Helen Barrett Montgomery

Stimme der christlichen Frauenbewegung und Wegbereiterin des Weltgebetstags
Stimme der christlichen Frauenbewegung Helga Hiller
Lebensdaten
von 1861 - bis 1934
Unter weiteren Namen bekannt als:
Helen Barrett, Helen Montgomery
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Beziehungen

Eltern

Helen wurde am 31. Juli 1861 in Kingsville, Ohio, USA geboren. Ihre Eltern Adoniram Judson Barrett und Emily Barrows Barrett waren von Beruf Lehrer und Lehrerin und stammen beide von kleinen Farmen. Prägend war der Einfluss des Vaters, der sich neben seinem Unterricht an Dorfschulen unermüdlich fortbildet. Seine besondere Liebe gilt der Klassik mit Griechisch und Latein. Als er sich unter großen persönlichen Opfern an der neugegründeten Universität von Rochester einschreibt, folgt ihm die Familie dorthin. 1872 – Helen ist elf Jahre – folgt er dem Ruf in den pastoralen Dienst und studiert vier Jahre lang am baptistischen Rochester Theological Seminary. Er ist fasziniert vom Studium, und die Familie nimmt daran teil. Als Pastor an der Lake Avenue Baptist Church in Rochester von 1876 bis zu seinem plötzlichen Tod nach einer lebenslang ersehnten Überseereise 1889 erlebt Helen seine vielfältigen Gaben als Prediger, Lehrer, Seelsorger und kluger Leiter. Sie tritt in seine Fußstapfen, indem sie in dieser Gemeinde 44 Jahre lang eine Sonntagschul-Bibelklasse von zuletzt 200 Frauen unterrichtet und die Lizenz zum Predigen erhält. Für Helen erstrebt der Vater die bestmögliche Bildung, und so kann sie das kurz zuvor gegründete hervorragende Wellesley-Frauen-College und danach die renommierte Brown-Universität besuchen. Vom Studium ist sie begeistert, nur Griechisch möchte sie bald an den Nagel hängen, doch der Vater bleibt unnachgiebig, und bald darauf verliebt sie sich regelrecht in diese Sprache – und übersetzt später das Neue Testament. Mit 26 Jahren wird ihr von zwei Colleges das Amt der Präsidentin angeboten. Helens Eltern wünschen sich einen solchen Berufsweg für ihre Tochter. Doch sie entscheidet sich für die Heirat mit Will Montgomery, den sie am 6. September 1887 ehelicht.

 

Ehe und Familie

Ungewöhnlich und ihrer Zeit weit voraus ist die Ehe zwischen Helen und William Montgomery. „Es war eine ideale Ehe, glücklich bis zuletzt. Sie, die Intellektuelle, die College-Frau, lernte von ihm, dem Geschäftsmann, viele praktische Lektionen“ (Peabody 1934: 580). Will Montgomery war sich der Fähigkeiten und der hervorragenden Ausbildung seiner Frau bewusst. „Sie würde Dinge tun können, die ich nie tun konnte“, sagt er später. „Deshalb beschloss ich, mich nie einzumischen, wenn ein Ruf an sie erging“ (Peabody in Montgomery 1936: 127). Es behagt ihm durchaus, als Ehemann von Helen Montgomery vorgestellt zu werden. Wenn Helen unterwegs ist, kümmert sich Will um die Tochter und nimmt sie auch einmal zu einem Baseballspiel mit. Ein solches Rollenverständnis ist sicher schon eine Frucht der Frauenbewegung, in deren Genuss Helens Generation bereits kommt. Vor allem aber wurzelt es in beider Glauben. Der Freiraum, den sich beide gewähren, entspringt dem Bewusstsein der viel größeren Befreiung durch Christus. „Das Evangelium ist im Begriff, alle Gefängnisse, Privilegien und jede Unterdrückung zu zerbrechen. Vielleicht wird das Gefängnis des Geschlechts das letzte Gefängnis sein, das zerbrochen werden wird“, schreibt Helen (vgl. dazu Hiller 1998: 119, zitiert nach Montgomery 1919: 206). Beide verstehen diese Befreiung als uneingeschränkte Befreiung zum Dienst am Evangelium, zum Teilen von Geld und Zeit. Als Will es riskiert, sein ganzes Geld zunächst ohne Erfolg auf die Erfindung eines jungen Mannes – einen Zünder für Automobile – zu setzen und sie ihr Haus verkaufen müssen, ist Helen ebenso unerschütterlich an seiner Seite wie später, als das Risiko sich zu einem großen Erfolg entwickelt und sie sehr wohlhabend werden. Zeitlebens geben sie alles Geld, das sie erübrigen können, für gute Zwecke, später auch in ihrem Testament. Ihre Zeit zu teilen ist für beide die größere Entbehrung. Aber „wenn unsere Missionarinnen tun, was sie tun müssen, habe ich kein Recht, dich zurückzuhalten,“ sagt Will, als es darum geht, dass Helen im Jahr des großen Jubiläums der Frauen-Missionsgesellschaften 1910/11 monatelang von zu Hause weg sein würde (Peabody in Montgomery 1936: 122). Auch die Weltreise 1913/14 mit Lucy Peabody und den erwachsenen Töchtern der beiden unterstützt Will uneingeschränkt. „Auf seine Loyalität, die feststand wie ein Fels, konnte man sich verlassen. Sie war ein sicheres Fundament für den Beruf einer bedeutenden Frau“ (Peabody in Montgomery 1936: 127).

 

Mentorin und Freundin Susan B. Anthony (1820-1906)

Susan B. Anthony, eineder drei führenden Frauen der Frauenrechtsbewegung der USA und des trotz Rückschlägen verstärkt fortgeführten jahrzehntelangen Kampfes um das Frauenwahlrecht, lebt in Rochester und wird Helens Mentorin. Die 41 Jahre ältere Freundin erkennt die Begabung der Jüngeren und sieht in ihr eine Nachfolgerin. Im Kampf um die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen und der Lage sozial benachteiligter Frauen gründen beide 1893 die Woman’s Educational and Industrial Union of Rochester (WEIU), deren erste Präsidentin Helen Barrett Montgomery wird, und erreichen 1900 die Zulassung von Frauen an die Universität von Rochester. Die Wahl Helen Barrett Montgomery‘s 1899 in den Board of Education von Rochester, als höchstes politisches Gremium für das gesamte Schulwesen der Stadt verantwortlich, stellt als erstes öffentliches Amt für eine Frau in der Stadt einen Paradigmenwechsel dar, und Helen Barrett Montgomery nutzt die Position als Schulkommissarin in äußerst effektiver Weise zur Verbesserung der Schulen und zugunsten von Frauen.

 

Lebenslange enge Zusammenarbeit und Freundschaft mit Lucy Waterbury Peabody

Dass neben Helen Barrett Montgomery’s politisches Engagement für Frauen ein ständig wachsendes Engagement in der baptistischen Frauenarbeit und ein lebenslanges vielfältiges Eintreten für Frauen in Weltmission und Ökumene tritt, ist einer entscheidenden Begegnung des Jahres 1887 zu verdanken.

Bei einer öffentlichen Podiumsveranstaltung einer baptistischen Kirche in Rochester begegnen sich zwei junge 26-jährige Frauen zum ersten Mal: Helen Barrett Montgomery und die kurz zuvor mit zwei kleinen Kindern aus Indien zurückgekehrte, verwitwete Missionarin Lucy Waterbury (ab 1896 verh. Peabody, 1898 verwitwet, nun materiell gut gestellt). „Weil wir zum ersten Mal vor einem baptistischen Auditorium sprachen, hatten wir beide schreckliches Lampenfieber, spürten aber auch sofort gegenseitige Sympathie und Liebe, die all die Jahre überdauert haben“ (Peabody 1921: 493).

„Jung, schön, strahlend, voll unwiderstehlicher Anziehungskraft, begrüßte sie mich […] wie eine Freundin, nicht wie eine Fremde. Wir lebten beide in Rochester und trafen uns von nun an oft in der Baptistischen Amerikanischen Frauengesellschaft für Äußere Mission.“ „Sie war eine gefragte Rednerin vor Frauenclubs, politischen Gruppen und College-Gesellschaften […]“ (Peabody 1934: 580).

„Ihre besondere Hingabe galt der Erziehung und Bildung von Frauen, und darunter verstand sie vor allem die Vorzüge, die sie selbst genossen hatte, besonders am Wellesley-College. Was sie empfangen hatte, erhielt seinen wahren Wert erst, wenn es geteilt wurde“ (Peabody in Montgomery 1936: 116), erinnert sich Lucy später.

Die lebenslange Freundschaft der beiden ist äußerst kreativ und produktiv. Beide Frauen sind überzeugte Baptistinnen, aber genauso unermüdlich treten sie für ökumenische Zusammenarbeit ein und regen eine Vielzahl ökumenischer Projekte an, von denen einige sie überdauern. In Deutschland kennen wir beide besonders als Wegbereiterinnen des ökumenischen Weltgebetstags der Frauen. Beide begabte Rednerinnen und Organisatorinnen, ergänzen und inspirieren sie sich gegenseitig. Manchmal übernimmt die eine wichtige Führungspositionen, während die andere sie schwesterlich aus dem Hintergrund unterstützt, manchmal die andere. Dabei scheuen sie beide weder das Risiko noch offene Worte. Obwohl Lucy in späteren Jahren in manchem konservativer wird als Helen: das bleibende Engagement der beiden gilt sowohl der ökumenischen Kooperation mit anderen Kirchen als auch einem ganzheitlichen Verständnis von Mission, das vor allem die amerikanischen Frauen in ihren Frauen-Missionsgesellschaften entwickelt und in die Tat umgesetzt haben. Mission beschränkt sich in ihrem Verständnis nicht auf das Predigen, sondern die Weitergabe der befreienden Botschaft des Evangeliums geschieht auch im Unterrichten, im Heilen, im sozialen Dienst und im nachdrücklichen Eintreten für Frauen.

So verwirklichen Helen Montgomery und Lucy Waterbury Peabody, was so selten gelingt – Zusammenarbeit aus Vertrauen, ohne heimliche oder offene Konkurrenz. Beide verbindet gelebter persönlicher Glaube und eine Vision des Reiches Gottes, in dem „nicht Männer noch Frauen, nicht Sklaven noch Freie“ sind, sondern in dem alle eins sind in Christus Jesus. In den letzten Lebensjahren von Helen treffen sich die beiden Freundinnen jeden Winter in Florida, wo sie beide Winterwohnungen haben.

 

Stellvertreterin (Platzhalterin) für viele: Beziehung zu den Frauen der Kirchen, Respekt vor jedem Menschen:

„Sie war dazu berufen, hervorragend zu sein und blieb doch mitten im alltäglichen Leben. Sie stand auf Podien und Kanzeln, aber sie stand nie erhöht. Ihre Füße gingen auf dem Pflaster, auf dem auch wir übrigen gehen müssen, aber sie war mit denen, die zu ihr aufsahen als Führende, auf Du und Du. Ihre eine Hand wurde gehalten von der Hand über ihr, die andere Hand war ausgestreckt für jeden Menschen, der die helfende Hand einer Freundin brauchte.“ So formulierte ein/e anonym gebliebene/r Zeitgenosse/in Helens Grundverständnis ihrer Beziehung zu anderen Menschen (P.W.W., Einleitung zu Montgomery 1936: 11). An erster Stelle stehen dabei die Frauen ihrer eigenen Kirche. In den Jahrzehnten des Gesprächs mit ihrer Sonntagsschulklasse und in ihren Predigten an vielen Sonntagen formen sich ihre theologischen Einsichten. In ihren Präsidentschaften in Frauenorganisationen, in ihrer Kirche und der Ökumene verstand sie sich immer als ihre Stellvertreterin, so ausgedrückt am Ende ihrer Kirchenpräsidentschaft: „Ich weiß, dass ich Eure Vertreterin war und dass meine Wahl von Seiten unserer Kirche eine Anerkennung der wirkungsvollen Arbeit der Frauenorganisationen zu Hause und in anderen Ländern war […]. Eure Unterstützung wird mich zu einer besseren und mutigeren Frau machen“ (vgl. dazu Hiller 1998: 116; Missions Magazine 13, Nr. 7, July 1922, 407; vollständiger Text auch Ruether/Keller: 285f.). Im Bibelunterricht bei einer Klasse von Straßenjungen, die ihr anschließend bewegende Dankeskarten schreiben, begreift sie zum ersten Mal die Notwendigkeit einer Bibelübersetzung in die Alltagssprache. Sie begegnet jedem Menschen mit Verständnis und Respekt.“ „Sie lebte, was sie predigte“ (Montgomery 1936: 94). „Sie war stark, um zu stärken“ (Montgomery 1936: 13). „Sie war groß, weil sie mehr war, als sie zu sein schien“ (Montgomery 1936: 11).

Wirkungsbereich

Baptistische Gemeinde

Die baptistische Gemeinde ist für Helen Heimat von Kindheit an. Mit 15 Jahren wird sie von ihrem Vater in der von ihm neu übernommenen Lake Avenue Baptist Church in Rochester getauft. In dieser Gemeinde sind sie und ihr Mann Will ihr Leben lang aktiv (s.o.). Kennzeichen des Baptistentums: Erwachsenentaufe, Mündigkeit der getauften ChristInnen, Eigenständigkeit der Einzelgemeinde, für die samt ihrer Wohltätigkeit die Gemeindeglieder allein aufkommen, die Bibel als alleinige Grundlage von Glauben, Dienst und Lebensführung. Die Einzelgemeinden sind in einem synodalen Verband mit demokratischer Verfassung zusammengeschlossen, im konkreten Fall in der Northern Baptist Convention. Außerdem arbeiten sie in übergemeindlichen Werken für Innere und Äußere Mission zusammen. In der Geschichte von Einzelgemeinden und Gesamtkirche sind heftige Auseinandersetzungen bis hin zu Spaltungen nicht selten – vor allem zwischen sittenstrengen, mehr fundamentalistischen Gruppen und den liberalen Gruppen, welche die Befreiung durch das Evangelium und soziale Verantwortung betonen. Am baptistischen Rochester Theological Seminary lehrte ab 1897 der in Deutschland aufgewachsene Walter Rauschenbusch (1861-1918), der als Begründer der Theologie des „Social Gospel“ gilt.

 

Politische Gemeinde

Engagement in der kirchlichen und der politischen Gemeinde gehören in der amerikanischen Gesellschaft bis heute nahe zusammen, sie entspringen nach ihrem immer noch vorwiegenden Verständnis beide christlicher Verantwortung. Helen Barrett Montgomery gehört zu einer Generation, die in ihrer Ausbildung von den Errungenschaften der Frauenbewegung profitiert und im öffentlichen Leben auf den bisher erkämpften, wenn auch unvollständigen Errungenschaften aufbauen kann. Helen soll noch während ihrer Lebenszeit die längst fällige Einführung des Wahlrechts für Frauen erleben. In Rochester ist man an die öffentliche Präsenz von Frauen gewöhnt. Jüngere Frauen mit Führungsqualitäten werden dringend gebraucht. Es ist sicher Susan B. Anthonys Hartnäckigkeit zu verdanken, dass Helens erster großer Wirkungsbereich die Lokalpolitik wird.

Eindrucksvoll ist, wie Helen Barrett Montgomery von Beginn an ihre öffentlichen Positionen gestaltend nutzt, um konkrete Verbesserungen und Veränderungen für Frauen und Kinder zu erreichen. Während ihrer 18 Jahre als Präsidentin der WEIU von Rochester (1893-1911) sind die Zielgruppe vor allem die Frauen und Kinder der armen Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, die Rochester wegen seiner industriellen Arbeitsplätze anzieht. Für sie richtet die WEIU ein Rechtshilfebüro ein, legt öffentliche Kinderspielplätze an, gründet ein „Mittagsruhehaus“, in dem arbeitende Mädchen unbelästigt essen können, und eröffnet Verteilstationen für sichere Milch, aus denen später öffentliche Gesundheitszentren werden. Dabei entwickelt sich die WEIU zu einer der progressivsten Institutionen in der Stadt.

Als Pädagogin liegt Helen Barrett Montgomery das Erziehungs- und Bildungswesen besonders am Herzen. Lebenslang kämpft sie dabei für gleiche Rechte für Frauen. Ihre bahnbrechende Wahl in den School Board wird außer von den Frauen auch von Bürgergruppen unterstützt, die die herrschende politische Hierarchie kritisieren, sie benutze Schulpolitik für eigennützige politische Interessen. Während ihrer zehn Jahre als Schulkommissarin (1899-1909) ist Helen Barrett Montgomery die treibende Kraft für Reformen – einschließlich der Einführung von Kindergärten, Berufsbildung und Gesundheitserziehung. Bahnbrechend ist auch ihr Einsatz für die Öffnung der Schulen als Gemeinschafts- und Sozialzentren in ärmeren Vierteln. Typisch für die USA der damaligen Zeit ist die Art, wie Susan B. Anthony und Helen Barrett Montgomery schließlich die Zulassung von Frauen an die Universität von Rochester erreichen: Als letzte Bedingung fordert das Kuratorium der Universität, dass die Frauengruppen Spenden in Höhe von 100 000 $ beschaffen, damals ein riesige Summe. Nicht zuletzt dank Helens unermüdlichem Einsatz gelingt es, bis 1900 die Hälfte der Summe zusammenzubringen – das Kuratorium gibt sich zufrieden. Heute sind an der Colgate Rochester Crozer Divinity School eine Stiftung für Frauenstudien und eine jährliche Vorlesungsreihe nach Helen Barrett Montgomery benannt, ebenso eine Grundschule in Rochester.

 

Von Rochester auf die nationale und internationale Bühne: Frauenmission, Ökumene, Rednerin, Autorin, Kirchenpräsidentin, Bibelübersetzerin

Die Fülle an Arbeitsfeldern und Projekten, auf die sich Helen Barrett Montgomery in der zweiten Hälfte ihres Wirkens im Dienst von Frauen und Kirche, von Weltmission und Ökumene, einlässt, ist atemberaubend. Sie verschließt sich nicht, wenn neue Aufgaben auf sie zukommen. Dabei versteht sie sich nie als Solistin, sondern als Teil einer großen Bewegung, die von der befreienden Botschaft des Evangeliums weitergetragen wird. Die Begegnung und Freundschaft mit Lucy Waterbury-Peabody gibt dabei den entscheidenden Anstoß, den Schwerpunkt zunehmend auf kirchliche Frauenarbeit zu legen.

Sehr früh beginnen Frauen in den USA, in Kanada und in Großbritannien sich mit der Lage von Frauen und Kindern in Missionsländern zu befassen. Trotz männlichen Widerstands gründen sie ab 1833 (Großbritannien) bzw. ab 1861 (USA) eigene Frauenmissionsgesellschaften, um unverheiratete Missionarinnen entsenden und Frauen und Kinder mit verschiedenen Formen missionarischen Dienstes erreichen und unterstützen zu können. Die Frauenmissionswerke entwickeln sich bald zu Organisationen von beeindruckender Stärke. Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsarbeit und Evangelisation durch Frauen gehen in dieser „Frauenarbeit für Frauen“ eine enge Verbindung ein. Dabei bemühen sich die Frauen schon sehr früh, die Grenzen der eigenen Denomination zu überschreiten und zusammenzuarbeiten.

Lucy Waterbury braucht als Witwe, die eine Familie unterhalten muss, einen Brotberuf. Im August 1889 wird sie hauptamtliche Sekretärin für die Inlandsarbeit der 1871 gegründeten Baptistischen Frauen-Missionsgesellschaft des Ostens für Äußere Mission und lebt ab da in Boston. Auch Helen beginnt, sich ehrenamtlich zu engagieren, zunächst als regionale Jugendsekretärin der Gesellschaft. 1891 berichtet Lucy zum ersten Mal bei einer Jahreskonferenz über einen Gebetstag für Äußere Mission der baptistischen Frauen, der von nun an jedes Jahr ganztägig stattfindet. Zur Veröffentlichung dient die Zeitschrift „Helping Hand“ der baptistischen Frauenmissionsgesellschaften, an der Lucy und Helen mitarbeiten. Helen wird später die Herausgeberin. Ab 1914 wird sie viele Jahre lang zur Präsidentin der nunmehr vereinigten Woman’s American Baptist Foreign Mission Society gewählt.

 

Ökumenische Frauen-Studienbücher und Studienarbeit für die Äußere Mission – Schriftstellerin und Pädagogin

Der Wille, auch weltweit ökumenisch zusammenzuarbeiten, führt schon 1888 in bei der Weltmissionskonferenz in London zur Gründung eines Weltmissionskomitees Christlicher Frauen. Dieses Komitee gibt während der Weltmissionskonferenz in New York im Jahr 1900 den Anstoß zu einer weltweit einmaligen Serie von Frauen-Studienbüchern zur Mission. „Wir kamen zu der Ansicht, daß wir Wissen brauchten“, berichtet Lucy Waterbury. Verlässliches schriftliches Material über Mission wird als dringendste Notwendigkeit angesehen. Die Frauen gründen das „Zentralkomitee zum Vereinigten Studium der Äußeren Mission“ („Central Committee on the United Study of Foreign Missions“, hier abgekürzt „Zentralkomitee“). Das Zentralkomitee ist eines der ersten großen interkonfessionellen Projekte. Zunächst international konzipiert, wird das Komitee faktisch ein USA-Komitee. Nach dem plötzlichen Tod der ersten Vorsitzenden Abbie Child übernimmt Lucy Waterbury 1902 den Vorsitz. Mit ihrer ganzen Dynamik und Weitsicht leitet sie das Komitee 28 Jahre lang bis 1930. Schon das erste Studienbuch 1901, eine Geschichte der Mission von der apostolischen Zeit bis zur Gegenwart, wird mit 50 000 Exemplaren ein unerwarteter Erfolg. Bis 1938 erscheinen 38 Bände. Allein bis 1927 werden über 4 Millionen Studienbücher verkauft. Zu jedem Buch gibt es methodische Anleitungen zur Verwendung in Studiengruppen. Das Zentralkomitee findet brillante Autorinnen, die dann auch zusammen mit heimgekehrten Missionarinnen in großen ökumenischen Sommer-Studienkonferenzen unterrichten. Außerdem studieren zahllose Gruppen vor Ort in Winterkursen das jeweilige Studienbuch. Die meistgelesene Autorin wird Helen Barrett Montgomery. Ihrem 1906 erscheinenden Buch „Christus Redemptor: An Outline Study of the Islands of the Pacific“ („Christus der Erlöser – Eine Studienskizze über die Pazifischen Inseln“) folgen bis 1929 fünf weitere Bücher, von denen mehrere mit jeweils über 150 000 verkauften Exemplaren zu Bestsellern werden. Sie schreibt außerdem die Arbeitshilfen zu vielen anderen Bänden.

 

1910 bis 1914: Ökumenische Höhepunkte am Vorabend des Weltkriegs – Höhepunkte der Wirksamkeit von Helen Barrett Montgomery und Lucy Peabody

Die Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 wird allgemein als Höhepunkt in der bisherigen Geschichte der Weltmission und als eigentlicher Ausgangspunkt der ökumenischen Bewegung gesehen. Sie vermittelt ein neues Bewusstsein von Einheit und Zusammenarbeit an einem großen Werk der Weltmission, und sie macht den westlichen Kirchen klar, dass sie in den jungen Kirchen nun ein Gegenüber haben. Etwa 200 Frauen, die z.T. eigene Missionswerke vertreten, nehmen als Delegierte teil, weitere Hunderte kommen auf eigene Kosten. Helen Barrett Montgomery ist eine von weltweit drei Frauen in den Vorbereitungskommissionen, nimmt aber ebenso wie Lucy Peabody nicht an der Konferenz teil. Die Konferenz entschließt sich am Ende zu dem entscheidenden Schritt, ein ständiges Organ internationaler Zusammenarbeit einzurichten, den Fortsetzungsausschuss von Edinburgh, aus dem später der Internationale Missionsrat hervorgeht. Unter seinen 39 Mitgliedern ist Lucy Peabody eine von zwei Frauen. In die Bildungskommission des Fortsetzungsausschusses werden Helen Barrett Montgomery und Lucy Peabody berufen und zeichnen sich in den folgenden Jahren durch kreative Vorschläge aus. Nicht zu übersehen ist, dass Frauen durch ihre Basis- und Breitenarbeit in Gemeinden und Kirchen eine viel entscheidendere Rolle bei der Entstehung der ökumenischen Bewegung spielen, als bisher wahrgenommen. In den allgemeinen Darstellungen der Geschichte von Mission und Ökumene bleiben sie freilich ebenso wie die Namen ihrer führenden Frauen unsichtbar.

Dies gilt auch für den nächsten Höhepunkt, das im Winter 1910/11 landesweit gefeierte 50-jährige Jubiläum der Frauenmissionsgesellschaften für Äußere Mission in den USA,das bis dahin eindrucksvollste Ereignis in der Frauen-Kirchengeschichte. Dieses Jubiläum erreicht Hunderttausende von Frauen an der Basis in ein- bis zweitägigen ökumenischen Veranstaltungen. Es bringt ihnen ins Bewusstsein, was Frauen in 50 Jahren kooperativen Einsatzes in der Mission bewirken konnten, seit sie begannen, in eigener Initiative und Verantwortung Frauen auszusenden und „Frauenarbeit für die Frau“ zu machen. Es zeigt die organisatorische Leistung in diesem halben Jahrhundert auf, die sich in 40 Mio $ Spendenaufkommen, vor allem aber in einem in Zahlen nicht fassbarem ehren- und hauptamtlichem Lebenseinsatz von Frauen in der Heimat und auf dem Missionsfeld ausdrücken. Das Jubiläum gibt dem ganzheitlichen Ansatz von Mission öffentlichen Ausdruck, den die Frauen entwickelt haben. Es öffnet und vergewissert zahllose Frauen ihres eigenen Glaubens im Welthorizont und im Engagement für Zukunftsprojekte wie die Frauencolleges in Asien. Für diese ist der größte Teil der Jubiläumskollekte von 1 Mio $ (Gegenwert 2010: ca. 23,7 Mio US $) bestimmt.

Die Idee, das Jubiläum in großem Stil zu feiern, stammt von Lucy Peabody. Helen Barrett Montgomery schreibt aus Anlass des Jubiläums und zum 10-jährigen Bestehen des „Zentralkomitees“ ihr Buch „Western Women in Eastern Lands“ („Frauen des Westens in Ländern des Ostens“), eine Geschichte der Frauen-Missionsbewegung. Sechs Wochen nach Erscheinen sind bereits 50 000 Exemplare verkauft. In unglaublich kurzer Zeit gelingt durch konsequente Teamarbeit die organisatorische Vorbereitung für Großveranstaltungen und ebenso zahllose Veranstaltungen an kleineren Orten. Helen Barrett Montgomery und Lucy Peabody sind die Hauptstützen des in der Zusammensetzung wechselnden Rednerinnen-Teams. Allein Helen Barrett Montgomery hält in 8 Wochen fast 200 Reden, und eine von ihr verfasste Spielszene erntet stürmischen Beifall. Bis zum Frühjahr 1911 zieht eine Welle der Inspiration und Motivation von der Westküste bis an die Ostküste über das Land. Aus zwei (männlichen) Kommentaren: „Die Zeit scheint vorüber zu sein, in der Frauen nicht zu hören sind“ (Cattan: 60). Und: „Was für eine Revolution! Friedlich, spirituell und sozial!“ (The Watchman, April 23, 1911).

Nach dem Jubiläum, das ökumenische Gemeinschaft gestiftet und vertieft hat, entstehen überall im Land örtliche ökumenische Frauenräte und -vereinigungen. Auch für die Verantwortlichen der Frauenwerke für Äußere Mission ist klar: Gemeinsam können wir mehr erreichen als getrennt. So wird 1912 als erste Konsequenz unter der Führung von Lucy Peabody die organisatorisch engere Zusammenarbeit der Frauenwerke in einer „Federation“, einem „Bund“, vollzogen. Die Präsidentin wird jeweils für ein Jahr gewählt. 1917/18 ist es Helen Barrett Montgomery. Zugleich wird ein interkonfessioneller/ökumenischer Gebetstag für die Äußere Mission ins Leben gerufen, der im Januar 1913 zum ersten Mal gefeiert wird. Über den Anlass und die Datierung dieses Gebetstags gibt immer noch vielerlei nicht korrekte Angaben. Die obigen Angaben ergeben sich eindeutig aus der Vierteljahreszeitschrift der neuen Federation.

Von November 1913 bis April 1914 nehmen Lucy Peabody und Helen Barrett Montgomery eine alle ihre bisherigen Erfahrungen übersteigende Herausforderung an und brechen mit ihren beiden Töchtern, beide College-Absolventinnen, zu einer halbjährigen Weltreise auf. Sie reisen im Auftrag des Zentralkomitees, das ein neues Studienbuch braucht, und der Bildungskommission des Fortsetzungsausschusses von Edinburgh. Beide Gremien sehen inzwischen die Hochschulbildung von Frauen, vor allem die Gründung von Frauencolleges in Asien, als dringende Aufgabe an. Die beiden Frauen sollen in allen Ländern, die sie besuchen, insbesondere die Bildungssituation von Frauen studieren. Während in den Jahrzehnten christlicher Schularbeit Mädchen allmählich eine bessere Schulbildung bis hin zur Sekundarstufe erhalten haben, stehen sie vor verschlossenen Türen, wenn sie z.B. Ärztinnen oder Lehrerinnen werden wollen, die ja dringend gebraucht werden. Auftakt der Reise ist Lucy Peabody‘s Teilnahme an einer Sitzung des Fortsetzungsausschusses in Holland, für die Frauen verbunden mit einem Empfang bei der an ihrer Arbeit und ihren Plänen äußerst interessierten Königin Wilhelmina. Über Ägypten und Ceylon reisen die Frauen nach Indien. Dort und später in Birma, China und Japan absolvieren sie ein anstrengendes Programm, um bestehende Schulen und Colleges aller Denominationen und deren Bildungskonzepte kennenzulernen und Daten für künftige Konzeptionen zu gewinnen, bis hin zum Bedarf an Gebäuden und Einrichtung. Sie führen zahllose Gespräche mit Unterrichtenden und nehmen an Konferenzen mit Verantwortlichen aus Missionsgesellschaften und staatlichen Behörden teil. Wesentlich ist, dass neue Gründungen Unions-College sein sollen, das heißt von Missionsgesellschaften verschiedener Konfessionen und Länder gemeinsam betrieben. Angesichts der Bevölkerungszahlen in Asien erleben die Frauen überall, wie viel mehr ausgebildete Menschen nötig wären, um medizinisch, pädagogisch und sozial zu helfen, welche Möglichkeiten sich aber auch für Frauen in diesen Bereichen eröffnen. Von theologischer Hochschulbildung für Frauen ist damals noch nicht die Rede, aber vor allem in China sind Schulen für biblische Ausbildung von Frauen im Entstehen. Helen gibt im Studienbuch „The King’s Highway“ („Die Straße des Königs“) im Jahr 1915 einen umfassenden Reisebericht, der mit einer Auflage von 160000 wieder eine große LeserInnenschaft erreicht. Norma Waterbury schreibt über die Reise ein Studienbuch für die Jugend „Around the World with Jack and Janet“ („Um die Welt mit Jack und Janet“).

 

Wegweisende ökumenische Projekte nach 1915

Nach ihrer Rückkehr berichten Lucy Peabody und Helen Barrett Montgomery 1915 der Interkonfessionellen Frauenkonferenz, die sich über die Dringlichkeit von Frauen-Colleges ebenso einig ist wie darüber, dass neu zu gründende Frauen-Colleges Union-Colleges sein sollen. Zugleich wird ein Ausschuss für Union-Colleges eingesetzt. Zwischen 1915 und 1918 nehmen vier solche Colleges in Asien ihre Arbeit auf. Damit beginnt ein jahrzehntelanges ökumenisches Engagement der amerikanischen Frauen für insgesamt sieben Frauen-Colleges in Asien. 1921/22 werden unter Führung von Lucy Peabody in einer landesweiten Kampagne, die auch das neue Medium Radio effektiv einsetzt, 3 Mio $ dafür zusammengebracht. Wichtigster Faktor wird später die jahrzehntelange Bestimmung eines Teils der amerikanischen Weltgebetstagskollekte für die Frauencolleges.

Der 1. Weltkrieg, in dem christliche Nationen mit nie dagewesener Brutalität gegeneinander Krieg führen, erschüttert die amerikanischen Frauen zutiefst. Ihre Überzeugung wächst, dass Missionsbewegung, Friedensarbeit und Weltfreundschaft untrennbar verbunden sein müssen. Überwindung von Zersplitterung, Einheit und Zusammenarbeit werden Prioritäten. So wird ein schon länger gehegter Plan 1920 umgesetzt: Der schon seit 1897 interkonfessionell gefeierte Gebetstag der Frauen für Innere Mission und der Gebetstag für Äußere Mission werden zusammengelegt. Der gemeinsame Gebetstag nimmt in wenigen Jahren einen unglaublichen Aufschwung. Bald schließt sich Kanada an. Für 1926 schreibt Helen Barrett Montgomery die Gottesdienstordnung. 1926/1927 setzen die nordamerikanischen Frauen den Gedanken der Weltfreundschaft um: Sie verschicken die Gottesdienstordnung weltweit. Der Tag wird 1927 zum Weltgebetstag am 1. Freitag in der Passionszeit.

 

Präsidentin einer großen Kirche: Höchstes Leitungsamt für eine Frau weltweit

1921 wird Helen Barrett Montgomery von der Synode für ein Jahr zur Präsidentin der Northern Baptist Convention gewählt. Sie ist damit weltweit die erste Frau an der Spitze einer großen Kirche. Sie versteht ihre Wahl auch als Anerkennung des großen Beitrags der baptistischen Frauen für Mission und Kirche. Die Northern Baptist Convention geht in dieser Zeit durch die Krise eines Fundamentalistenstreits. Der Angriff der Fundamentalisten gilt u. a. der ökumenischen Kooperation mit anderen Kirchen und einem ganzheitlichen Missionsverständnis. Helen Barrett Montgomery leitet die Kirche mit demokratischer Offenheit und theologischer Weisheit durch diese schwere Krise und bewahrt sie bei der Jahreskonferenz 1922 in Indianapolis durch kluge Leitung vor der Spaltung. Die fast 2000 Synodalen lehnen mit großer Mehrheit ein fundamentalistisches Glaubensbekenntnis ab und bekräftigen stattdessen, „dass das Neue Testament genügender Grund unseres Glaubens und Handelns ist und dass wir keine andere Erklärung brauchen“.

 

Übersetzung des Neuen Testaments

Helen Barrett Montgomery‘s Bücher enthalten vielfältige explizite biblische Bezüge. Ihre Liebe zum Neuen Testament und seiner Ursprache, ihre jahrzehntelang praktizierte Frauen-Bibelarbeit und dazu ein Schlüsselerlebnis beim Unterricht von Straßenjungen, die die altertümliche Sprache der King-James-Übersetzung nicht verstehen, inspirieren sie zu einem großen Projekt: Der ersten Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Englische durch eine Frau – in modernem Englisch, durch Überschriften erschlossen und an vielen Stellen in frauengemäßer Sprache. Dabei schöpfte Helen Barrett Montgomery aus einer Sammlung „Gottes Wort für Frauen“, die die methodistische Missionarin Katherine C. Bushnell veröffentlicht hat. Die „Centenary Translation of the New Testament“ wird 1924 zum hundertjährigen Jubiläum der baptistischen Bibelgesellschaft gedruckt und 1997 mit einer Einleitung neu aufgelegt (mit demselben Schriftbild nachgedruckt).

 

Auflösung der Frauenmissionswerke

In ihrer letzten Lebensphase erlebt Helen Barrett Montgomery noch eine Entwicklung, gegen die sie sich immer leidenschaftlich gewehrt hat. Schon in Edinburgh 1910 hatte die Kommission Sechs die Frage gestellt, ob die Zeit nicht reif sei für einen Zusammenschluss oder wenigstens eine Kooperation der Frauenmissionswerke mit den allgemeinen Missionswerken. Gegen den Widerstand der Frauen werden ihre Werke in den folgenden beiden Jahrzehnten im Zuge von Umstrukturierungen in die allgemeinen Missionswerke der Denominationen eingegliedert. Zusagen über die partnerschaftliche Beteiligung der Frauen an der Leitung der Gesamtwerke, über die Beibehaltung der Verantwortung für ihre Arbeitsbereiche und die eigenständige Weiterführung der bisher von ihnen betriebenen Einrichtungen werden in vielen Fällen nur kurze Zeit eingehalten und dann ignoriert oder vergessen. Dana L. Robert nennt dies „ein deprimierendes Kapitel der Missionsgeschichte“ (Robert: 303). Enttäuschung und Ohnmachtserfahrung veranlassen die Frauen dann umso mehr, sich für die Rechte von Laien und für die Frauenordination einzusetzen und nach Frauenrechten innerhalb der Kirche zu fragen. Nur den Frauen der American Baptist Convention und der United Methodist Churchgelingt es, bis 1955 bzw. bis heute Einfluss und Wirkungsbereich in Gestalt eines eigenen Missionswerks bzw. einer eigenständigen Missionsabteilung zu erhalten (vgl. Hiller 2006: 79ff.). Über die Weltmissionskonferenz 1928 in Jerusalem schreibt Helen ihr letztes Studienbuch „Von Jerusalem nach Jerusalem“ (1929). Hier entwickelt sie eine Missiologie der Partnerschaft. Sie gibt einen Überblick über die Geschichte der Mission von Pfingsten bis zur jetzigen Versammlung von ChristInnen und Kirchen aus aller Welt. Mit theologischem Scharfblick, der das ökumenische Missionsverständnis späterer Jahrzehnte vorwegnimmt, vertritt Helen Barrett Montgomery die Auffassung, dass der Missionsgedanke dem Evangelium selbst inhärent ist und nicht nur dem ausdrücklichen Missionsbefehl von Mt 28 entspringt. Gottes Heilsplan, also das Reich Gottes, gelte allen Menschen. Dass Mission keine Einbahnstraße von den westlichen zu den „jungen“ Kirchen mehr sein kann, verbindet sie mit dem Hinweis, auf „heidnische Bereiche mitten im Herzen der Christenheit“, und sie rechnet diese zu den Gebieten, die vom Evangelium nicht erreicht sind. Als solche Bereiche nennt sie den Weltkrieg, den Rassismus, die ungerechten Handelspraktiken, die Ehescheidung, den Imperialismus und den Alkoholmissbrauch (vgl. Robert: 280ff.; u. Hiller 2006: 288f.).

Förderung junger Frauen, wie sie es selbst durch S.B. Anthony erlebt hat, liegt auch Helen am Herzen. Margaret Applegarth, eine in Rochester aufgewachsene Baptistin, wird schon früh von Helen Barrett Montgomery gefördert und für größere Aufgaben vorgeschlagen. Applegarth übernimmt von 1938 bis 1946 den Vorsitz des amerikanischen, damals weltweit zuständigen Weltgebetstagskomitees und leistet durch den 2. Weltkrieg hindurch großartige Arbeit.

Helen Barrett Montgomery‘s Lebensleistung und insbesondere ihre akademische Leistung wird von mehreren amerikanischen Colleges und Universitäten mit Ehrendoktortiteln gewürdigt.

In einer Würdigung durch Lucy Peabody nach Helens Tod am 19. Oktober 1934 kommen noch einmal deren Persönlichkeit und Wirken zum Ausdruck. Lucy berichtet über eines ihrer letzten Treffen in Florida: „Vergangenen März kam sie mit ihrem Bruder, Professor Storrs Barrett, und seiner Frau von St. Petersburg herüber und war ihr warmes, strahlendes Selbst. Geschwächte Gesundheit war unwichtig. Tage voll Sonne, Blumen und Erinnerungen mit einer Gruppe von FreundInnen, die zu einer ‚Überraschungsparty‘ zusammenkamen, machten den Besuch zu einem Höhepunkt unserer Freundschaft […]. Sie war und dachte international lange bevor die meisten amerikanischen Frauen zu diesem Bewusstsein erwachten. Sie erkannte, dass Mission die einzig erfolgversprechende Perspektive für die Welt ist: gegründet im Glauben an Jesus Christus nichts wollen als Weltfreundschaft […]“ (Peabody 1934: 581).

Reformatorische Impulse

Helen wächst auf in einer Familie mit tiefen Wurzeln in der baptistischen Tradition und Gemeinde.  Wesentliche Elemente des Baptistentums sind Glaubenstaufe in Gestalt von Erwachsenentaufe,  Priestertum aller Gläubigen, Vertrauen auf die grundlegenden reformatorischen Prinzipien von sola gratia, sola fide, sola scriptura, solus Christus, Verantwortung jedes Christen/ jeder Christin für die Aufgaben der Einzelgemeinde nach innen und nach außen und aktive Beteiligung an der Gestaltung des Gemeindelebens, Ablehnung jedes hierarchischen Denkens.  Auch dank ihres Elternhauses erfährt Helen  diese Tradition und ihre Umsetzung vor allem in ihren befreienden und ermächtigenden Aspekten. Dabei hat sie es als Chance erlebt, in eine Zeit geschichtlicher Auf- und Umbrüche  hineingeboren zu sein. Die über hundertjährige Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika musste und muss sich damals der Herausforderung stellen, endlich das Versprechen gleicher Menschen – und Bürgerrechte für alle einzulösen – Rechte, die sie großen Teilen ihrer Bevölkerung bisher vorenthalten hat.  Im 19. Jahrhundert entstehen starke Befreiungsbewegungen gegen die Unterdrückung und Ausbeutung von Sklaven und gegen die Diskriminierung von Frauen und für ihre Gleichberechtigung in Bildung, Arbeitswelt, gesetzlichem Status und bürgerlichen  Rechten einschließlich des Wahlrechts. Im 1. Kapitel ihres Buches zum 50-jährigen Jubiläum der Frauen-Missionsbewegung „Western Women in Eastern Lands“ beschreibt Helen Barrett Montgomery diese Bewegungen und ihre Verflechtung. Sie bezieht sich darauf, dass man das 19. Jahrhundert das „Jahrhundert der Frau“ nennt, und dass in ihm seit seinem Beginn „sich schon länger wirkende Kräfte herauskristallisiert haben, die viele Vorstellungen über den richtigen Lebensbereich und die Betätigungsfelder von Frauen revolutioniert haben“ (Montgomery 1910: 3).

Hier muss angemerkt werden: Anders als im Deutschland des vorletzten Jahrhunderts laufen gesellschaftlich-politische und kirchliche Reformbewegungen in Nordamerika nicht getrennt nebeneinander her. Die Menschen- und Frauenrechtsbewegungen in Nordamerika sind sowohl in den Grundideen der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung als auch in Kirche und Theologie verankert. Kirchliche und gesellschaftlich-politische Bewegungen beeinflussen sich gegenseitig. So haben Kirchen, die sich als radikale Erben der Reformation verstehen, vor allem durch den Puritanismus Neu-Englands das Fundament für die politische und soziale Ethik geliefert, die das Land nach der Unabhängigkeit bestimmt. Aber auch Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts sind hier zu nennen, die als Reformbewegungen auf biblischer Grundlage zugleich für die Abschaffung der Sklaverei und für Frauenbildung eintraten. Die erste in den USA 1853 ordinierte Frau, Antoinette Brown Blackwell, ist Absolventin des ersten koedukativen Colleges im Land, des Oberlin College, dessen Präsident der Erweckungsprediger Charles Finney ist. Rochester ebenso wie das benachbarte Seneca Falls, wo 1848 die junge Frauenrechtsbewegung ihre Grundforderungen veröffentlicht, liegen inmitten einer Region, in der nicht zuletzt viele Frauen von Finneys Erweckungsbewegung stark beeinflusst sind. Nicht von ungefähr ist auch, dass in Rochester zu Helens Zeit der Baptist Walter Rauschenbusch lehrt, der als Begründer der „Social-Gospel-Bewegung“ gilt. Diese setzt sich für die Erfüllung des Auftrags des Evangeliums und seine ethische Umsetzung durch soziale Gerechtigkeit ein, ganz besonders in den Bereichen von Armut und wirtschaftlicher Ungleichheit und der durch sie verursachten Probleme.

Exemplarisch für Helen Barrett Montgomerys Selbstverständnis, Teil einer von Frauen vor ihr begonnenen Bewegung zu sein, ist ihre Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Abolition Movement (Bewegung zur Abschaffung des Sklaverei) und Frauenbewegung: „Die Auflehnung gegen das tiefsitzende Übel der Sklaverei war auch eine Befreiungserklärung („emancipation proclamation“) für die Frauen des Nordens (sc. der USA). Mit leidenschaftlicher Intensität, ungeübt und unvorbereitet, warfen sie sich in die Bewegung. Durch deren Schwung wurden sie aus ihrer Isolation gezogen, gezwungen zu denken, zu lesen, ihre Stimmen zu finden und ihr sie ständig betäubendes Geschlechtsbewusstsein zu verlieren. In Verteidigung von etwas Höherem  und Heiligerem als Anstandsregeln, die vorschrieben, was sich für Frauen geziemte, trotzten sie Opposition und Verachtung. Als die Schwestern Grimke 1837 realer Verfolgung die Stirn boten, weil sie den Mut hatten, sich öffentlich für die Sklaven einzusetzen, trugen sie mehr, als ihnen selbst bewusst war, dazu bei, die geistigen Fesseln abzuschütteln, die Frauen gefangen hielten“ (Montgomery 1910: 9).

 

Der systematische Aufbau der Frauen-Missionsbewegung ab 1861 – unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und aufbauend auf vielerlei vorausgehenden einzelnen Initiativen – ist für Helen Barrett Montgomery ein weiterer wesentlicher Teil des Aufbruchs der Frauen, der direkt in die Kirchen hineinwirkt. Vielleicht muss man sich dabei bewusst machen, dass sich die USA nach der hart erkämpften Unabhängigkeit zunächst vor allem abschotteten und auf sich selbst konzentrierten. „Mission“ bedeutete zum ersten Mal eine globale Öffnung, den allmählichen Aufbau eines Weltbewusstseins. Für die Frauen in den Kirchen bedeutete der Aufbruch in die Mission, dass sie nicht mehr abwarteten, nicht mehr um Erlaubnis fragten, sondern selbst unerschrocken die Initiative ergriffen und sich organisierten, um wirkungsvoll für Frauen und Kinder in fremden Ländern zu arbeiten, die bisher  weitgehend marginalisiert wurden. Dass die amerikanischen Frauen ihre Missionsarbeit konsequent als „Frauenarbeit für Frauen“ aufbauten, d.h. dass ausschließlich Frauen die Akteurinnen waren, führte dazu, dass Missionarinnen vor der Ausreise meist gut ausgebildet wurden  – die Gründung des Mount Holyoke College, des ersten Frauencolleges in den USA, durch Mary Lyon 1837 ist hier zu nennen – und dass sie dann in vielerlei Feldern arbeiten und sich erproben konnten, die Frauen zu Hause verschlossen waren – Verkündigung, höhere Bildung, Medizin, neue Bereiche sozialer Arbeit, ökumenische Zusammenarbeit. Die Missionarinnen arbeiteten dabei selbständigund oft in Leitungsverantwortung. Helen betont immer wieder, wie oft Missionsarbeit der Auslöser zur Veränderung festgeschriebener Frauenrollen war und zu neuen Bildungsmöglichkeiten und neuen Arbeitszweigen für Frauen im Heimatland beitrug.

Auf diesem Hintergrund können nun die eigentlichen reformatorischen Impulse deutlich werden, die von Helen Barrett Montgomery ausgingen. Entspringend aus ihrer eigenen lebenslangen biblisch-theologischen Arbeit und ihrem Verständnis des Evangeliums als befreiende Macht gibt sie die Ermächtigung zum Handeln in christlicher Freiheit in nie dagewesener Breitenwirkung an Millionen Frauen weiter. „Empowerment“ ist für mich die Überschrift für die Wirkung, die von ihr ausgeht – von ihren Büchern voll gründlichen Recherchen, ihren inspirierenden Reden, Predigten und Bibelarbeiten und ihrer motivierenden, sich selbst zurücknehmenden Zusammenarbeit mit anderen Frauen. Die in der feministischen Bewegung so häufig geforderte und so selten umgesetzte Solidarität zwischen Frauen wird von diesen Frauen verwirklicht und gelebt in einer Neidlosigkeit, die bis heute vorbildlich ist. Helens Autorität ist nahbar. Dazu gehört, dass sie sich selbst in ihrem lebenslangen Engagement für Frauenbildung zu unermüdlicher Quellen- und Sacharbeit verpflichtet. Ihre Leserinnen und Hörerinnen bekommen das Handwerkszeug in die Hand, das sie befähigt, selbst aus eigener begründeter Autorität heraus reden und handeln zu können.

Woher nimmt Helen Barrett Montgomery die Autorität zur Bevollmächtigung von Frauen, die ich eine reformatorische Autorität nennen möchte? Die Antwort führt direkt ins Neue Testament und zu Jesus. Unter der Überschrift: „In der Bibel stehen die Prinzipien, die schließlich zur völligen Befreiung („emancipation“) der Frauen führen werden“  schreibt sie:

„Die Demokratie des Neuen Testaments empfing ihr Siegel und ihre Inspiration aus den Lehren und dem Handeln Jesu. Er nahm die alte Lehre der Propheten wieder auf, die durch die Vorurteile von Jahrhunderten verdunkelt war, und räumte mit entwürdigenden […] Sitten auf. Er verkehrte mit Frauen auf der Ebene einer schönen, freien und menschlichen Beziehung. Er saß müde an der Quelle und sprach mit einer Frau, zur Entrüstung seiner Jünger, für die das ganz unter der Würde eines heiligen Mannes und eines Rabbi war […]. Er staunte über den Glauben von Frauen. Frauen folgten ihm und dienten ihm. Er allein unter den Lehrern der Religionen hatte ein Wort der Hoffnung für die Hure, und einer Frau vertraute er zuerst die Botschaft von der Auferstehung an […]“ (Montgomery 1910: 72).

Bezeichnend für Helen Barrett Montgomerys reformatorisch-emanzipatorischen Ansatz ist, dass sie immer das Verhältnis von Frauen und Männern in der „Demokratie des Neuen Testaments“, in der „Neuen Welt Gottes“, im Blick behält.  Sie lebt selbst in einer für die damalige Zeit sehr ungewöhnlichen, nicht traditionellen Ehe, die nicht in Konvention, sondern in der Freiheit und der Liebe von zwei Christenmenschen begründet ist und die zu gestalten für sie und ihren Mann ständige Herausforderung bleibt. „Paulus […]legt die Magna Charta der Frauen in einer Christenheit nieder, in der  nicht Mann noch Frau,  nicht Sklave noch Freier ist, sondern in der alle eins sind in Christus. Er sieht klar, daß in der großen Demokratie Christi allen gleichermaßen die Pflicht der Unterordnung und des Dienstes auferlegt ist. Dort werden nur die geehrt, die am meisten lieben. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, aber es ist schon offenbar, daß der Geist Jesu, wie er uns im Wort seiner Wahrheit kundgetan ist, schon eine neue Welt schafft – nicht eine Männerwelt, hart, grausam und bitter gegenüber den Schwachen, und nicht eine Frauenwelt, schwach, sentimental, fad, sondern eine Welt der Menschlichkeit […]“ (Montgomery 1910: 73f). An anderer Stelle schreibt Helen Barrett Montgomery: „Jesus Christus ist der große Befreier („Emancipator“)  der Frauen […]. Er allein unter den Religionsgründern der Welt sah Männer und Frauen auf gleicher Höhe und sah dabei nicht ihre Unterschiede, sondern ihre Einheit, ihre Menschlichkeit […]. Im Geist des Begründers des Christentums gibt es keinen abgesperrten Bezirk für die ausschließliche Benutzung von Männern“ (zitiert nach Brackney 1991: 177).

Im Blick auf kirchliche Strukturen bleibt Helen Barrett Montgomery jedoch nüchtern und realistisch hinsichtlich des augenblicklich erreichten Zustands der Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen. Als um 1910 der Vorschlag auf den Tisch kommt, die Frauenmissionswerke aufzulösen und in gemeinsame Missionswerke von Männern und Frauen zu integrieren, kämpft sie gegen die Bestrebungen mit entwaffnenden Argumenten: „Sind die Männer wirklich reif für diesen Schritt? Haben sie sich wirklich schon so befreit von der Vorstellung der Rangordnung der Geschlechter, die eine Zusammenarbeit nur so versteht, daß Männer entscheiden und Frauen dienen? Es sieht ganz so aus, als ob wir trotz großer Fortschritte in dieser Richtung noch einen weiten Weg durch unerforschtes Gelände zu gehen hätten, bis eine volle Demokratie im Sinne Jesu erreicht ist“ (Montgomery 1910: 269). Und sie verweist auf die großen, vorher vernachlässigten Aufgaben der „Frauenarbeit für Frauen“: Dafür zu sorgen, „daß die armen, unterdrückten, vernachlässigten Frauen der nichtchristlichen Welt eine Chance bekommen“ (Montgomery 1910: 273).

Zu Helen Barrett Montgomerys reformatorischem Wirken gehören – neben ihrer an der alltäglichen Sprache der Menschen und nicht zuletzt der Frauen orientierten Übersetzung des Neuen Testaments – ihre richtungweisende Wahl zur Präsidentin der Northern Baptist Convention ebenso wie die Art und Weise, wie sie dieses Amt ausfüllte. Es sollte lange dauern, bis wieder eine Frau ein solch herausgehobenes Leitungsamt in einer Kirche übernahm. Dabei wurde sie – und auch das bleibt wohl lange singulär – nicht zuerst als herausragende Einzelpersönlichkeit gewählt, sondern als Repräsentantin der Frauen ihrer Kirche. In ihren Brief nach ihrer Wahl 1921 an die über 8500 Gemeinden mit über 1,25 Millionen Mitgliedern schreibt sie: „Zuallererst möchte ich Euch im Namen der Frauen unserer Gemeinden für die Ehre danken, die Ihr ihnen durch die Wahl einer Frau zur Vorsitzenden erwiesen habt. Ich weiß, dass ich in stellvertretender Funktion an diesem Platz stehe, und dass das, was geschehen ist, eine Anerkennung der Rolle ist, die die Frauenorganisationen in der Arbeit und Entwicklung unserer Kirche gespielt haben. Ich bin glücklich, dass diese Anerkennung zum ersten Mal in so hervorgehobener Weise von denen zum Ausdruck gebracht wurde, die stolz sind, sich Baptisten zu nennen. In demokratischen Bewegungen waren wir immer an führender Stelle; ich bin glücklich, dass wir in dieser Bewegung (sc. der Frauenbewegung) führend sind“ (Montgomery: Watchman Examiner, August 1921, 1009).

Obwohl es auch in der baptistischen Kirche genug Männer gab, die an einer erfolgreichen Amtsführung durch eine Frau zweifelten, führte Helen Barrett Montgomery 1922 die jährliche Synode zu einer wegweisenden Entscheidung. Bis heute sind Kirchen, die sich auf das sola scriptura gründen, nicht selten hin-und hergerissen oder gar gespalten zwischen biblisch verstandener Freiheit von Christenmenschen, die in ihrem Gewissen nur an Gott gebunden und keiner kirchlichen Autorität unterworfen sind, und einem fundamentalistischen, gesetzlichen Bibelverständnis. Eine solche Spaltung drohte der Northern Baptist Convention durch eine starke Fraktion, die ein für alle Gemeinden bindendes Glaubensbekenntnis verabschieden wollte. Helen Barrett Montgomerys Führungskraft erwies sich sowohl in ihrer geistlichen als auch in ihrer demokratischen Leitung der Versammlung. Die Wegbereiterin des Weltgebetstags führt die Delegierten zum Gebet als der Grundbewegung, in der ChristInnen sich für Gott und füreinander öffnen und zum Geist der Einheit finden, statt sich gegenseitig zu bekämpfen. Ein Spruchband erinnert während der ganzen Konferenz: „Einverstanden, verschiedener Meinung zu sein, aber entschlossen zu lieben“. Richard Schramm urteilt: „In diesen und anderen schwierigen Fragen, die die Delegierten zu entscheiden hatten, wurde die Führerschaft einer Präsidentin offensichtlich, die sich dem Dienst der Versöhnung („ministry of reconciliation“) verschrieben hatte“ (Schramm 1997: 22). Anlass für den Antrag der Fundamentalisten, ein verpflichtendes Glaubensbekenntnis zu verabschieden, waren von ihnen theologisch abgelehnte Vorgänge und Äußerungen in baptistischen Bildungseinrichtungen und in der Äußeren Mission (Kooperation mit anderen Kirchen und ganzheitliches Missionsverständnis). In ihrer Rede weist Helen Barrett Montgomery darauf hin, dass  noch niemals eine Synode der Northern Baptist Convention mit einer für Gegenwart und Zukunft der Kirche so weitreichenden und ernsten Entscheidung konfrontiert war. „Es ist viel über die Notwendigkeit geredet worden, ein baptistisches Glaubensbekenntnis zu verabschieden. Die einen lehnen dies leidenschaftlich ab, die andern sehnen es inbrünstig herbei. Es wäre für beide Parteien hilfreich, sich daran zu erinnern dass […] in jedem solchen Glaubensbekenntnis hervorgehoben werden müsste, dass seine Annahme und seine Umsetzung freiwillig sein müssen. Keines unserer kirchenleitenden Organe hat die Macht, unseren Gemeinden ein Glaubensbekenntnis oder eine Glaubenserklärung zu verordnen. Die Northern Baptist Convention ist dazu ebenso wenig bevollmächtigt wie eine (sc. baptistische) Versammlung in einem Bundesstaat oder einem Distrikt, oder irgendeine andere Personengruppe. […] Im 17. Jahrhundert wurden von Gruppen von Baptisten viele Glaubenserklärungen veröffentlicht. Jede einzelne von ihnen hatte die Absicht, die Öffentlichkeit über die wirklichen Ziele und den Glauben von Baptisten aufzuklären; keine einzige wurde als autoritative Erklärung formuliert, die baptistische Gemeinden übernehmen müssten“ (abgedruckt bei Schramm 1997: 22). Über die mit überwältigender Mehrheit entschiedene Ablehnung des Glaubensbekenntnisses und die statt dessen bekräftigte Versicherung, „dass das Neue Testament genügender Grund unseres Glaubens und Handelns ist, und dass wir keine andere Erklärung brauchen“, urteilt Schramm: „Diese Entscheidung hat 1922 die Delegierten zu einem gemeinsamen Mittelpunkt geführt, und sie war seitdem eine Ermutigung für zahllose BaptistInnen“ (Schramm 1997:22).

Kommentar

Als ich vor fast zwanzig Jahren in amerikanischen Archiven und Bibliotheken mit der Erforschung der Vorgeschichte und Geschichte des Weltgebetstags der Frauen begann,  war ich schon nach kurzer Zeit fasziniert von den Frauen, denen ich dabei begegnete. Die Wurzeln unserer ökumenischen Bewegung waren im Grunde wenig bekannt. Umso überraschender war für mich die Dynamik und Stärke der missionarischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, die sich aus der ersten großen Frauenbewegung in den USA speiste. Da war kaum „Dunkel der Geschichte“.  Die gebundenen Jahresberichte der Frauenorganisationen, ihre Zeitschriften, Bücher und Presseveröffentlichungen legten bis in weit ins  20. Jahrhundert hinein Zeugnis ab von einer weitblickenden, allein von Frauen für Frauen geleiteten Bewegung mit globaler Perspektive. Die 1927 aus Vorläuferbewegungen entstandene ökumenische Weltgebetstagsbewegung war die wichtigste Erbin der Frauenmissionsbewegung, und auch sie musste aus kleinen Anfängen den Weg zu einer nun weltweiten, von Frauen aller Kirchen gemeinsam verantworteten Bewegung finden.

„Ferne Frauen, starke Schwestern“ – das Motto unseres WGT-Fernsehgottesdienstes im Jahr 2000 steht für mich sowohl für die Beziehung zwischen den Frauen rund um den Globus, die an jedem ersten Freitag im März neu lebendig wird, als auch für die Beziehung zu den wieder entdeckten Frauen der Geschichte, deren Denken, Erleben und Gestalten soviel klarblickender und vorwärtsweisender war, als ich erwartete. Viele von ihnen wären es wert, erinnert zu werden. Helen Barrett Montgomerys Name war einer der wenigen, die bekannt waren, aber wer sie wirklich war, entdeckte sich erst dem genaueren Hinsehen. Dann freilich wurde die Begegnung mit ihr faszinierend.

Warum konnten Frauen wie Helen Barrett Montgomery auch in den USA weithin in Vergessenheit geraten?  Sie war eine Frau, die Kirchengeschichte schrieb, und doch fehlt sie,  wie viele andere, in der ökumenischen Geschichtsschreibung. Warum bleiben die Schallmauern zwischen Konfessionen, Kontinenten, Sprachen und Kulturen  so undurchdringlich, dass wir als Frauen in Europa kaum etwas von den „starken Schwestern“ anderer Kontinente wissen?

Helen Barrett Montgomery bleibt eine Frau ihrer Zeit. Den Optimismus dieser Frauen im Blick auf christliche Mission als weltweite Befreiungsbewegung können wir nicht mehr teilen. Aber ihre immer klarer werdende Kritik an Kolonialismus, Militarismus und Krieg, Rassismus, Sexismus und Ausbeutung von Kindern und Frauen und ihre Überzeugung von einer gleichrangigen Partnerschaft zwischen allen Frauen der Welt macht sie zu unseren Verbündeten. Spektakuläre Aktionen und Provokationen waren noch nicht Sache dieser Generation. Aber ihre unermüdliche Breiten- und Überzeugungsarbeit zusammen mit ihren Gründungen in anderen Ländern, z.B. im Bildungsbereich,  macht sie zu starken Schwestern heutiger Frauen. Helen Barrett Montgomery hatte den Mut zur Wahrheit gegenüber versklavenden Mächten und über sie. Wie sie es tat, wird vielleicht am ehesten von einem Wort von Franz von Sales charakterisiert: „Nichts ist so stark wie Sanftheit, und nichts ist so sanft wie wahre Stärke“.