Hanna Jursch war in vielfältige Beziehungen eingebunden. Geboren am 23. März 1902 in Oppeln wuchs ist sie in einer begüterten Familie auf. Sie verbrachte ihre Kindheit in Elbling und nach dem Umzug der Familie 1917 in Berlin, wo sie auch ihr Abitur ablegte. Im Sommersemester 1922 begann sie ihr Studium der Germanistik, Evangelischen Theologie und Kunstgeschichte in Jena. Die Universität und die Beziehungen, die daraus erwuchsen, begleiteten Hanna Jursch ihr Leben lang, sie waren ihr Leben. Bereits nach einem Semester wechselte Hanna Jursch, beeindruckt vom dem Neutestamentler Heinrich Weinel, zum Studium der Evangelischen Theologie, obwohl es keine gesicherten Berufsaussichten für Theologinnen gab. Während der zwei Semester in Berlin, studierte sie bei Adolf von Harnack, der für sie ebenfalls prägend wurde. Ihr Examen legten sie 1926 an der Theologischen Fakultät der Universität Jena ab und wurde Assistentin bei dem Kirchenhistoriker Karl Heussi. Zu den wichtigen Beziehungen gehören wohl auch diejenigen, die sie über die Freunde der liberalen Zeitschrift Christliche Welt fand. Als Frau war sie eingebunden in die akademische Männerwelt und gleichzeitig engagierte sie sich im Verband evangelischer Theologinnen in Deutschland, der sich 1925 in Marburg gegründet hatte. 1932 wurde Hanna Jursch von der Theologischen Fakultät der Universität Jena promoviert und 1934 als erste Theologin an einer deutschen Universität habilitiert. Ihre Habilitation fiel in die Zeit des Umbaus der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu einer nationalsozialistischen Musteruniversität. Hanna Jursch, die die Ideologie des Nationalsozialismus entschieden ablehnte, musste erfahren, dass ihr aus ideologischen Gründen ein entsprechendes akademisches Lehramt verweigert wurde. Immer wieder setzten sich Mitglieder der theologischen Fakultät, besonders Karl Heussi, für sie ein. Aber erst 1945 wurde sie zur besoldeten außerordentlichen Professorin mit Lehrstuhl ernannt und war damit die erste Frau auf einem theologischen Lehrstuhl. Drei Jahre später erfolgte schließlich die Ernennung zur Professorin mit vollem Lehrauftrag. Damit war Hanna Jursch vierzehn Jahre nach ihre Habilitation im akademischen Lehramt angekommen, in dem sie bis dahin z.T. unbezahlt gearbeitet hat. Hanna Jursch starb am 13. Juni 1972 in Jena.
Die Universität war ihr Lebens- und Wirkungsbereich. Doch für Hanna Jursch war dieser Wirkungsbereich nicht hermetisch abgeschlossen. Sie saß als Akademikerin nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Im Rektoratsjahr von Karl Heussi, das in die Zeit der Wirtschaftskrise fiel, erhielt sie tiefen Einblick in die sozialen Nöte der Studenten und besonders der Studentinnen und entwickelte entsprechende Hilfsaktionen. Den ganzheitlichen Blick für die Studierenden hat Hanna Jursch nie mehr verloren, er prägte ihre Lehre, ihre wissenschaftliche Arbeit und den Umgang mit den Studierenden. Selbst war sie bewusst nicht ordinierte Pfarrerin. Doch die Seelsorge an, die Beratung und Betreuung von Studierenden gehörte für sie mit zu ihren Aufgaben als akademische Lehrerin. Sie öffnete sich und ihre Wohnung als Begegnungsraum und Gegenraum in zwei totalitären Systemen. Regelmäßig publizierte Hanna Jursch für den Christlichen Hauskalender. Auch hier verließ sie selbstverständlich den akademischen Elfenbeinturm und war darauf bedacht, Christentum in der Welt und an die Welt zu vermitteln. Auch ihre zahlreichen Vortragstätigkeiten und die Arbeit in verschiedenen kirchlichen Gremien gehörten dazu.
Hanna Jurschs Thema war die Freiheit in Kirche und Theologie und die damit verbundene Weltoffenheit von Kirche und Theologie. Immer wieder drang sie darauf, Dichtung und Kunst in die Theologie einzubeziehen und ins Gespräch zu bringen. Diese Weltoffenheit basierte auf einem festgegründeten Glauben, der eine dem Menschen dienende Kirche und Theologie zum Ziel hatte. Die Wahrnehmung des Einzelnen als Ebenbild und Abglanz Gottes war ihr wesentliches Anliegen. Ihre Zuwendung zu den Menschen war in ihr Verständnis reformatorischer Theologie eingebunden. Damit setzte sie Impulse des allgemeinen Priestertums um. Zugleich stellte sie die Hinwendung zum Einzelnen in die reformatorische Tradition, die die individuelle Gottesbegegnung und -beziehung betont. Das Solus-Christus bestimmte sie in ihrer Haltung gegenüber den totalitären Systemen, in denen sie lebte, in dem Wissen, dass ihnen nicht das letzte Wort zukommt. Hanna Jursch war vom Warten auf Gott geprägt, sie war erfüllt mit einer heilsamen Unzufriedenheit mit den Dingen, so wie sie waren. Das Warten auf den Advent Gottes verbindet sie mit den Christinnen und Christen der ersten Gemeinden aber auch mit Luthers Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Christi.
Hanna Jurschs großes Interesse für christliche Archäologie und kirchliche Kunst haben sicher mit dazu beigetragen, dass das Wahrnehmen für sie zu einem zentralen Thema wurde. Wissenschaftliches Arbeiten und Seelsorge waren für sie zwei Modi des Sehens, die nicht voneinander zu trennen waren. Dieser Blick ist der akademischen Theologie heute an vielen Punkten abhandengekommen, genauso wie Hanna Jurschs Übersetzungstätigkeit des Christlichen und der Theologie in die säkularisierte Welt hinein. Nicht immer mag es sinnvoll sein, sofort nach dem Nutzen des Theologietreibens für das Hier und Jetzt zu fragen, doch wenn wir als Christinnen und Christen davon ausgehen, dass der christliche Glaube Relevanz besitzt, dann ist auch akademische Theologie immer wieder gefragt und aufgefordert, die Fragen der Welt für die Welt verständlich zu beantworten.