oder der Anklang an Psalm 119,36f. „Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen“ in Vers 4.

Zu b.): Altkirchlich ist die Vorlage des Liedes: der Hymnus „Corde natus ex parentis“ („Geboren aus dem Herzen des Vaters“) des Prudentius aus dem 4. Jahrhundert, aber altkirchlich ist auch die Aufnahme der heilsgeschichtlichen Aussagen im 2. Artikel des nizänischen Glaubensbekenntnisses: Vers 1 unseres Liedes entspricht etwa dem Satz: „[Ich glaube] an einen einigen Herrn Jesus Christus, Gottes einigen Sohn, der vom Vater geboren ist vor der ganzen Welt, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht geschaffen“. Da dieses nizänische Glaubensbekenntnis uns heute noch mit der orthodoxen (sowie der katholischen) Kirche verbindet, ist es m.E. sinnvoll, auf solche altkirchlichen Traditionen des Glaubens hinzuweisen – noch dazu, wenn sie von einer Frau in singbare Dichtung gewissermaßen „gegossen“ wurden und heute noch einen echten „Sitz im Leben“ in unseren Gemeinden haben!

Interessant ist auch, dass Elisabeth Cruciger eigentlich im 2. Vers dichtete: „[…] der Mutter unverloren ihr jungfräulich Keuschheit“ (Zeile 3 und 4); auch dieser Vers wurzelt im Nicänum, wo es heißt: „welcher […] leibhaftig worden durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria“. Wann diese klare Aussage als ärgerlich empfunden wurde, konnte ich nicht herausbringen; vermutlich waren sowohl Abwehr der katholischen Marienverehrung wie auch die Entwicklung weg vom Körperlichen in den folgenden Jahrhunderten ein Grund dafür.

Zu c.): Die mittelalterliche (Frauen-)Mystik ist eine weitere Quelle, aus der Elisabeth Cruciger schöpft; vermutlich lebte sie seit ihrer Klosterzeit in dieser Spiritualität. Wenn der Strom dieser Innigkeit der Gotteserfahrung mit seinen tiefsinnigen Bildern auch in der Reformationszeit etwas zurückgedrängt war, so ist er auch aus protestantischer Glaubenspraxis nie ganz verschwunden, floss eher wie eine unterirdische Quellader weiter und tauchte immer wieder als ein notwendiges Element hervor. Die Sprache der Mystik benutzt Elisabeth Cruciger in ihrem Lied z.B. im 3. Vers: Das „Schmecken“ der „Süßigkeit“ Gottes, das „Dürsten“ nach ihm, – neben der biblischen Wurzel wie in Psalm 34,9 –, das „gehört seit Augustin und Bernhard (von Clairvaux) zu den kennzeichnendsten Bildern der Mystik“. Was ist damit gemeint? Schmecken, Durst haben, Genießen mit allen Sinnen – das sind allgemein menschliche Erfahrungen, die als Ausdrucksmittel für eine geistliche Erfahrung stehen, welche eigentlich unbeschreibbar ist. Trotzdem ist auch die Erfahrung der Nähe Gottes ein so packendes Ereignis, dass unsere menschlichen Gefühle und Sinne davon ergriffen werden – das kann so stark sein, dass Elisabeth Cruciger sagen kann: „ertöt uns durch dein Güte, erweck uns durch dein Gnad“; auch hier nimmt sie wohl den Gedanken an den „mystischen Tod“ auf und die Erfahrung der geistlichen Wiedergeburt.

Zu d.): Die „neue“, evangelische Lehre: Ist es schon ein deutliches Zeichen für die „neue“ Lehre, dass Elisabeth Cruciger dichten kann „gleichwie geschrieben steht“, also die Bibel als Grundlage ihres Glaubens ansieht, so steht Vater, Sohn und Geist im Mittelpunkt ihres Liedes – wie auch die unmittelbare Beziehung zu Gott. Die Kirche spielt nur indirekt eine Rolle, indem die Dichterin im letzten Vers Bezug auf die heilige Taufe nimmt: abgesehen von den biblischen Anklängen über den alten und neuen Menschen steht hier Martin Luthers Erklärung der Taufe im Katechismus (Viertes Hauptstück) im Hintergrund: „[Solch Wassertaufen] bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben […] und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch“ – Elisabeth Cruciger hat die Einflüsse der Bibel, der Tradition und der neuen reformatorischen Erkenntnisse bewusst aufgenommen, organisch und selbständig verarbeitet und daraus ein „von Lehre und Verstand sehr geistreiches Lied“ gedichtet.

Auch der erhaltene Text ihres Briefes an den getauften Juden Joachim zeigt, wie sie ihren eigenen Glauben ausdrücken und vermitteln konnte. In diesem Brief schreibt sie: „Darum tröste dich, lieber Bruder, sieh, die ich auch eine Mitleiderin bin deiner selbständigen Krankheit, sieh, ich habe Gott ermahnet durch sanftmütiges Bitten vor Seinen göttlichen Augen, sieh, ich wünsche dir und gebe dir durch Seine Kraft uns mitgeteilt Gnade und Friede, und dasselbige nicht von dieser Welt, sondern vom Vater, welcher Gott ist, und solches durch den Herrn Christum, nicht durch einen Engel oder Mose.

Ei, lieber Bruder, sei zufrieden, hab ein Gemüt (= Mut?), denn, der das gute Werk und die Seligkeit in uns angehoben (= angefangen) hat, wirds ohne Zweifel vollbringen; er wird selbst vor uns stehen und bedecken unsere Ungerechtigkeit, daß wir von keinem mögen werden angeklagt. Dessen freue dich und tröste dich, mein lieber Bruder, denn desselben erfreue und tröste ich mich auch. Darauf empfange dies mein Schreiben zu dir und laß dirs ein Trost sein.“ Hier wird bei Elisabeth Cruciger etwas vom Gedanken des „Priestertums aller Gläubigen“ sichtbar: sie vermag mit recht persönlichen Worten Joachim zu trösten und im Glauben an Christus (ohne „Engel und Mose“) zu stärken, traut ihrem eigenen Gebet für ihn viel zu („ich habe Gott ermahnet durch sanftmütiges Bitten“), aber erliegt nicht der Versuchung mancher Pfarr-Herren damals und heute, von der Höhe ihres Glaubens- und Wissensstandes herunter auf das Opfer ihrer Bemühungen herunterzuschauen – sie prägt vielmehr den Ausdruck: „ich bin eine Mitleiderin“ und stellt sich ganz neben Joachim in seinen seelischen Schwierigkeiten.

Kommentar

Elisabeth Crucigers katholisch-evangelischer Lebensweg zeigt mir, dass die Reformation nicht urplötzlich „aus dem Himmel fiel“ (wiewohl wir sie auch als von Gott geschickte Entwicklung begreifen). Ohne die theologische Bildung und Ausbildung im Frauenkloster Marienbusch hätte Elisabeth Cruciger sicher nicht ihr tiefgründiges Christuslied schreiben können. Andererseits verhalfen die reformatorische Gedankenwelt und der erneuerte Gottesdienst mit viel deutschem Gemeindegesang dazu, dass ihr Lied gesungen und über 500 Jahre hinweg von Gesangbuch zu Gesangbuch weiterüberliefert wurde. Es wäre schön, wenn die Reformationsdekade anderen Forscher und Forscherinnen Lust machte, den Lebensweg von Elisabeth Cruciger, einer „Mutter des Glaubens und der Reformation“ noch eingehender zu erforschen!