Grete Gillet wurde am 23. Juli 1895 in Nienburg an der Weser als einziges Kind der Eheleute Franz und Agnes Gillet geboren. Ihr Vater stammte aus der Nähe von Malmedy an der Grenze zu Belgien und war katholisch, ihre Mutter, geborene Wirker, stammte aus Niedersachsen und war evangelisch. Die Eltern ließen sich evangelisch trauen. Grete wird evangelisch erzogen. Kindheit und Jugend verbringt sie in Hannover, wohin die Familie 1901 nach der Versetzung des Vaters – er war Grundbuchbeamter – umgezogen war. Über ihre Kindheit schreibt sie: „Obwohl als einziges Kind in mancher Hinsicht verwöhnt, war meine Kindheit ohne Geschwister und infolge anderer Verhältnisse nicht restlos glücklich. Ich wurde ein begabtes, frühreifes, einsames Kind, das lieber in der Welt der Träume als in der Wirklichkeit lebte“ (Lebenslauf, Personalakte Grete Gillet, Landeskirchliches Archiv des Evangelischen Oberkirchenrats Karlsruhe).
Zwei Ereignisse gewinnen für sie besondere Bedeutung: Die Konfirmation am Palmsonntag 1910, die, wie sie selbst schreibt, ihrem „unklaren Sehnen eine feste Richtung auf das Ewige“ (Lebenslauf, PA Grete Gillet) gab. Ihr Konfirmationsspruch aus dem Johannesevangelium: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12), begleitet sie ein Leben lang. Rückblickend schreibt sie: „Die Sehnsucht nach dem Licht des Lebens hat mich von jenen frühen Jugendtagen an begleitet, als dies Wort als Leitwort für mein Leben mir ganz persönlich zugeeignet wurde. Von Anfang an hatte ich ein enges Verhältnis zu diesem Wort und spürte mit fast hellseherischer Deutlichkeit, dass es in meinem Leben Bedeutung bekommen sollte“ (Gillet 1949: 117).
Das zweite Ereignis war ihr Eintritt in die Freideutsche Jugendbewegung, den „Wandervogel“. Dort lernt sie auf Wanderungen die Natur kennen und lieben, findet Lebensziele und Gleichgesinnte, gewinnt Selbstsicherheit.
1915 legt sie an der Sophienschule in Hannover das Abitur ab und beginnt mit dem Ziel, Lehrerin zu werden, in Marburg Religion, Deutsch und Geschichte zu studieren. Schnell wird ihr Interesse für die theologische Wissenschaft geweckt. Im WS 1916/1917 wechselt sie nach Berlin, engagiert sich neben dem Studium in einem sozialen Stadtteilprojekt: „Ich arbeitete mit in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost von Lic. Siegmund-Schultze, einem deutschen Settlement von Akademikern im Arbeiterviertel Berlins, wo ich auch wohnte. Im Geist der Liebe und Versöhnung will die Soz.Arb.Gem., die nicht konfessionell gebunden, aber im wahren Grund religiös begründet ist, die krassen Klassengegensätze überbrücken helfen. Ich habe besonders an der Jugendarbeit in Mädchenclubs Freude gefunden“ (Lebenslauf, PA Grete Gillet).
Im Sommersemester 1917 wechselt sie nach Heidelberg und ganz zur Theologie. Sie studiert im Schwerpunkt Neues Testament bei Martin Dibelius. Als eine der ersten Frauen in Deutschland wird Grete Gillet am 10. April 1919 von der Theologischen Fakultät zur sog. Licentiatenprüfung zugelassen. Ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Evangelium, Studien zu urchristlichen Missionssprache“ wird mit „magna cum laude“ ausgezeichnet. Der Krieg habe sie „zur Theologie und zur Kirche getrieben“, notiert sie später, „da mir gleich am Beginn meines Studiums eine liebe Hoffnung, eine schönere Zukunft, durch den Krieg genommen wurde, musste ich mich einer anderen, das Leben erfüllenden Aufgabe“ (Lebenslauf, PA Grete Gillet) zuwenden.
Grete Gillet bleibt in Baden, das ihr zur zweiten Heimat wird. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass die badische Landeskirche im Jahr 1915 als erste Kirche Frauen zur theologischen Prüfung zugelassen hatte. Elsbeth Oberbeck hatte hier 1916 das 1. und 1917 das 2. Theologische Examen abgelegt. Vielleicht hoffte Grete Gillet, dass es hier einfacher sein würde, als Theologin eine Anstellung und eine berufliche Perspektive zu finden. Im Frühjahr 1919 legt sie vor dem Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe das 1. und nach der praktisch-theologischen Ausbildung im Frühjahr 1920 das 2. Theologische Examen ab. Im Unterschied zu ihren männlichen Kommilitonen wird sie nicht in den landeskirchlichen Dienst übernommen. Sie arbeitet, angestellt von der Kirchengemeinde Waldkirch, als „Gemeindehelferin“, hält Kindergottesdienst und Bibelstunden, leitet den Arbeiterinnenverein und den Mädchenbund, besucht Frauen und Mädchen im Krankenhaus und auch im Gefängnis, erledigt schriftliche Arbeiten für den Pfarrer. Nicht einmal „Pfarrgehilfin“ darf sie sich nennen, denn das könne als Vertretung des Pfarrers missverstanden werden, so der Oberkirchenrat in seiner Begründung. Es wird noch über 40 Jahre dauern, bis sich dann 1962 Theologinnen in Baden Pfarrerinnen nennen dürfen. Wenige Monate vor ihrem Ruhestand wird auch Grete Gillet dieser Titel verliehen.
1923, als die Gemeinde die Stelle nicht mehr finanzieren kann, wird Grete Gillet – als erste Frau – in den landeskirchlichen Dienst übernommen. Sie wird als Religionslehrerin in Mannheim eingesetzt, unterrichtet für die nächsten knapp 16 Jahre an Berufs- und Fachschulen für Mädchen und junge Frauen. 1928 wird sie als Beamtenanwärterin in den Staatsdienst übernommen. 1930 wird ihr der Titel „Professor“ verliehen, der ihr 1940 durch Erlass des Ministers für Kultus und Unterricht wieder entzogen wird. Als ihr 1935 vom Land Baden gekündigt wird (die NS-Regierung behindert zunehmend die Erteilung von Religionsunterricht bis er 1938 an Berufs- und Fachschulen komplett aufgehoben wird), wird sie (wieder) in den kirchlichen Dienst übernommen und 1936 (!) nachträglich unter die badischen Pfarrkandidaten des Jahrgangs 1920a (das Jahr, in dem sie das 2. Theologische Examen abgelegt hatte) aufgenommen. Sie selbst sieht den Grund für ihre Kündigung in ihrer kirchentreuen Haltung und ihrer Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche.
1938 stellt sie wegen eines Gehörleidens den Antrag, zur Frauenarbeit nach Karlsruhe versetzt zu werden. Die Kirchenleitung befürwortet dies, die vom NS-Religionsministerium eingesetzte Finanzabteilung im Oberkirchenrat lehnt den Antrag ab. Es dauert weitere Jahre und etliche Auseinandersetzungen zwischen badischer Kirchenleitung und NS-Finanzabteilung bis Grete Gillet, ab 1940 nebenamtlich und ab 1942 hauptberuflich, zur Frauenarbeit wechseln kann.
Am 23. Januar 1944 wird Grete Gillet zusammen mit acht weiteren Theologinnen in der Karlsruher Schlosskirche „zum Dienst der Vikarin eingesegnet“. Die Frauen werden nicht ordiniert; die Ordination und die damit verbundenen Rechte und Pflichten der Verkündigung, der Sakramentsverwaltung, der Gemeindeleitung bleiben weiterhin Männern vorbehalten. Gleichwohl werden die Vikarinnen zur Versehung des Pfarrdienstes in die kriegsbedingt verwaisten Pfarreien gesandt. Die äußere Notsituation lässt die bisherigen theologischen Bedenken gegen Frauen im Pfarramt zurücktreten und hebt die Beschränkung der Theologinnen auf den Dienst an Frauen und Kinder auf. Im November 1944 wird Grete Gillet zur Versehung der Pfarrei Heidelberg-Pfaffengrund abgeordnet. Die Geschäftsstelle der Frauenarbeit und die Sekretärin Lore Sauder ziehen aus „praktischen“ Gründen mit, nachdem das Dienstgebäude in Karlsruhe nach einem Bombenangriff schwer beschädigt war.
Nach dem Krieg kehrt Grete Gillet nach Karlsruhe zurück und widmet sich mit ganzer Kraft dem Aufbau der Frauenarbeit. Neue Mitarbeiterinnen werden eingestellt, die Arbeit wird neu geordnet, neue Aufgaben kommen hinzu. Grete Gillet nimmt die in der Nachkriegszeit besonders beschwerliche Reisetätigkeit wieder auf, stellt die Verbindung zu den Frauenkreisen im ganzen Land wieder her, führt Tagungen und Rüstzeiten durch. In der Geschäftsstelle werden Arbeitsmaterialien für die Frauenkreise erstellt. Daneben erscheint die Monatszeitschrift „Der Kreis. Ein Blatt für die evangelische Frau“, die sie verantwortet und herausgibt. 1949 gibt sie die Geschäftsführung der Frauenarbeit ab, konzentriert sich ganz auf die theologische Leitung.
Zum 1. Januar 1963 tritt Grete Gillet mit fast 68 Jahren in den Ruhestand. Weiterhin arbeitet sie als Redakteurin beim „Kreis“ mit, führt Tagungen und Freizeiten durch, behält die beliebten literarischen Abende in Mannheim und Heidelberg bei. Ihren 70. Geburtstag und das 50-jährige Doktorjubiläum am 10. April 1969 kann sie noch feiern. Sie stirbt am 2. Juni 1970 mit knapp 75 Jahren in Heidelberg.
a.) Als hauptamtliche Religionslehrerin in der Schule:
Grete Gillet war insgesamt 16 Jahre als Religionslehrerin tätig. Sie unterrichtete an verschiedenen Schularten, die meiste Zeit an Fach- und Berufsschulen für Mädchen und junge Frauen in Mannheim. Nach eigenem Bekunden hat ihr das Unterrichten viel Freude gemacht. Dabei kamen ihr die Erfahrungen, die sie in der Jugendarbeit in Berlin gemacht hatte, zugute. Sie verstand Religionsunterricht als kirchlichen Dienst am ganzen Menschen und als Erziehungsauftrag. Als ab Mitte der 30er Jahre der konfessionelle Religionsunterricht im nationalsozialistisch regierten Staat zunehmend behindert wird, beklagt sie: „Heute ist der Religionsunterricht in der Schule überall sowohl zeitlich wie inhaltlich verkürzt und allen Gefahren einer Überflutung mit fremden völkisch-religiösen oder gegenchristlichen Elementen ausgesetzt“ (Gillet 1939: 7). Insbesondere stört sie „die Austrittspropaganda durch die Lehrerschaft. Es ist nicht zuviel gesagt, von einer Liquidation dieses Unterrichts in diesem Schuljahr zu reden“, schreibt sie im Mai 1938 an die Kirchenleitung.
In den seit 1937 von der Landeskirche herausgegebenen „Katechetischen Blättern“, die faktisch den Lehrplan bildeten, erscheint im Februar 1938 der sogenannte „Unterländer Entwurf“, ein Lehrplan für den Religionsunterricht an höheren Schulen, den Grete Gillet zusammen mit den Kolleginnen Helene Cucuel, Dr. Doris Faulhaber, Gudrun Glitscher, Helene Reiss und Marlene Stöcklin erarbeitet hatte (vgl. Mayer: 145). Die Auswahl der Themen zeigt ihren seelsorglichen Zugang zum Religionsunterricht, aber auch ihren Mut, aktuelle und brisante Themen lebensnah anzugehen: „Die Bibel als Hilfe im Lebenskampf“, „Ablehnung der Kirche“, „Das AT ein Judenbuch?“. Eine Genehmigung dieses Lehrplans durch das Badische Kultusministeriums war nicht zu erwarten. Dass er in den „Katechetischen Blättern“ veröffentlicht wurde, war für die Religionslehrenden „Anweisung“ genug.
Da der Religionsunterricht durch das NS-Regime weitgehend verunmöglicht war, wurden von 1940-1942 Frauen in mehrwöchigen Lehrgängen zu Religionslehrerinnen und Katechetinnen für den Unterricht in den unteren Klassenstufen und in den Gemeinden ausgebildet. Den Abschluss bildete eine Prüfung durch den Oberkirchenrat. Grete Gillet leitete diese Lehrgänge zusammen mit einem Kollegen.
b.) Mitbegründerin des Verbands Evangelischer Theologinnen Deutschlands – Pionierin für das Pfarramt für Frauen:
Grete Gillet nahm 1925 an der ersten Theologinnentagung in Marburg teil. Sie gehört damit zu den Gründerinnen des Verband Evangelischer Theologinnen Deutschlands, der als Konvent Evangelischer Theologinnen Deutschlands im Jahr 2015 sein 90. Jubiläum feierte. Der Verband verstand sich als Interessenvertretung derjenigen Frauen, die an deutschen Universitäten Theologie studierten bzw. das Studium schon beendet hatten (Bitz 2005: 129). Grete Gillet ruft den badischen Landeskonvent ins Leben, den sie bis 1949 leitet. Sie lädt zu Gesprächsabenden und Rüstzeiten, bringt die Theologinnen aus Baden, Bayern, Württemberg, der Pfalz und der Schweiz zu regelmäßigen Tagungen zusammen. Sie arbeitet an der Gestaltung und Ausgestaltung des „Amtes der Theologin“ in geistlicher und rechtlicher Hinsicht, letztlich das volle Pfarramt für die Frauen. Dafür setzt sie sich ein. Sie schreibt Briefe an die Kirchenleitung, erarbeitet Eingaben an die Synoden. Sie ist Pionierin und Vorkämpferin für das Pfarramt für Frauen. An die Kirchenleitung schreibt sie, es sei„vielleicht wichtiger, dass Christus auf allerlei Weise verkündigt werde als um die Frage, ob durch Mann oder Frau“ (PA Grete Gillet).Die ganze Frage der Wortverkündigung durch die Frau sei ja bis jetzt mehr von „dem Gesichtspunkt der kirchlichen Sitte und Empfindungen als von biblischen Begründungen aus“ (PA Grete Gillet)angesehen worden.
Es braucht noch eine Weile, bis die Kirchenleitung zustimmt. Noch im März 1940 antwortet der Evangelische Oberkirchenrat auf die Frage von Grete Gillet, ob heute noch Abiturientinnen zum Studium der Theologie geraten werden könne: „Unter diesen Umständen kann der Oberkirchenrat vom Theologiestudium für Frauen nur auf das allerdringendste abraten. Er muss pflichtgemäß jede Gewähr für eine spätere Zulassung zum kirchlichen Dienst ablehnen. Dagegen kann er kaum dringend genug raten, für den Beruf der Gemeindehelferin zu werben“(PA Grete Gillet).
Gleichwohl werden kriegsbedingt ab 1944 in Baden Frauen zur Versehung der verwaisten Pfarreien eingesetzt. Mit einer aus heutiger Sicht verwunderlichen Selbstverständlichkeit werden sie nach Kriegsende wieder abgezogen. Der Streit um die Ordination und das volle Pfarramt für Frauen wird sich noch Jahre hinziehen. Es dauert bis 1971 bis in der Badischen Landeskirche gilt: Pfarrer im Sinne der Grundordnung ist auch die Pfarrerin. Damit ist endlich die Gleichberechtigung im Pfarramt erreicht.
Grete Gillet bleibt dem Theologinnenkonvent persönlich verbunden. Die stärkende Gemeinschaft der Schwestern ist ihr wichtig. Als es 1970 um die Frage ging, ob der Verband aufgelöst werden sollte, da ja die Gleichstellung im Pfarramt erreicht war, spricht sie sich dagegen aus. „Mein ganzes Berufsleben hindurch war ich glücklich über unsere Gemeinschaft (…). Ich bin für das Weiterbestehen des (badischen) Konvents (…) zur gemeinsamen theologischen Weiterarbeit, zur Pflege persönlicher Beziehungen, um die Bemühung zur Gestaltung des Amtes, besonders im Blick auf die Zusammenarbeit von Mann und Frau“ (zit. nach Bitz 2005: 129).
c.) Leiterin der Frauenarbeit:
Seit 1940 leitete Grete Gillet die Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Baden. Nach der Zeit des Aufbaues und Ausweitung der Frauenarbeit war nun die Zeit der Bewährung und des inneren Durchhaltens gekommen. Stärker noch als bisher war Konzentration auf das Wesentliche gefordert: Bibelarbeit, Seelsorge und Schulungsarbeit. Lieder und Gebet wurden gesammelt und weitergegeben zum Trost in schwerer Zeit. Der Reisedienst wurde weitergeführt, trotz aller Kriegsbehinderungen und auch bei Bombenalarm. Pfarrfrauen und Gemeindehelferinnen wurden geschult, damit die Gemeinden nicht ohne Verkündigung, ohne Trost und Begleitung blieben. Grete Gillet verstand ihren Dienst als Auftrag vom Evangelium her und als ‚Trostamt‘ für die evangelische Frau in den Wirren und Ausweglosigkeiten von heute. „Es ist ein Auftrag von dem, der gesagt hat: ‚Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Wir alle sollen ‚Mütter der Kirche‘ werden“ (Der Kreis. Ein Blatt für die evangelische Frau, August/September 1966, 9).
Nach dem Krieg kehrt Grete Gillet wieder nach Karlsruhe zurück, um nun zum ersten Mal hauptberuflich die Leitung der badischen Frauenarbeit wahrzunehmen. Konfirmandenmütterabende und katechetische Kreise, Vortrags- und Gesprächsabende, Tagungen für Pfarrfrauen und Leiterinnen von Frauenkreisen – das alles verbunden mit mühsamen Dienstreisen in kalten Zügen. Die Verbindung zu den Frauenkreisen in ganz Baden mussten wieder aufgebaut werden. Ein enormes Arbeitspensum wurde bewältigt, unter Einsatz aller Kräfte. „Es war in dieser Kriegs- und Nachkriegszeit ja nicht nur die Not der Heimatlosen, Ausgebombten und Hungernden, sondern auch die schwerste seelische Bedrängnisse. Die Geschäftsstelle der Frauenarbeit in Karlsruhe übernahm die Aufgabe der Zurüstung der Mitarbeiterinnen im Geist des Evangeliums. Das waren Pfarrfrauen, Gemeindehelferinnen, Fürsorgerinnen und die Frauen der Bahnhofsmission, aber auch Wohlfahrtspflegerinnen, DRK-Schwestern, Ärztinnen, Lehrerinnen… Die Bibelarbeit wurde zum Herzstück der Frauenarbeit“ (Evangelische Frauenarbeit in Baden: 15).
Auftrag der Frauenarbeit sei es, Frauen vom Evangelium her Orientierung zu geben für die verantwortliche Mitgestaltung des Lebens in allen Bereichen, in Familie und Beruf, in Kirche und Gesellschaft. Diesen Auftrag, der heute noch das Selbstverständnis der Evangelischen Frauen in Baden bestimmt, hat Grete Gillet formuliert und mit Leben erfüllt. Die Linien, die sie gelegt hat, sind noch heute erkennbar. Die Fäden, die sie aufgenommen hat, werden noch heute weitergeknüpft.
Zentrales Kommunikationsmedium war „Der Kreis. Ein Blatt für die evangelische Frau“. Das Heft wurde von der Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Baden in den Jahren 1949 bis 1976 herausgegeben. „Der Kreis“ verdankt sein Entstehen Dr. Grete Gillet, die über 20 Jahre lang Schriftleiterin des Monatsheftes war. Die Zeitschrift diente den Frauen als Lektüre in stillen Stunden, zum Vorlesen und Weiterschenken. Aber sie stellte auch die Verbindung her zwischen den Frauen im ganzen Land, zwischen den Teilnehmerinnen von Freizeiten und Rüsttagen, Älteren und Jüngeren, Berufstätigen und Familienmüttern, zwischen Flüchtlingen, Aussiedlern und Alteingesessenen. Ihr Inhalt umfasste Informationen aus der Landeskirche, Beiträge zu aktuellen familiären, gesellschaftlichen und kirchlichen Fragen, Literaturempfehlungen sowie geistliche Impulse und Bibelarbeiten. „Der Kreis“ war eine Institution. Er prägte eine ganze Generation von Frauen, Mütter und Mädchen, Berufstätige und allein Lebende.
Grete Gillet war mit Herz und Seele Theologin. Ihre Auslegungen der Bibel sind lebensnah, versuchen Orientierung zu geben für die Gegenwart, insbesondere für Frauen.
Reformatorische Impulse erkenne ich in dreierlei Hinsicht:
1. Die Bibel im Zentrum (vgl. „sola scriptura“):
Die Bibel ist für Grete Gillet Richtschnur und Orientierungspunkt für Leben und Glauben. Grete Gillet hat den Schatz der Bibel insbesondere für Frauen neu aufgeschlossen und zugänglich gemacht. Bibelarbeiten, theologische Rüstzeiten und religionspädagogische Fortbildungen bilden einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Vom Evangelium her Orientierung zu geben, das heißt mit Grete Gillet, im Dialog mit den biblischen Texten und mit anderen Menschen zu sein. Das heißt auch, Ideologien und Ansprüche der Gesellschaft, der Tradition, der Politik kritisch zu hinterfragen und im Gespräch mit den biblischen Texten zu überprüfen und ggf. auch zurückzuweisen; das heißt, selber (wieder) neu die Bibel zu lesen, die biblischen Texte als Gegenüber ernst zu nehmen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sich auch ihrer Fremdheit auszusetzen, mit ihnen zu ringen – um dann ermutigt und getröstet, gestärkt und mit neuer Hoffnung, die je eigenen Wege weiterzugehen oder neu aufzubrechen… – das ist von und mit Grete Gillet zu lernen.
2. Christus, das Licht der Welt, Licht meines Lebens (vgl. „solus Christus“):
Die Sehnsucht nach dem Licht des Lebens hat Grete Gillet seit ihrer Konfirmation begleitet, hat ihre Frömmigkeit und später ihr theologisches Nachdenken geprägt. Christus überwindet die menschlichen Ordnungen, die in oben und unten einteilen. Durch Christus kommt etwas Neues in die Welt: da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus (Gal 3,28).
Bezogen auf das Verhältnis der Geschlechter heißt das für Grete Gillet: „Die Botschaft des Neuen Testaments will uns Frauen bei der Besinnung in unseren Nöten helfen, nicht durch Einzelanweisungen oder fertige Rezepte, sondern darin, dass sie auch die Frau als Gotteskind in ihrer Ebenbildlichkeit völlig ernst nimmt.“ (Gillet: Die Frau in der Bibel, in: Der Kreis, Juli 1951, 2). Frauen wurden Nachfolgerinnen Jesu, Frauen waren die ersten Boten der Auferstehung, Frauen waren Teil der Pfingstgemeinde, Frauen haben in der Urgemeinde die wichtigsten Ämter ausgeübt. In zahlreichen Beiträgen im „Kreis“ zeigt sie biblisch fundiert, theologisch reflektiert und mit einem kritischen Blick auf die Tradition: „Die Frau (hat) keine untergeordnete Stellung in der Bibel“, sie ist „ebenbürtige Partnerin“. Der Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, gilt beiden gleichermaßen und „dieser Auftrag wird durch den Sündenfall nicht zurückgenommen“ (Gillet: Die Frau in der Bibel in: Der Kreis, Juli 1951, 2). In Überwindung einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung hat Christus der Frau die volle Menschenwürde zurückgegeben. Dass Frauen das volle geistliche Amt vorenthalten wird, ist nicht biblisch zu begründen, sondern eine Frage von Tradition und Konvention, die in Christus zu überwinden sind.
3. Den Glauben ins Leben ziehen… (vgl. „sola fide“):
Gillets theologisches Nachdenken fragt nach der Relevanz des Evangeliums in der Gegenwart, nach seiner Kraft, Klischees gesellschaftlicher und kirchlicher Geschlechterrollen aufzubrechen. Sie findet Spuren dieses Aufbruchs im Glauben in den Lebensgeschichten von Frauen zur Zeit der Reformation (Wibrandis Rosenblatt, Katharina Zell u.a.) aber auch der jüngeren Gegenwart (Elsa Brandström, Helen Keller u.a.). Sie fragt, wie zeigt sich „glauben“ im alltäglichen Leben, in Ehe und Familie, in Beruf und Engagement. Ihre Texte sind ein Spiegel der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen der Zeit. Sie sind im guten Sinn erbaulich, nah am Leben und den Fragen der Leserinnen. Manche Themen, wie Fragen der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen, Reproduktionsmedizin, Prostitution, die Frage von Rüstung und Frieden beschäftigen uns bis heute. Was heißt es heute Bauleute Gottes zu sein? lautet eine immer wiederkehrende Frage von Grete Gillet.
Zum Glauben heute gehören auch die Ökumene und der Weltgebetstag, deren Bedeutung sie nach dem Krieg als eine der ersten erkannt hat: „Die ökumenische Bewegung schließt die Kirchen zusammen, die im Geist des Evangeliums und der Versöhnung einander ‚brüderlich’ nahe sind (…) -Ich glaube, wir Frauen sind besonders berufen, Brücken zu bauen zwischen Mensch und Mensch (…). Daraus entstand der Weltfrauengebetstag am ersten Freitag der Passionszeit“ (Gillet: Zum Weltgebetstag am 20. Februar in: Der Kreis, Februar 1953, 14-16).
Grete Gillet hat als eine der ersten Theologinnen und als dienstälteste Theologin in Deutschland maßgeblich dazu beigetragen, den lange von den Kirchen versperrten Weg für Frauen in den Pfarrberuf zu ermöglichen. Ihre Leidenschaft galt dem Evangelium und seiner glaubwürdigen Verkündigung und Auslegung in die heutige Zeit. Dabei setzte sie sich auch kritisch und doch loyal mit ihrer Kirche auseinander. Zu ihrem 40-jährigen Dienstjubiläum am 19.4.1960 dankte ihr Landesbischof Kühlewein „für die treuen, vielseitigen und wertvollen Dienste, die Sie in diesen vier Jahrzehnten getan haben. Ihr Weg war ein bahnbrechendes Ringen um den Dienst der Frau und der Vikarin in unserer Kirche. Sie haben ihn in einer tief geistlichen Weise geführt (…). Es wird Sie in diesen Tagen der Rückschau gewiss mit dankbarer Freude erfüllen, dass Sie ein Ziel erreicht und Ihren jüngeren Schwestern den Weg geebnet haben. Ihr Dienst ist immer von einer großen und beglückenden Weite gewesen. Theologie war für Sie nie eine abstrakte Wissenschaft, sondern immer eine tiefe Gestaltungskraft des ganzen Menschenlebens. Diese Weite ist vielen Vorbild geworden und wird immer gesehen werden, so oft Ihr Name genannt wird (PA Grete Gillet).
Aus heutiger Perspektive mag manches, was Grete Gillet über die Rolle und Zuordnung der Geschlechter schrieb, konventionell oder konservativ erscheinen. Wie alle war auch sie durch die Bilder und Klischees ihrer Zeit geprägt. Gleichwohl hat sie als Pädagogin und Theologin Entscheidendes für Mädchen und Frauen in den gesellschaftlichen Umbrüchen der Kriegszeit und Nachkriegszeit getan. Neben vielfältiger praktischer Lebens- und Überlebenshilfe hat sie insbesondere allein stehende Frauen, zu denen sie selbst gehörte, an ihre Würde erinnert und immer wieder der bis heute stark paar- und familienorientierten Arbeit der Kirche den Spiegel des Evangeliums vorgehalten, welches alle Menschen gleichermaßen in die Nachfolge ruft.
Stellvertretend für viele Stimmen des Dankes und der Würdigung mag folgender Ausschnitt aus einem Nachruf auf Grete Gillet stehen: „Wir denken dankbar an ihren hingebenden Einsatz, den großen entschiedenen Ernst ihrer Person, die Wärme und Herzlichkeit ihres Wesens, wenn sie auf Menschen zuging. Sicher war sie den Neuhinzugekommenen nicht so ganz schnell zugänglich; aber wer sie kennengelernt hatte, wusste, was er geistig und geistlich von ihr erhoffen konnte (…). Es werden viele von dem zehren, was Frau Dr. Grete Gillet ihnen mündlich und schriftlich mitgab, auch weiterhin, ihre Stimme, die sich so unverkennbar von den anderen abhob, wird manchen in den Ohren klingen und nachwirken wie die bestimmte Art ihres Wesens, das anspornen konnte zu eigenem Forschen und Nachdenken, zu selbständiger Stellungnahme und Weiterverfolgen des gezeigten Weges (…)“ (Der Kreis, August/September 1970, 20).