Gertrud Staewen

„Gott hat mich nun mal zu den Außenseitern gestellt“ (Staewen an Gollwitzer, 1941)
Zu den Außenseitern gestellt Ulrike Voigt
Lebensdaten
von 1894 - bis 1987
Unter weiteren Namen bekannt als:
Gertrud Ordemann
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Copyright Karl Barth-Archiv Basel, mit freundl. Genehmigung
Beziehungen

Gertrud Ordemann wurde am 18. Juli 1894 in Bremen als ältestes von drei Kindern des Bremer Getreide-Kaufmanns Johann Anton Ordemann (1867-1926) und seiner Gattin Hanna geb. Rohr (1869-1941), einer schweizerischen Pfarrerstochter, geboren. Johann Anton Ordemann war ein strenger, prinzipientreuer Vater, Gertrud fühlte sich durch seine Regeln und Verbote sehr eingeengt. Von klein auf nahm sie die Standes- und Rollenvorstellungen ihrer reichen Familie kritisch wahr und fühlte sich schuldig, weil sie in guten Verhältnissen aufwuchs, während andere arm waren. Ihre unkonventionelle Art führte immer wieder zu Spannungen vor allem mit dem Vater. Seine autoritäre Vatergestalt beeinflusste ihr Gottesbild jahrelang, heimlich nannte sie ihren Vater „Jehova“. Das Beste aus ihrer Kinderzeit war nach ihrer Einschätzung der Konfirmandenunterricht bei Gemeindepfarrer Groscurth, der den Konfirmanden anstelle von auswendig gelerntem Wissen die Liebe zu Jesus nahe brachte. Gertrud half im Kindergarten und beim Kindergottesdienst.

Nach dem Lyceum mit Realschulabschluss verbrachte Gertrud ein Jahr in der Schweiz bei Verwandten und ein Jahr in einer „Pension für höhere Töchter“ in Neuchâtel, um ihre französischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Einen Beruf zu ergreifen oder ein Studium zu beginnen kam zu ihrem Leidwesen nicht in Frage, denn als „höhere Tochter“ war sie für die Rolle der Ehe- und Hausfrau vorgesehen. Der junge Mann, in den sich Gertrud verliebte, war jedoch nicht standesgemäß, so dass der Vater jeden Kontakt, auch brieflich, verbot.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges half Gertrud in einem kirchlichen Kinderhort aus. Ihr Gemeindepfarrer Groscurth, der sie auch mit den sozialen Anliegen des Christentums vertraut gemacht hatte, erkannte die sozialpädagogische Begabung von Gertrud. Ihm gelang schließlich, was sie selbst nicht geschafft hatte: er konnte ihre Eltern überzeugen, ihre älteste Tochter eine Berufsausbildung machen zu lassen. So durfte sie am sozialpädagogischen Seminar „Jugendheim“ von Anna von Gierke in Berlin-Charlottenburg den Beruf einer Erzieherin/Fürsorgerin erlernen. Gertrud war begeistert von der Idee, das Proletariat durch soziale Fürsorge und Aufklärung aus dem Elend zu befreien. Sie bekam in Berlin Kontakt zur Sozialen Arbeitsgemeinschaft von Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze und lernte dort sozialistisches Gedankengut kennen. 1920 legte sie ihr Examen als Erzieherin ab und begann ein Praktikum in einem Kindertagesheim im Zentrum von Berlin.

Außerdem entstanden in dieser Zeit ihre Kontakte zur freidenkenden Jugendbewegung, sie lernte Leute aus der christlich-sozialistischen Neuwerk-Bewegung kennen und wurde zu einer leidenschaftlichen „Neuwerkerin“.

Im ersten Weltkrieg verlor die Familie Ordemann ihren Besitz. Schon bald nach dem Krieg erhielt Gertrud aus ihrer Heimatstadt Bremen das Angebot, ein sozialpädagogisches Seminar aufzubauen und junge Sozialarbeiterinnen auszubilden. Sie ging daraufhin mit einigen Berliner Mitarbeiterinnen nach Bremen zurück.

In diese Zeit, 1922, fiel die Bekanntschaft mit dem Theologen Karl Barth und seiner Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum, aus der eine lebenslange enge Freundschaft wurde.

 

(Zum Foto: Gertrud Staewen und Charlotte (Lollo) von Kirschbaum ca. 1938/1939; Copyright: Karl Barth-Archiv, Basel)

 Gertrud bezeichnete die Freundschaft mit Barth als die ausschlaggebende Begegnung ihres Lebens (siehe auch „Reformatorische Impulse“) und beschäftigte sich lebenslang intensiv mit Barths Theologie. Barth war und blieb für sie ein Wunder in Menschengestalt, ein Bote Gottes, der die Knoten ihres Lebens zu lösen verstand. Jedes Jahr bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verbrachte sie von nun an ihren Sommerurlaub auf dem „Bergli“ am Zürichsee, im Ferienhaus der wohlhabenden Schweizer Familie Pestalozzi, die sie auch immer wieder finanziell unterstützten. In der Runde mit Karl Barth, Charlotte von Kirschbaum und gleichgesinnten Freunden wurde bei theologischen Gesprächen immer wieder auch die weltpolitische Lage bedacht.

 

(Zum Foto: Theologische Gespräche auf dem „Bergli“, ca. 1934. Von links: Charlotte von Kirschbaum, Karl Barth,

Gertrud Staewen,der Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt; Copyright: Karl Barth-Archiv, Basel)

 1923 heiratete Gertrud Ordemann Werner Staewen, ihre Jugendliebe. 1924 wurde die Tochter Renate, 1926 der Sohn Christoph geboren. Die Ehe wurde nach wenigen Jahren wieder geschieden. Gertrud Staewen urteilte später, dass sie gar nicht hätten heiraten sollen – sie, ein Mitglied der sozialistisch-christlichen Jugendbewegung, die sich mit ihrem Beruf ein eigenes Leben aufgebaut hatte, und er, ein vom Krieg zutiefst verstörter Mann –, weil ihre geistigen Welten zu unterschiedlich geworden waren. Der zweite Grund für das Scheitern der Ehe war Gertruds Liebesbeziehung zu dem ebenfalls verheirateten Berliner Pfarrer Günter Dehn, mit dem sie zusammen in der Neuwerk-Bewegung (gewesen) war. Doch auch diese Beziehung brachte Staewen kein Glück, sie sprach später von schrecklichen Jahren. Ihr heftiges Temperament und ihre unbändige Willenskraft stießen Dehn letztlich zurück, er hielt an seiner Ehe fest. Darüber, dass ihre Tochter Renate 1948 den Sohn Dehns (Karl-Friedrich) heiratete, konnte sich Gertrud Staewen zuerst nicht wirklich freuen.

1926 trat Gertrud Staewen in die SPD ein. Um für sich und ihre Kinder nach der Scheidung Unterhalt zu verdienen, schrieb sie Zeitungsartikel und zwei Bücher im Stil der Sozialreportage („Menschen der Unordnung“, 1933; „Kameradin. Junge Frauen im deutschen Schicksal 1910–1930“, 1936). Beide Bücher wurden sofort nach dem Erscheinen verboten.

Ab 1937 arbeitete Gertrud im Verlagsbüro des Burckhardthaus-Verlages in Berlin-Dahlem. Freunde aus der Schweiz halfen ihr zusätzlich finanziell. 1933 begann unter dem Einfluss von Barths Theologie ihre intensivere Zuwendung zur Kirche, der sie als Institution eher kritisch gegenüberstand. Doch fühlte sie sich Menschen verbunden, die der Kirche nahe standen wie z.B. Günther Dehn und Dietrich Bonhoeffer. Sie kam 1937 zur Dahlemer Kirchengemeinde, die zu den Kernzellen der Bekennenden Kirche gehörte, und trat trotz Vorbehalten in die Bekennende Kirche ein. Seit ca. 1940 gehörte sie zum so genannten „Helferkreis“ (Gemeindeleitung) und ab 1941 zum „Ausschuss“ (Vertretung der Gemeinde nach draußen). Sie hielt Bibelstunden und Morgenandachten und war in der Gemeinde bekannt und einflussreich. Mit Pfarrer Helmut Gollwitzer (1937-1940 in der Gemeinde) verband sie seit der gemeinsamen Zeit in Dahlem eine lebenslange Freundschaft. Nach Gollwitzers Rede- und Aufenthaltsverbot in Berlin (ab 1940) pflegte Gertrud einen intensiven Briefwechsel mit ihm zur Situation der Gemeinde sowie zu politischen, theologischen und seelsorglichen Fragen.

Zur Dahlemer Bekennenden Gemeinde gehörten viele getaufte Juden. Von Anfang an war sich Gertrud Staewen über die Ziele der Hitlerdiktatur im Klaren, vor allem, was die „Judenfrage“ betraf. Je mehr sich die Situation für Menschen jüdischer Abstammung verschlechterte, desto mehr bemühte sich die Bekennende Kirche um Solidarität mit ihren Glaubensgeschwistern. Die „Judenhilfe“ der Dahlemer Gemeinde wurde überwiegend von dem „Dogmatischen Arbeitskreis“ (gemeinsame Lektüre der „Kirchlichen Dogmatik“ von Barth) getragen. Diese Gruppe war vereint in der Abneigung gegen das Nazi-Regime, dem Wunsch, Juden zu helfen, und dem Interesse an Theologie. Auch Gertrud Staewen gehörte dazu. Sie überlegte sogar, ob sie aus Solidarität mit den Juden zum Judentum übertreten sollte, aber um ihrer Kinder willen tat sie es nicht.

Einerseits im Auftrag der Dahlemer Gemeinde half Gertrud Staewen denjenigen, vor allem Gemeindegliedern, die in KZs geschickt wurden oder werden sollten, zum anderen war sie mit zwei Freundinnen ab 1933 Mitglied eines weiteren Helferkreises, der gefährdeten Menschen illegal zur Flucht verhalf. Als der Kreis Ende 1943 aufflog und ihre Freundinnen verhaftet wurden, blieb Gertrud Staewens Hilfe unentdeckt. Sie verließ Berlin aber vorübergehend und ging dann zu ihrer Tochter nach Weimar.

Nach dem Kriegsende übernahm sie dort für ein Jahr die Leitung eines antifaschistischen Frauenausschusses der sowjetischen Militärregierung, der sich um die deutschen Ost-Umsiedler kümmerte.

1946 kam sie zurück nach Berlin. Auf der Suche nach einer neuen Aufgabe arbeitete sie zunächst im Redaktionskreis einer neuen kirchlichen Zeitung, „Unterwegs“, mit, für die sie auch Beiträge verfasste. Doch die Ausrichtung der Zeitung gefiel ihr nicht. 1948 wurde sie dann durch Vermittlung von Bischof Kurt Scharf und Pfarrer Harald Poelchau Fürsorgerin im Tegeler Männergefängnis. Dieser Tätigkeit ging sie nach bis zum Ruhestand im Jahr 1962. Die Arbeit mit ihren „Ganoven“ war für sie eine glückliche Zeit, auch wenn sie oft und lange krank war und sie immer wieder Depressionen plagten. Ihre letzten 20 Lebensjahre verbrachte sie im „Heinrich-Grüber-Haus“, einem Altenheim für Juden und deren einstige Helfer.

1949 gehörte sie zu den ersten Mitgliedern des Gesamtvorstandes (Kuratorium) der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin.

(Zum Foto: Gertrud Staewen und Charlotte von Kirschbaum in den Jahren nach dem Krieg; Copyright: Karl Barth-Archiv, Basel)

 1958 hat sie der Senat von Berlin, um sie für ihre Hilfe für Verfolgte im Nationalsozialismus zu ehren, in die Reihe „Unbesungene Helden“ aufgenommen, womit auch eine laufende Unterstützung verbunden war.

1982 lief im Deutschen Fernsehen einen Film über Gertrud Staewen, 1983 erhielt sie das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, und zwar ausdrücklich für drei Dinge: ihren Dienst als Sozialpädagogin in den Zwanziger Jahren, ihre Hilfe für Juden im Dritten Reich und die Gefängnisseelsorge nach dem Krieg in Tegel.

1987 starb Gertrud Staewen in Berlin. Sie wurde auf Veranlassung Gollwitzers in einem Doppelgrab neben Rudi Dutschke beigesetzt, dessen Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft sie noch direkt verfolgt hatte. Mehrfach hatte sie gesagt, sie würde gerne mit Rudi Dutschke zusammen auferstehen (vgl. Flesch-Thebesius: 309).

Wirkungsbereich

Gertrud Staewen stellte ihr ganzes Leben in den Dienst bedrängter Menschen. Sie bezeichnete dies selbst als ihre Berufung: „Gott hat mich nun mal zu den Außenseitern gestellt, die versteh ich besser“ (Brief an H. Gollwitzer, 1941; zitiert nach Flesch-Thebesius: 308): In der Weimarer Republik galt ihr soziales Engagement der Arbeiterschaft und verwilderten bis verwahrlosten Kindern, im Nationalsozialismus den Verfolgten, vor allem den Juden (und getauften Juden), und nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Gefängnisfürsorgerin für Männer in Tegel.

1941, kurz bevor die Deportationen von Juden in den Osten begannen, wurde Gertrud Staewen von der Dahlemer Gemeinde, zu der sie gehörte, von ihrer Arbeit im Burckhardthaus teilweise zur „besonderen Seelsorge“ freigestellt. Sie sollte sich intensiv um die von der Deportation bedrohten getauften „Nichtarier“ kümmern, vorrangig um Gemeindeglieder. Sie übernahm durch Vermittlung Dietrich Bonhoeffers einen Teil der Arbeit, die vorher das inzwischen aufgelöste „Büro Grüber“ (die „Hilfsstelle für nichtarische Christen“, die Pfarrer Heinrich Grüber geleitet hatte) in der Vermittlung ökumenischer Hilfsmittel und Ausreisegenehmigungen wahrgenommen hatte. Dafür erhielt sie durch Bonhoeffer Kontakt zum Ökumenischen Flüchtlingsdienst in Genf. Dessen Leiter, der aus Berlin emigrierte Adolf Freudenberg, ließ ihr eine Liste mit Hilfesuchenden sowie Geldmittel für die Hilfsarbeit in Berlin zukommen.

Die Arbeit bestand vor allem im Besuchsdienst sowie der praktischen und seelsorgerlichen Unterstützung bis zur Deportation. Auch Abschiedsgottesdienste und Hausabendmahlsfeiern wurden organisiert. Durch Pakete und Geldsendungen versuchte man den Kontakt zu den Deportierten zu halten. Um die geistliche Betreuung der Verschleppten im Osten sicherzustellen, entstanden Ordinationskurse für Laien, in dem Gemeindeglieder jüdischer Abstammung zu (teils ordinierten) Laienpredigern ausgebildet wurden. Diese Arbeit vieler Gemeindeglieder wurde durch Gertrud Staewen koordiniert und maßgeblich geprägt, von 1942 an zusammen mit ihren Freundinnen Helene Jacobs und Melanie Steinmetz. Da sie die Menschen nur begleiten, aber nicht retten konnte, geriet sie mit der Zeit immer mehr in große Verzweiflung und Glaubensnot.

Parallel zu dieser „Judenhilfe“ kümmerte sie sich illegal um Untergetauchte. Kopf dieser Gruppe war der früher jüdische, getaufte Verwaltungsjurist Franz Kaufmann. Die Mitglieder dieser Gruppe organisierten gefälschte Ausweise und versuchten – häufig wirksam – durch Bestechungen Menschen freizukaufen, stahlen oder kauften illegal Lebensmittelkarten, leisteten Fluchthilfe und Hilfe beim Untertauchen. In einigen Fällen gelang sogar die Rettung aus dem KZ durch Geldzahlungen. Gertrud Staewen versteckte Juden in ihrer Wohnung, organisierte Lebensmittelmarken und verhalf zur Flucht. 1942 bezeichnete sie sich aufgrund der illegalen Methoden dieser Hilfstätigkeit als „Gangster“ und  ihr Leben als „Unterwelt-Leben“ (vgl. Flesch-Thebesius: 251). Eine jüdische Ärztin, Luzie Adelsberger, wurde von ihr aus dem KZ, kurz vor dem Tod im Gas, durch Bestechung eines Polizisten freigekauft, was sie erst nach dem Krieg erfuhr.

Aufgrund einer Denunziation flog die Gruppe im Herbst 1943 auf. Die Freundinnen Helene Jacobs und Melanie Steinmetz sowie einige weitere Helfer wurden verhaftet und kamen ins Gefängnis, Franz Kaufmann wurde ermordet. Gertrud Staewen wurde nicht enttarnt.

Nach dem Krieg fand Getrud Staewen schließlich eine neue Aufgabe als Fürsorgerin im Tegeler Männergefängnis. Diese Aufgabe wurde für ihr zur Berufung: „Das war das Donnerwort für mich. Nun ist endlich das an der Reihe, was mich ein Leben lang begleitet hat aus dem Evangelium. Endlich bin ich da, wo ich noch nie gewesen bin. ‚Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht‘“ (zitiert nach Schöfthaler 2004: 110). Ihre Arbeit tat sie unter drei Leitmotiven: Illusionslosigkeit, Vorurteilslosigkeit und Vorbehaltlosigkeit. Sie bot Gespräche an, hielt Bibelstunden und Arbeitsgemeinschaften und etablierte im Gefängnis einen Bibelkreis, in dem Karl Barths „Kirchliche Dogmatik“ gelesen wurde. Sie galt als „Engel der Gefangenen“, setzte sich unermüdlich für sie ein und besuchte sie noch im hohen Alter.

(Zum Foto:  Gertrud Staewen in späten Lebensjahren; Copyright: Karl Barth-Archiv, Basel)

Viele, vor allem jugendliche Strafentlassene nahm sie nach der Entlassung in ihre Wohnung auf und half ihnen beim Weg in die Freiheit. Respektiert wurde sie auch von den „Ganoven“, die sich nicht helfen lassen wollten, ihr aber bescheinigten, sie verderbe ihnen mit ihrer erfolgreichen Arbeit den gesamten Nachwuchs. Trotz mancher Enttäuschungen mit ihren „Ganoven“ erfüllte diese Arbeit sie mit großer Freude, und nicht wenige fanden durch ihre Hilfe zurück in ein achtbares Leben.

Reformatorische Impulse

Durch die Lektüre des „Römerbriefs“ von Karl Barth, den sie nach der ersten Begegnung mit Begeisterung und Erschütterung las, wurde sie, wie sie selbst sagte, bekehrt. Zeit ihres Lebens verband sie die existentiellen Fragen ihres Lebens und ihrer Zeit mit theologischer Lektüre, vor allem Barths Schriften, mit Debatten und Briefwechseln mit namhaften Theologen ihrer Zeit.

 

(Zum Foto: Alte Freunde auf dem „Bergli“ im Jahr 1951. Von links: Gertrud Staewen, Charlotte von Kirschbaum, Karl Barth, die Gastgeberin Gerty Pestalozzi; Copyright: Karl Barth-Archiv, Basel)

Wäre nicht alles so todernst und grausam gewesen, so könnte man über die unglaubliche Kreativität von Gertrud Staewens Ideen (und denen ihrer Freundinnen) schmunzeln, mit denen sie Juden zur Flucht verhalfen. So sammelten sie eine Zeitlang überall Mutterkreuze ein, die Orden Hitlers für kinderreiche Mütter. Viele Frauen gaben diese für gefährdete Jüdinnen her. Das sei schon sehr komisch gewesen, erzählte Gertrud Staewen, wenn eine jüdische Jungfrau mit dem Mutterkreuz um den Hals mit der Bahn in die Schweiz entkommen konnte (vgl. Schöfthaler 2003: 38). Einem anderen gefährdeten Juden verhalf sie zur Flucht, indem er einen Trauerfall mimte. Im steifen Gehrock radelte er quer durch Deutschland in die Schweiz, am Lenker einen Trauerkranz, jeden Tag war für ihn ein Onkel im nächsten Dorf gestorben, womit er die Polizisten beeindrucken konnte (vgl. Schöfthaler 2003: 39). In Staewens eigener Wohnung lagen stets Monteursanzüge bereit, damit die Juden, die sie versteckte, bei Besuch als Handwerker auftreten konnten (vgl. Schöfthaler 2003: 41). Hätten nur mehr Menschen solche Chuzpe besessen!

Kommentar

Gertrud Staewen war eine mutige, leidenschaftliche Frau, die sich von Gott zu den Außenseitern gerufen wusste. Sie war keine Frau großer frommer Worte, und sie hat gelogen und gestohlen, um andere zu retten. Aber was heißt unmoralisch angesichts von Zeiten, in denen Menschen einfach verhaftet, drangsaliert und ermordet wurden wegen ihrer Abstammung oder Gesinnung? Es war ihr zeitlebens wichtig, so zu handeln, wie Jesus gehandelt hätte. Ihre Motivation fasste sie in einem Interview so zusammen: „Du kannst nicht jeden Abend deine Seele aufbauen mit Christi Wort, wenn du nicht das tust, was er verlangt“ (zitiert nach Schöfthaler 2004: 113).