1. Selbstbewusste Adlige mit pietistischen Wurzeln
Erdmuthe Dorothea war eine Fürstentochter und stammte aus dem von der pietistischen Erweckung geprägten Elternhaus Reuß-Ebersdorf in Thüringen. In der Schloss-Ekklesiola von Ebersdorf versammelte sich die gräfliche Familie als die regierende Herrschaft zusammen mit den erweckten Hausangestellten und anderen Bediensteten zu regelmäßigen Andachten, Bibelstunden und Gebetsgemeinschaften. Hier hatte ihr späterer Ehemann Nikolaus Graf von Zinzendorf unmittelbar vor ihrem Eheschluss wesentliche geistliche Impulse empfangen, die er später zusammen mit ihr in der Herrnhuter Brüdergemeine praktisch verwirklichte. Als Reichsgräfin war Erdmuthe das ständische Repräsentieren gewohnt. Schon von ihrer gesellschaftlichen Stellung her brachte sie die Voraussetzungen mit, verantwortlich mitzudenken und mitzusprechen. Dazu kam, dass sie als junges Mädchen ihrer Mutter „in den Haushaltungen assistierte“ (Jannasch: 30), die als Witwe die Regentschaft der Reichsgrafschaft Reuß-Ebersdorf für ihren noch unmündigen Sohn übernommen hatte.
2. Streiterehe mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf
Erdmuthe und Nikolaus von Zinzendorf heirateten im September 1722. Es ist viel über die Ehe von Erdmuthe und Nikolaus von Zinzendorf gemunkelt und geschrieben worden. Sie führten jedenfalls keine bürgerliche Ehe. Man sollte sich überhaupt hüten, ein anderes Jahrhundert mit der Elle unserer Vorstellungen zu messen. Das Grafenpaar war und blieb bei aller Nähe zu den Gemeindegliedern vom Lebensgefühl des Adels geprägt. Eher lässt sich umgekehrt eine Demokratisierung aristokratischer Lebensformen in der Brüdergemeine beobachten.
Im Ehekontrakt wurde festgelegt, dass der Graf und die Gräfin eine „Streiterehe“ führen wollten. Neben herkömmlichen Regelungen von Vermögensfragen, enthielt der Kontrakt die Verpflichtung, der Arbeit für das Reich Gottes einen höheren Stellenwert als dem Familienleben einzuräumen. Erdmuthe hat diese Verpflichtung voll bejaht. Selbstverständlich haben die Eltern – wie das bei Adligen damals üblich war – ihre Kinder nicht selber erzogen. Es gab immer Hausangestellte, denen diese Aufgabe übertragen wurde. Trotzdem nahmen die Eltern regen Anteil am Schicksal der Kinder. Erdmuthe wurde häufig Mutter, aber nur vier Kinder erreichten das Erwachsenenalter. Als der älteste Sohn Christian Renatus 1752 im Alter von nur 25 Jahren starb, erholte sich die Gräfin von diesem Schmerz nicht mehr.
Schon dass beide Ehepartner sich treu blieben, war in der Welt des Hochadels im 18. Jahrhundert bemerkenswert. Man denke nur an das Mätressenwesen am Hofe Ludwig XIV. in Versailles oder gar des sächsischen Landesherrn August des Starken in Dresden.
1. Mitverantwortung beim Aufbau Herrnhuts und der Brüdergemeine
Die Gräfin wurde in den ersten Jahrzehnten der Brüdermeine zur wichtigsten Mitarbeiterin Zinzendorfs. Es scheint Erdmuthe nicht leicht gefallen zu sein, ihre mehr individuell geprägte Frömmigkeit zugunsten des gemeinsamen Lebens in Herrnhut aufzugeben. Sie hat wohl auch Schwierigkeiten gehabt, sich mit Nichtadligen „gemein“ zu machen. In Herrnhut redete man sich bald mit dem brüderlichen und schwesterlichen Du an. Zinzendorf hat sich in sehr einfühlsamer Weise darum bemüht, Erdmuthe auf die neue Situation vorzubereiten. Später wurden seine Vorschläge im Hinblick auf eine einfachere Lebensgestaltung sehr konkret: „Du kannst Dich auf Hennersdorf und Dresden … anziehen, wie Du willst. Nur in Herrnhut recht schlicht, ohne Reifrock …, den Armen ähnlicher … Aber zwinge Dich eben zu nichts, sondern fange … an, eine Magd zu werden von ganzem Herzen mit den Schwestern …, wie ich mit den Brüdern“ (zitiert nach Beyreuther: 106).
1732 war Erdmuthe nach dem Kauf der Güter ihres Mannes Ortsherrschaft und damit regierende Obrigkeit von Herrnhut und Berthelsdorf geworden, dem Ursprungsort der Zinzendorfschen Güter (vgl. Wollstadt: 213). Sie war auch für die niedere Gerichtsbarkeit in diesen Orten zuständig. Die Gräfin hat im frühen Herrnhut also wesentliche öffentliche Funktionen ausgeübt. Vor allem aber war sie zwei Jahrzehnte lang für die Finanzverwaltung der expandierenden Brüdergemeine verantwortlich. Als Zinzendorf 1736 ins Exil gehen musste, hat sie als Ortsherrschaft von Herrnhut und Berthelsdorf der Gemeine die wirtschaftliche Basis erhalten – andernfalls wären die Güter vom sächsischen Staat eingezogen worden. In dieser Zeit wirtschaftete Erdmuthe notgedrungen völlig selbständig. Der Höhepunkt ihres Wirkens lag während der Reise des Grafen nach Nordamerika von 1741 bis 1743. Erdmuthe war in dieser Zeit Zinzendorfs Vertreterin und hatte eine Art Generaldirektorat inne (vgl. Jannasch: 201). Sie trug damals nicht nur die Hauptverantwortung für die Finanzen der Brüdergemeine, sondern war auch mit wichtigen Verhandlungen im Zusammenhang mit dem weiteren Weg der Brüdergemeine betraut.
Nach Zinzendorfs Rückkehr ist sie allerdings merklich in den Hintergrund getreten. Dazu trugen neben dem stress- und altersbedingten Abnehmen ihrer Kräfte anscheinend auch Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Mann bei. Zinzendorf hatte sich immer gegen eine Entwicklung der Brüdergemeine zur Freikirche gewehrt. Das primäre Wirkungsfeld der Gemeine sollte innerhalb der evangelischen Landeskirchen sein. Während seiner Abwesenheit in Amerika aber hatte die „Generalkonferenz“ unter dem Vorsitz Erdmuthes mit verschiedenen Staaten – vor allem mit Preußen – Verträge abgeschlossen, die außerhalb Sachsens eine unumkehrbare Entwicklung zur Freikirche einleiteten. Der Graf sah durch die eigene Frau sein Lebenswerk bedroht und hat außerordentlich heftig reagiert und nach seiner Rückkehr als erstes die Generalkonferenz aufgelöst.
Auch wenn Erdmuthe sich in den letzten Jahren immer mehr aus ihren öffentlichen Ämtern zurückzog, blieb sie doch bis zu ihrem Tod 1756 in Herrnhut eine wichtige Seelsorgerin für viele Gemeindeglieder. Zinzendorfs letzte erhaltene Würdigung seiner Frau entstand zwei Tage nach Erdmuthes Tod. Sie gibt etwas vom Charakter ihrer Ehe als Partnerschaft wieder: „Ich war von Herzen ihr erster Untertan, davon hat sie täglich Proben gehabt. Ich habe in Polizei-, Finanz- und Ökonomischen Sachen nie etwas getan, wogegen sie einen Dissensum [andere Meinung] geäußert, und in Regimentssachen habe ich mich so nicht gemengt. Ein ordinairer [gewöhnlicher] Mann ist des Weibes Haupt, sobald sie aber einen aparten Charakter und Sache für sich selbst auf sich hat, so muß sie solche selbst verantworten. Das ist mein Prinzip. In der Welt denkt man freilich anders. Ich habe es meiner Gräfin seit 25 Jahren gesagt, daß sie der Gemeine Mutter und Fürstin wird“ (zitiert nach Hahn/Reichel: 32f.).
2. Einfluss auf das Frauenbild ihres Ehemannes
Vielleicht hat sich Zinzendorf manchmal eine weniger eigenständige Frau als Erdmuthe gewünscht.Sein Frauenbild und seine Sicht auf die Ehe als eine Gemeinschaft Gleichberechtigter dürfte nicht zuletzt durch das selbstbewusste und verantwortliche Auftreten Erdmuthes inspiriert gewesen sein. In seinen „Ehechor-Reden“, Reden vor der Versammlung der Ehepaare der Brüdergemeine, vertrat er ein Eheideal, bei dem die Frau dem Mann eher wie eine Tochter gegenübersteht. Erdmuthe war viel zu selbständig, um in diese Vorstellung zu passen. August Gottlieb Spangenberg, der Nachfolger Zinzendorfs, schrieb über ihr Verhältnis: „Man kann es bei manchen Ehen als eine Schönheit ansehen, wenn der Mann soviel vorzügliches vor seiner Frau hat, dass sie sich, ohne über den Dingen selbst viel zu denken, von ihm so kann leiten und führen lassen, als ob er ihr Vater wäre. So war es aber nicht mit unserm Grafen und seiner Gemahlin. Sie war nicht dazu gemacht, eine Kopie zu sein, sondern war ein Original; und ob sie gleich ihren Gemahl von Herzen liebte und ehrte, so dachte sie doch selbst über allen Dingen mit so viel Verstand, dass er sie in dem Teil mehr als Schwester und Freundin anzusehen hatte. Er tat es wirklich, und das war auch eine Schönheit von einer andern Art.“ (Spangenberg: 2068). Erdmuthe hätte mit einer anderen Einstellung auch nie die Aufgaben in der Brüdergemeine erfüllen können, die sie kirchengeschichtlich bedeutsam werden ließen.
Tatsächlich kam es in der Brüdergemeine nicht zuletzt aufgrund des Vorbilds des Grafenpaares zu einer Demokratisierung aristokratischer Lebensformen und in deren Gefolge zu einer gesellschaftlichen und kirchlichen Gleichstellung der Frau. Das belegt das folgende Zitat Zinzendorfs: „Bei Leuten, die Schüler der Gnade sind, ist der Mann das Haupt der Familie auf eine ganz besondere Art, und seine Frau ist seine Mitgenossin und Mitgehilfin. Das ist eine Sozietät, wie sie zwischen einem König und einer Königin ist, zwischen einem Fürsten und einer Fürstin, da die Frau zwar die oberste und vornehmste Untertanin des Mannes ist und also sowohl als der Sohn und der Knecht untertan, aber in einem ganz anderen Grad, in einer ganz anderen Consideration [= Sinne], so daß, wenn sie nicht widerspenstig, dem Manne nicht entgegen ist, in ihrem Gemüt ihm nicht abgeneigt ist, so kommt der Casus [= Fall] der Untertänigkeit, daß man von ihr ein Homagium [= Unterwerfung] fordert, im ganzen Leben nicht vor, und wenn er ja einmal vorkommt, so ist es zu einer Stunde, da man aus Bitterkeit und Verdruß anfängt, vom Recht zu reden“ (Rede vom 14.11.1745, zit. nach Uttendörfer: 42f.). Deutlich spürt man hinter diesen Sätzen Zinzendorfs aristokratisches Lebensgefühl. Sie sind vor allem jedoch eine eindrückliche Belegstelle dafür, dass es in der Brüdergemeine zu einer im Vergleich zur Umwelt revolutionären Neuinterpretation von bis dahin als christlich hingenommenen Grundüberzeugungen im Hinblick auf das Verhältnis von Mann und Frau gekommen ist.
3. Dichterin
Nur kurz möchte ich erwähnen, dass Erdmuthe auch Dichterin war. Eine Reihe ihrer Lieder werden bis heute in der Herrnhuter Brüdergemeine gerne gesungen. Ihr großes Thema war das gemeinsame Leben in der christlichen Gemeinde. Später trat mehr und mehr die lutherische Rechtfertigungslehre in den Vordergrund. So wurde sie zur Lobsängerin der Gnade Gottes. Ihr bekanntestes Lied dichtete sie am 26.5.1747. Die erste Strophe lautet:
„Wir gehen getrost an deiner Hand,
Herr Jesu, die uns führet.
Wir haben dich getreu erkannt
Und haben wohl gespüret,
dass, wenn du etwas auf uns legst,
gibst du auch Kraft zum Tragen,
und was du zuzumuten pflegst,
das ist getrost zu tragen.“
1. Frauenämter in der Gemeine – gelebtes Priestertum aller Getauften
Erdmuthes Wirken gedieh auf dem Boden einer zunehmenden Wertschätzung der Frauen als verantwortliche Mitarbeiterinnen in der Herrnhuter Brüdergemeine, vor allem in Hinblick auf Seelsorge und Bildung der Frauen. Das solus Christus und das sola scriptura der Reformation ermöglichten es, die Rolle der Frau neu zu bestimmen. Es lohnt sich, die reformatorischen Impulse der Herrnhuter Brüdergemeine und im Besonderen des Grafen an dieser Stelle unter die Lupe zu nehmen. Bilden sie doch den Kontext, in dem Ermuthe und die anderen Frauen wirksam werden konnten.
Zinzendorf begründet die religiöse Gleichberechtigung der Frau von Christus her: Die dem Menschen im Opfer Jesu geschenkte Vergebung beendet die religiöse Unterordnung der Frau unter den Mann. Der Graf versteht die Unterordnung als durch den Sündenfall hervorgerufene Strafe der Frau (vgl. Gen 3,16). Er hat beobachtet, dass Frauen im Judentum bereits vor Christi Geburt gelegentlich herausragende heilsgeschichtliche Aufgaben erfüllt haben (z.B. Lk 2,36-38). Aber erst durch die Geburt des Schöpfergottes Jesus Christus von einer Frau und durch seinen Versöhnungstod am Kreuz wurde der vom Sündenfall herrührende Ausschluss der Frau vom Priesterdienst aufgehoben (vgl. Zinzendorf: 88f.).
Der Graf verweist auch mit seiner Ansicht vom Mutteramt des Heiligen Geistes auf die besondere Rolle der Frau in der Gemeine. Dabei bemüht er sich, mit Hilfe des Mutterbegriffs biblische Aussagen zu veranschaulichen, die Gott auch weibliche Eigenschaften zuschreiben (vgl. bes. Jes 49,14ff.; 66,13; Joh 3, bes. 5f.). Er erkennt richtig, dass der christliche Vatergott für die Bibel kein „maskulines Prinzip“ ist (Schütz: 375). Folgerichtig redet er im Zusammenhang mit der Dreieinigkeit von Gottes Mütterlichkeit. In diesem Sinne entpatriarchalisiert der Graf den traditionellen christlichen Gottesbegriff. Zinzendorfs Erkenntnis des Mutteramtes des Heiligen Geistes ist einer der Gründe für die verantwortliche Mitarbeit der Frau im Leben der Brüdergemeine.
Bereits in der Frühzeit Herrnhuts bekamen die Frauen eine eigene Ämterordnung. Im Verlauf der Zeit ging die Frauenarbeit sogar ganz in weibliche Hände über. Nur Zinzendorf stellte eine Ausnahme dar, da er auch an Frauen Seelsorge übte. Es gab eine Fülle von Frauenämtern: das Amt der Ältestin, der Helferin, der Lehrerin, der Bandenhalterin, der Aufseherin, der Ermahnerin, der Dienerin, der Almosenpflegerin, der Krankenwärterin (Wollstadt: 211ff.). Allerdings verkündigten und lehrten Frauen nur unter Frauen: Man wollte die apostolische Ordnung, dass Frauen in der Gemeinde nicht lehren sollen (1. Tim 2,12), nicht durchbrechen. Aus heutiger Sicht scheint der Anspruch des Priestertums aller Gläubigen noch nicht vollends verwirklicht. Für damalige Verhältnisse war dies jedoch ein großer Schritt nach vorn.Zudem hatten Frauen von Anfang an Sitz und Stimme in den Gemeindeversammlungen, um die Belange der weiblichen Gemeindegruppen zu vertreten. Sie wirkten auch in den gemeindeleitenden Gremien mit. Ältestinnen- und Helferinnenamt waren die leitenden geistlich-priesterlichen Ämter unter den Schwestern. Hier spielte Erdmuthe eine entscheidende Rolle. Lehrerinnen waren verantwortlich für den Konfirmationsunterricht der Mädchen und für den Unterricht solcher Frauen, die neu in die Brüdergemeine aufgenommen werden sollten. Daneben unterrichteten sie auch die Schulmädchen im Lesen und Schreiben. Die Bandenhalterin war verantwortlich für eine seelsorgerlich geprägte Kleingruppe („Bande“) von Frauen, die sich meist wöchentlich traf. Aufseherinnen wachten darüber, dass die Gemeindeordnungen eingehalten wurden. Ermahnerinnen sollten Gemeindemitgliedern, die unangenehm aufgefallen waren, wieder zurechthelfen und zwar in der doppelten Bedeutung des griechischen Begriffs aus dem Neuen Testament parakaleo, das zugleich „zurechtweisen“ und „trösten“ heißt. Die Dienerinnen waren zuständig für die weiblichen Gäste und Neuankömmlinge in der Brüdergemeine.
Als die Brüdergemeine in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts kirchlich selbständig und damit außerhalb Sachsens Freikirche geworden war, traten die Frauen noch stärker hervor. Die Gemeine hatte eigene kirchliche Ämter bekommen und von der alten Brüderunität deren Ämterordnung übernommen. Nun gab es die dreifache Weihe zum Diakon, Presbyter und Bischof und als eine Art Vorstufe zum geistlichen Dienst, als eine Art Hilfsprediger-Status, die Annahme der Akoluthie (vgl. Uttendörfer: 29). Anlässlich einer Rede über die Einsetzung des Mutteramtes des Heiligen Geistes in der Brüdergemeine hat sich der Graf auch zu 1. Kor 14,34 „Die Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen“ geäußert: „Es ist bekannt, daß man in den meisten christlichen Religionen den Satz allgemein gemacht: Mulier taceat in ecclesia [= Die Frau schweige in der Gemeinde], ob’s gleich nicht einmal ausgemacht ist, daß der Apostel es von dem weiblichen Geschlecht gesagt habe. Er hat’s vielmehr nur zu einer Nation gesagt: Eure Weiber lasset schweigen unter der Gemeine. Der Kasus kann heutzutage noch vorkommen, aber keine Konsequenz auf eine andere Nation geben, zumalen wo sie nur gar zu taziturn [= schweigsam] sind. Unter den Quäkern geschieht es, daß ihre Weiber mehr reden als die Männer. Wenn ein Mann redt, so ist es sehr ordinarie [= gewöhnlich], und wenn ein Weib redt, so ist die ganze Intention drauf. Wir sind den anderen Religionen [= Konfessionen] nachgefolgt und haben’s Kind auch mit dem Bade ausgeschüttet, damit wir der unfertigen Händel mit anderen los würden. Der Satz ist aber falsch und wider die heilige Schrift […]. Seitdem die Schwestern nicht mehr reden auf der Ecke, wo sie zu reden haben, so ist ein Kleinod verloren gegangen und der weibliche Gang unter uns nicht mehr in dem Segen, den er vor diesem hatte. Es ist wunderlich, wenn der heilige Geist sagt: Eure Töchter sollen weissagen, daß wir sagen: Sie sollen nicht weissagen. Ein anderes ist: predigen, und die Männer lehren […]. Im Chor und Klassen sollten die Priesterinnen Gottes ihr Amt tun“ (zitiert nach Uttendörfer: 58f.).
Zinzendorf ging davon aus, dass die Frau in den neutestamentlichen Gemeinden nicht zum Schweigen verurteilt war: Sie durfte öffentlich zumindest beten und weissagen. Der Graf verstand darunter in der Nachfolge der Reformatoren die Wortverkündigung in Form der Predigt. Die Frau muss eigenverantwortlich mitarbeiten und mitreden können, wenn eine Gemeinde lebendig sein soll. Folgerichtig wurden 1758 insgesamt 14 Presbyterinnen oder Priesterinnen in der Brüdergemeine ordiniert. Ihr Wirkungsfeld war primär im Bereich der Frauenarbeit. Die Quellen lassen allerdings nicht erkennen, ob sie jemals selbständig das Abendmahl eingesetzt haben. Es sieht so aus, dass nicht Erdmuthe, sondern Zinzendorfs zweite Frau Anna Nitschmann die erste Pfarrerin der Brüdergemeine war.
Mit Ausnahme des Bischofsamtes waren sämtliche Ämter den Frauen zugänglich. Damit wurde ihnen eine Fülle von Betätigungsfeldern eröffnet, was damals gesellschaftlich und kirchlich etwas völlig Neues darstellte. Die Frau wurde endgültig von ihrer Beschränkung auf Haus und Familie befreit. Sie konnte ihre Gaben und Fähigkeiten im Dienst an der Gemeinschaft einbringen. Die besondere Struktur der Brüdergemeine machte dies möglich. Zum ersten Mal im Protestantismus wurde die urchristliche Stellung und Rolle der Frau entdeckt und diese Entdeckung im Gemeindeleben auch umgesetzt.
Die Neubestimmung der Geschlechterbeziehung und der Rolle der Frau wurde im Pietismus und hier vor allem im Herrnhutertum z.Zt. Zinzendorfs am weitesten vorangetrieben. Herausgefordert durch die besonderen Aufgaben in Ortsgemeinde, Evangelisation und Gemeinschaftspflege in vielen europäischen Ländern und in der Weltmission entdeckte man hier aufgrund der neutestamentlichen Aussagen die Bedeutung der Frau im Urchristentum wieder und setzte diese Erkenntnisse im eigenen Zusammenleben um. Erstmals in der Geschichte des Protestantismus wurde die Frau von ihrer Beschränkung auf Haus und Familie befreit und konnte ihre Gaben und Fähigkeiten im Gemeindeleben aktiv einbringen.
Die besondere Stellung von Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf musste bei der starken erzieherischen Wirkung, die Zinzendorfs Familie für die Brüdergemeine hatte, auf alle anderen zurückwirken. In der Brüdergemeine kam es aufgrund des Evangeliums zu einer Demokratisierung aristokratischer Lebensformen und in deren Gefolge zu einer gesellschaftlichen und kirchlichen Gleichstellung der Frau. Neben Erdmuthe entfaltete Anna Nitschmann eine ähnliche Wirkung. Die gräfliche Hofhaltung war eine geöffnete Familie, in der eine ständig wechselnde große Zahl von Mitgliedern der Gemeine mitarbeitete und mitlebte. Der Vorbildcharakter des Grafenpaares, der beiden führenden Erziehungspersönlichkeiten, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es war kein Wunder, dass die Frauen der Gemeine sich nach dem Vorbild der Gräfin zu richten versuchten. Die hohe kirchliche und gesellschaftliche Bewertung der Frau in der Brüdergemeine zeigt, welche umwälzenden Folgen der gelebte Glaube für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens haben kann. Eine kleine Schar von Menschen wurde zu einer schöpferischen Minderheit und entdeckte etwas von der Sprengkraft, die in den biblischen Aussagen über das Verhältnis von Männern und Frauen in Kirche und Gesellschaft steckt. Das geschah immerhin Jahrzehnte vor der Französischen Revolution angesichts einer weithin männlich dominierten Gesellschaft.