Helene Schweitzer Bresslau

Ein Leben für Lambarene
Ein Leben für Lambarene Verena Mühlstein
Lebensdaten
von 1879 - bis 1956
Unter weiteren Namen bekannt als:
Helene Bresslau
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Copyright Verena Mühlstein
Beziehungen

Helene Bresslau wurde am 25. Januar 1879 in Berlin geboren. Ihre Mutter Caroline Isay stammte aus einer jüdischen Familie in Schweich bei Trier. Der Vater Harry Bresslau, geboren im niedersächsischen Dannenberg, war außerordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Berlin. Für einen ungetauften Juden damals eine ungewöhnlich erfolgreiche Karriere. Auch sein leidenschaftliches Engagement im Berliner Antisemitismusstreit, in dem er einer der Hauptgegner Heinrich Treitschkes war, hatte seiner Karriere scheinbar keinen Abbruch getan. Helene wuchs im Kreis einer großen Familie auf, außer dem ein Jahr älteren Bruder Ernst und dem vier Jahre jüngeren Bruder Hermann lebten noch die beiden jüngeren Geschwister ihres Vaters, Clara und Ludwig, und zwei Neffen ihrer Mutter im Haus.

Als Helene Bresslau sieben Jahre alt war, ließ Harry Bresslau seine drei Kinder taufen. Leicht ist ihm diese Entscheidung sicher nicht gefallen. Auch wenn zumindest Harry Bresslau jede Form von Religion eigentlich nichts mehr bedeutete, blieben er und seine Frau Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Keiner der Geschwister von Carry und Harry Bresslau ließen sich oder ihre Kinder taufen.

1890 erhielt Harry Bresslau einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Straßburg. Dort beendete Helene Bresslau die Schule. Für Harry Bresslau, der schon seinen Schwestern Betty und Clara die Ausbildung zur Lehrerin ermöglicht hatte, war es selbstverständlich, dass auch seine Tochter Helene das Lehrerinnenseminar besuchte, damals noch die einzige Möglichkeit für eine höhere Schulbildung für Mädchen. Nachdem sie das Lehrerinnenexamen erfolgreich bestanden hatte, studierte sie Klavier und Gesang am Konservatorium. Es folgte ein halbjähriger Aufenthalt mit ihren Eltern in Italien. Nachdem die Universität Straßburg Frauen mit Lehrinnenexamen zu gewissen Studiengängen zuließ, begann sie mit dem Studium der Kunstgeschichte und Geschichte.

In dieser Zeit lernte sie den Theologie- und Philosophiestudenten Albert Schweitzer bei der Hochzeit gemeinsamer Freunde kennen. Doch erst zwei Jahre später im Jahre 1902, nach dem Tod von Albert Schweitzers Pariser Tante Mathilde Schweitzer, die viele Jahre seine engste Vertraute war, begann ihre intensive Freundschaft. Bei einem gemeinsamen Radausflug an den Rhein vertraute Albert Schweitzer seiner neuen Freundin an, dass er bis zu seinem 30. Lebensjahr für die Wissenschaft und die Kunst leben wolle, um sich dann der Erziehung von Waisenkindern zu widmen. Helene Bresslau reagierte nicht entsetzt auf dieses Geständnis, im Gegenteil sie hatte Verständnis für den jungen Privatdozenten, auch sie empfand ihr Kunstgeschichtsstudium als zu lebensfern. Dies war auch ein Grund, dass sie ab September 1902 ein halbes Jahr als Lehrerin in England verbrachte, dort mit einer russischen Freundin Tschechow und Gorki ins Deutsche übersetzte und sogar überlegte als russisch Übersetzerin zu arbeiten. In England beeindruckte sie die Arbeit von Thomas John Bernardos, der Heime für die Londoner Straßenkinder gegründet hatte.

Als Helene Bresslau im Mai 1903 nach Straßburg zurückkehrte, engagierte sie sich in der Waisenfürsorge, wofür sie als junge Frau gerade in Straßburg besonders günstige Bedingungen vorfand. Hier durften auch Frauen das Ehrenamt des Waisenpflegers ausüben, das eigentlich nur den wahlberechtigten Bürgern, zu denen Frauen damals nicht gehörten, zustand.

Doch auch diese ehrenamtliche Tätigkeit konnte Helene Bresslau das Gefühl der Nutzlosigkeit nicht nehmen und ihr steuerloses Treiben machte sie zunehmend nervös. So entschloss sie sich Ende Oktober 1903 für einige Monate zu einer Cousine ihres Vaters, der Malerin Johanna Engel, nach Berlin zu ziehen. Nach einigen Wochen des Nachdenkens sieht sie ihre Zukunft in der Arbeit als berufliche Waiseninspektorin in Straßburg. Die elsässische Hauptstadt hatte Anfang des Jahrhunderts mit 42,3% eine der höchsten Säuglingssterblichkeitsraten bei den unehelich Kindern, und Bürgermeister Schwander wollte diesen Missstand durch die Anstellung beruflicher Waisenpflegerinnen bekämpfen. Da es noch keine Ausbildung zur Sozialarbeiterin gab, absolvierte Helene Bresslau im Jahre 1904 einen dreimonatigen Krankenpflegekurs in Stettin. Anschließend verbrachte sie noch einige Monate bei ihren Verwandten in Hamburg.

Als sie im Herbst 1904 nach Straßburg zurückkehrte, arbeitete sie zunächst für einige Monate in der gerade neu eingerichteten Säuglingsheilstätte, um sich spezielle Kenntnisse in Säuglingserkrankungen anzueignen. Ab April 1905 arbeitete Helene Bresslau als zweite hauptamtliche Waiseninspektorin im Gemeindewaisenamt ihrer Heimatstadt.

In all den Jahren bestand die intensive Freundschaft mit Albert Schweitzer weiter, die in dem ausführlichen Briefwechsel dokumentiert ist, den ihre Tochter im Jahre 1992 veröffentlichte. In diese Zeit fällt auch Albert Schweitzers Entscheidung als Arzt nach Afrika zu gehen. Nachdem er seinen Plan Waisenkinder aufzunehmen und zu erziehen gescheitert war, äußerte er Ende Dezember 1904 in einem Brief an Helene Bresslau zum ersten Mal den Gedanken, dass er sich der französischen Mission zur Verfügung stellen möchte. Helene Bresslau lehnte auch diese Idee nicht ab und ihre bedingungslose Unterstützung trug ganz entscheidend dazu bei, dass er im März 1905 die endgültige Entscheidung treffen konnte und im Juli 1905 an die französische Mission in Paris schreiben konnte, dass er „glücklich wäre“, sich ihr als medizinischer Helfer „zur Verfügung zu stellen“. Da er wusste, wie skeptisch die Pariser Mission einem liberalen Theologen gegenüberstand, und er hoffte, als Arzt eher akzeptiert zu werden, beschloss er ein vollständiges Medizinstudium zu absolvieren. Helene Bresslau bestärkte ihn auch diesmal in seiner Entscheidung. Für sie stand von Anfang an fest, dass sie ihren Freund nach Afrika begleiten würde. In Hinblick auf ihre künftige Arbeit in Afrika machte Helene Bresslau 1909/1910 in Frankfurt am Main noch eine einjährige Ausbildung zur Krankenschwester. Nachdem sie im Juni 1912 geheiratet hatten, brachen sie am 22. März 1913, auf den Tag genau 11 Jahre nach Beginn ihrer Freundschaft, nach Lambarene auf, wo sie am 16. April 1913 ankamen.

Die ersten Jahre in Afrika waren sicher die glücklichsten in ihrem Leben. Endlich konnte sie ein Leben führen, wie sie es sich erträumt hatte. Zusammen mit ihrem Mann baute sie unter schwierigsten Bedingungen ein kleines Krankenhaus in einem der damals unterentwickeltsten Gegenden Afrikas auf.

Bei Ausbruch des I. Weltkriegs wurden Schweitzers als deutsche Staatsbürger in einer französischen Kolonie in Lambarene interniert. Nach einigen Monaten durften sie wieder praktizieren, aber das Land nicht verlassen. Das Verhältnis zu den französischen Missionaren, mit denen sich zuvor durchaus vertrauensvoll zusammengearbeitet hatten, verschlechterte sich schlagartig. Sie erhielten keine Lebensmittel mehr und das Leben wurde ihnen durch zusätzliche Schikanen schwer gemacht. 1915 verbrachten sie drei Monate am Meer und im Jahr darauf sogar neun Monate, nur so konnten sie diese Zeit am Äquator einigermaßen überstehen.

Im September 1917 wurden sie als Gefangene nach Frankreich gebracht und konnten erst Mitte Juli 1918 ins Elsass zurückkehren. Doch das Leben in Straßburg war alles andere als einfach, neben gesundheitlichen Problemen drückte sie die große Schuldenlast, die sie durch den Krieg bei der französischen Missionsgesellschaft hatten. Der einzige Lichtblick in den nächsten Jahren war die Geburt ihrer Tochter Rhena am 14. Januar 1919. Während sich Albert Schweitzer langsam erholte, wurde seine Frau immer kränker. In den letzten August Tagen 1922 erlitt Helene Schweitzer Bresslau eine Lungenblutung. Die Tuberkulose, an der Helene Schweitzer Bresslau schon vor ihrer Ausreise nach Afrika erkrankt war, und die sie für ausgeheilt hielt, hatte sich als Folge des langen strapaziösen Tropenaufenthalts zu einer offenen Lungentuberkulose entwickelt. Im Jahr darauf kam noch eine Kehlkopftuberkulose hinzu. Mit einem schon fast heroisch zu nennenden Überlebenswillen nahm sie in den nächsten Jahren den Kampf gegen ihre lebensbedrohliche Erkrankung auf. Es dauerte jedoch noch Jahre, bis sie sich wieder einigermaßen erholt hatte. Als Helene Schweitzer außer Lebensgefahr war, fuhr ihr Mann, ein Jahr später als geplant, im Februar 1924 wieder nach Afrika. Sie blieb mit ihrer Tochter Rhena in Königsfeld im Schwarzwald, wo sie sich des guten Klimas wegen ein Haus gebaut hatten. Die nächsten beiden Jahre waren wohl die schwärzesten in ihrem Leben. Wegen ihrer schweren Erkrankung musste sie nicht nur Tausende von Kilometern von ihrem Mann entfernt leben, ihr war auch noch die Arbeit, die ihr ganzer Lebensinhalt war, genommen. Unter Aufbietung aller seelischen Kräfte gelang es ihr schließlich, diese tiefe Depression zu überwinden.

Als ihr Mann 1927 aus Afrika zurück war, begleitete sie ihn auf seinen Reisen durch Europa, fuhr auch für einige Monate nach Lambarene und machte ab 1930, da ihre Tochter nun alt genug war, um im Internat wohnen zu können, eine richtige Tuberkulosekur.

1933 verließ sie Deutschland und zog mit ihrer Tochter nach Lausanne. Nach und nach verließen fast alle Familienangehörige und die meisten der alten Straßburger Freunde, die jüdischer Abstammung waren, Deutschland. Nach dem Rhena im Sommer 1937 das Abitur bestanden hatte, zogen sie für einige Jahre nach New York. Mit Hilfe von Freunden organisierte Helene Schweitzer Bresslau eine siebenwöchige Vortragsreise durch den Nordosten und den Mittleren Westen der USA. Erfolg dieser Vortragsreise war, dass während des II. Weltkriegs amerikanische Medikamente nach Lambarene geschickt wurden. Dazwischen war sie immer wieder für Monate in Afrika bei ihrem Mann.

Bei Kriegsausbruch war sie gerade zu Besuch bei ihrer Tochter, die in Paris den elsässischen Orgelbauer Jean Eckert geheiratet hatte. Kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris im Juni 1940 floh sie mit Tochter, Schwiegersohn und gerade geborener Enkelin in den unbesetzten Teil Frankreichs. Obwohl es alle für aussichtslos hielten, gelang es ihr schließlich von Genf aus über das Rote Kreuz und die englische Regierung die notwendigen Visa für Gabun zu bekommen. Das letzte Visum erhielt sie 1½ Stunden vor der Abfahrt des Schiffs in Lissabon. Über Angola kam sie im August 1941 in Lambarene an. Da die Tuberkulose inzwischen ganz ausgeheilt war, vertrug sie das Klima so gut, dass sie erst im Herbst 1946 nach Europa zurückkehrte. Kaum war das Wichtigste erledigt, kehrte sie Anfang Mai 1947 nach Lambarene zurück.

Im Sommer 1947 begleitete sie ihren Mann auf seiner einzigen USA-Reise und war auch dabei, als er 1954 den Friedensnobelpreis in Oslo erhielt.

Ihre letzten beiden Lebensjahre, in denen sie eigentlich schon ein Pflegefall war, verbrachte sie in Lambarene, das sie schon lange als ihre eigentliche Heimat betrachtete. Als sie Ende Mai 1957 die Hitze nicht mehr ertrug, flog sie einige Wochen vor ihrem Mann nach Europa zurück, um noch einmal ihre Tochter und ihre vier Enkelkinder zu sehen. Doch nachdem sie schon den Flug fast nicht überlebt hatte, starb sie zehn Tage später am 1. Juni 1957 in Zürich. Ihre Asche wurde auf dem Friedhof in Lambarene beigesetzt.

Wirkungsbereich

Aufgewachsenen in einer jüdischen Familie, in der die Bildung der Mädchen eine genauso große Rolle spielte, wie die der Jungen, war es Helene Bresslau schon sehr früh möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihr Vater Harry Bresslau war ein großer Unterstützer der Frauenbildung. Jahre bevor Frauen zum Studium an Universitäten zugelassen wurden, gab er öffentliche Vorlesung über Geschichte für Frauen. Später war er sehr stolz, dass er die erste Studentin der Universität Straßburg zu seinen Schülern zählen konnte. Helene Bresslau hatte immer unabhängige Frauen als Vorbilder in ihrer Familie. Ihre Tanten und deren Töchter waren starke Persönlichkeiten. Besonders ihre Tante Clara Heynssen war eine engagierte Vertreterin der Frauenrechte und Kämpferin für das Frauenwahlrecht. Zusätzlich war sie eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau. Diese große liberale frauenfreundliche Familie beeinflusste sicher wesentlich ihr modernes Selbstbild. Ihre Familie blieb immer ihr wichtigster Bezugspunkt und bis zum Lebensende war ihre Schwägerin Luise Bresslau-Hoff ihre engste Vertraute.

In Straßburg gehörte Helene Bresslau zu einem Kreis junger gebildeter Männer und Frauen aus liberalen deutschen Familien; Elsässer, wie Albert Schweitzer, waren da die absolute Ausnahme. Die Frauen besuchten das Lehrerinnenseminar und viele von ihnen studierten, sobald Frauen zum Studium zugelassen wurden. Diese jungen begabten Menschen interessierten sich nicht nur für kulturelle Themen, sie diskutierten Frauenrechte und sie interessierten sich für soziale Fragen. Ehrenamtliches soziales Engagement war eine Selbstverständlichkeit. Elly Knapp, die spätere Frau von Theodor Heuss, und ihre Schwester Marianne zählten schon während ihrer Schulzeit zum engsten Freundeskreis von Helene Bresslau.

Helene Bresslaus frühe Hinwendung zur Sozialarbeit hat sicherlich auch ihren Ursprung in ihrer jüdischen Familie. Auch wenn sie keine „jüdische Erziehung“ im eigentlichen Sinn erhalten hatte, so wuchs sie doch in einer jüdischen Atmosphäre auf. Ihre Eltern hatten sich bewusst nicht taufen lassen und die Geschwister ihrer Eltern waren große Gegner der Taufe. Auch wenn zu Hause keine jüdischen Feste gefeiert wurden, war sie sicherlich mit der jüdischen Tradition vertraut durch die regelmäßigen Besuche bei Onkel und Tanten, die mit ihren Ehepartnern und Kindern weiterhin der jüdischen Gemeinde angehörten und ein liberales, jüdisches Leben führten. Helene Bresslau hat vielleicht nie von dem jüdischen Konzept des „Tikkun Olam“ (die Heilung der Welt) gehört, aber die Atmosphäre, in der sie aufwuchs, machte ihr deutlich, dass es eines der wichtigsten Dinge im Leben ist, die Welt zu verbessern. Ihre jüdisches Erbe führten zu der Überzeugung, dass die Beziehung zwischen den Menschen etwas mehr erfordern als nur Worte: dass wir zu Taten über die Worte hinaus verpflichtet sind. Dieses Gefühl der Verantwortung für andere wurde zur Basis ihrer Partnerschaft mit Albert Schweitzer, wie sie rückblickend auf ihre lange Ehe mit Albert Schweitzer im März 1945 an einen englischen Freund schrieb: „Wir begegneten einander in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für all das Gute, was wir in unserem Leben empfangen hatten, und in dem Bewusstsein, dass wir dafür zu bezahlen hätten durch Hilfeleistung gegenüber anderen.“

Dies war auch einer der Gründe für ihre Entscheidung ihr Studium der Kunstgeschichte und Geschichte aufzugeben, um sich in ihrer Heimatstadt Straßburg als Sozialarbeiterin um Waisenkinder, uneheliche Kinder sowie deren Mütter und Pflegefamilien zu kümmern. Als festangestellte „Waiseninspektorin“ war sie eine der ersten weiblichen Angestellten in der Gemeindeverwaltung. Bürgermeister Schwander, selbst als uneheliches Kind geboren, hatte es sich zu einer seiner Hauptaufgaben gemacht, die Säuglingssterblichkeit bei den unehelichen Kindern, die fast 50% betrug, zu senken und das Los der ledigen Mütter zu erleichtern. Gemeinsam mit anfangs einer, später zwei weiteren Kolleginnen, war sie verantwortlich für die Betreuung von 1.200 Waisen und Halbwaisen unter zwei Jahren. Zumeist handelte es sich um uneheliche Kinder, die alle unter Vormundschaft standen. Sie besuchte die Mündel regelmäßig in ihren Familien; 6.293 Hausbesuche wurden im Jahr 1903, 8.379 im Jahr 1906 durchgeführt.

Zusätzlich hatte Straßburg als erste Stadt in Deutschland einen ärztlichen Säuglingskontrolldienst eingeführt. Alle Säuglinge und Kleinkinder, die unter Vormundschaft standen, wurden in regelmäßigen Abständen unentgeltlich von einem Kinderarzt untersucht. Die Kontrollen waren engmaschiger als unsere heutigen Vorsorgeuntersuchungen. Helene Bresslau, die bei allen Untersuchungen der von ihr betreuten Kinder assistierte, berichtete dem Arzt über die häuslichen Verhältnisse, damit dieser individuell auf die Mängel eingehen konnte. Da es noch keinen gesetzlichen Mutterschutz in Deutschland gab, mussten viele Mütter schon zwei Wochen nach der Entbindung wieder arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Neugeborene wurde in der Obhut von Verwandten oder einer Kostfrau gelassen.

Helene Bresslau schätzte den systemischen Ansatz der Straßburger Armenpflege, der nicht nur die Waisen und Halbwaisen sondern auch die ledigen Mütter und Pflegefamilien mit einbezog. Ihr wichtigstes Projekt in dieser Zeit war 1907 die Gründung des Mütterheims, ein Haus, in dem ledige Mütter nach der Geburt für mehrere Wochen unabhängig von Religion und Nationalität Aufnahme fanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es absolut revolutionär, dass ledige Mütter wie menschliche Wesen behandelt wurden und auf die Unterstützung und Hilfe durch die Gesellschaft hoffen konnten. Selbst in fortschrittlichen Städten wie Leipzig, die sich um die unehelichen Säuglinge vorbildlich kümmerten, wurden ledige Mütter als „Frauen ohne jegliches moralische Empfinden“ bezeichnet, die in Arbeitshäuser für „gefallene Mädchen“ geschickt wurden. Über die tägliche Arbeit hinaus, war es Helene Bresslaus Absicht zu zeigen, dass die Arbeit der Waiseninspektorin eine interessante und anspruchsvolle Aufgabe für gebildete Frauen ist. Regelmäßig hielt sie Vorträge für die ehrenamtlichen Waisenpfleger über spezielle Probleme bei der Betreuung der bevormundeten Kinder oder ganz allgemein über die Organisation des Armenwesens in Deutschland.

In den vier Jahren, die Helene Bresslau im Waisenamt tätig war, hatte sie maßgeblichen Anteil daran, dass die Säuglingssterblichkeit der unehelichen Kinder so stark sank, das sie 1909 nicht mehr höher als die Sterblichkeit der ehelichen Säuglinge war. In dieser Zeit entwickelte sich das „Straßburger Armenpflegesystem“ zum fortschrittlichsten Sozialsystem in Deutschland, das nach dem II. Weltkrieg Vorbild für die Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland wurde. Selbst heute kann es noch als Vorbild für eine moderne Sozialfürsorge dienen.

Seit Beginn ihrer Freundschaft mit Albert Schweitzer im Jahre 1902 war sie seine engste Vertraute und lange Zeit die einzige, die seinen Entschluss, als Arzt nach Afrika zu gehen, verstand und tatkräftig unterstützte. Der veröffentlichte Briefwechsel des Paares aus den Jahren 1902 bis 1912 ist nicht nur eine Quelle für Identitätsbildung zweier junger intelligenter Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, er verweist auch Albert Schweitzers autobiographischen Bericht über seine Entscheidung, die wissenschaftliche Laufbahn zu Gunsten einer ärztlichen Tätigkeit in Afrika aufzugeben, in das Reich der Mythen. Die Entscheidung Medizin zu studieren, hatte er nicht an einem ruhigen Abend nach der Lektüre des Artikels der französische Mission im Kongo getroffen, vielmehr war es eine sehr komplexe Entscheidung, der nervenaufreibende Monate mit emotionalen Auf und Abs vorausgingen. Die bedingungslose, jedoch nie unkritische Unterstützung von Helene Bresslau war in dieser Zeit von unschätzbarem Wert. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Albert Schweitzer ohne die enge und vertrauensvolle Beziehung zu Helene Bresslau nicht die Persönlichkeit geworden wäre, die er war.

So stolz Helene auch auf ihre Erfolge als Waiseninspektorin war, im Mittelpunkt ihres Lebens stand immer das gemeinsame Werk des Hospitals in Lambarene. Die Tagebücher, die Helene Schweitzer Bresslau von März 1913 bis Ende November 1915 für die Familie führte, vermitteln gerade in ihrer Unmittelbarkeit ein authentisches Bild der ersten Jahre in Lambarene. Mit wachem Blick schildert Helene die Menschen und die Landschaft am Ogowe und berichtet mit nüchternen Realismus und viel Humor über den schwierigen Alltag in ihrer neuen Heimat. Understatement und Ironie können nicht die Begeisterung verdecken, mit der das Ehepaar Schweitzer bei seiner Arbeit ist. Obwohl es anstrengende Jahre waren, erlebten sie eine Zeit unbeschwerten Glücks. Es macht den besonderen Reiz der Tagebücher aus, dass diese harmonische, unbeschwerte Atmosphäre für den Leser mit erlebbar wird. Noch heute bezaubern ihre Spontaneität und Unbekümmertheit. Die liebevollen Neckereien und der fröhliche, ungezwungene Ton geben besser als offene Liebesbekenntnisse Auskunft, wie glücklich beide während dieser ersten Ehejahre zusammen waren.

Aus den komfortablen europäischen Lebensbedingungen war das Ehepaar Schweitzer in eines der unterentwickeltsten Gebiete der Erde gekommen und fühlte sich trotzdem sofort zu Hause. Endlich am Ziel ihrer Wünsche, wurden alle Widrigkeiten zu Lappalien. Sofort nach ihrer Ankunft auf der französischen, protestantischen Missionsstation in Lambarene begannen sie mit ihrer ärztlichen Tätigkeit. Als Unterstützung hatten sie zu Anfang zwei Schulbuben, die ihnen ein bisschen im Haushalt und mit den Hühnern halfen. Vor allem den kleinen Acaga hatten sie ins Herz geschlossen, der für Helene allmählich ein richtiges Ersatzkind wurde. Gleich in den ersten Wochen fanden sie auch ihren ersten Heilgehilfe Joseph Azowani, einen Gabonese, der neben acht Eingeborenensprachen auch perfekt Englisch und Französisch sprach. Ohne dessen hervorragende Sprachkenntnisse wäre die Verständigung mit den Gabonesen sehr schwierig geworden. Unter primitivsten Verhältnissen behandeln sie ihre Patienten auf der Veranda ihres kleinen Häuschens. Ein alter Hühnerstall wurde in eine Behandlungsbaracke verwandelt und als sie im November 1913 endlich eine richtige Behandlungsbaracke hatten, begannen sie auch mit den regelmäßigen Operationen.

Über mangelnde Arbeit konnte sich Helene Schweitzer Bresslau nicht beklagen, sie war verantwortlich für die Narkose bei den Operationen, behandelte die Kleinkinder mit Ernährungsstörungen und assistierte bei den Sprechstunden. Daneben kümmerte sie sich um den Haushalt, den Garten und die vielen Tiere, die sie inzwischen hatten: Hühner, Enten, Ziegen, kleine Antilopen und einen Papagei. Abwechslung boten die gelegentlichen Ausflüge in den Urwald und die Sonntagnachmittage, an denen sie mit Acaga in die Dörfer der Umgebung ruderten. Die mehrtätigen Aufenthalte in anderen Missionstationen wurden genutzt, um auch dort Patienten zu behandeln und sich auch ein wenig auszuruhen.

Es war die große Tragik ihres Lebens, dass sie ihre schwere Tuberkuloseerkrankung jahrzehntelang daran hinderte, im Spital in Lambarene zu arbeiten. Die vielen Vorträge, mit denen sie das gemeinsame Werk unterstützte, waren nur ein schwacher Ersatz für die eigentliche Arbeit in Afrika. Und doch waren es gerade ihre perfekten Englischkenntnisse, die halfen, das Werk zu internationalisieren. Ihre Vortragstournee durch die USA Ende der dreißiger Jahre war der Anfang vom großen Interesse an Albert Schweitzer in den USA. Das Ergebnis waren auch die Medikamentenlieferungen aus den USA nach Lambarene während des II. Weltkriegs, ohne die das Spital diese sechs Kriegsjahre nicht überstanden hätte.

Reformatorische Impulse

Auch wenn sich Helene Schweitzer Bresslau immer als protestantische Christin verstand, sind reformatorische Impulse in ihrem Leben nicht leicht nachzuweisen. Helene Schweitzer Bresslaus Taufe war sicher keine religiöse Entscheidung ihres Vaters, sondern sein Wunsch seinen Kindern die vollständige Integration in die deutsche Gesellschaft zu ermöglichen. Die bleibende Distanz zum reformatorischen Glauben zeigt sich in einem Brief Harry Bresslaus an seine Frau, in dem er berichtete, dass er seine vorgesehene Rede bei einem Begrüßungsabend im Reformationsgeschichtsverein nicht halte konnte: „Meine Heiserkeit, mit der es aber nicht so schlimm ist, wie Lene meint, dann der Umstand, daß ohnehin schon zu viel geschwatzt wurde und es sehr confessionell herging, haben mich abgehalten, auf dem Reform. Tage zu reden“ (zitiert in Mühlstein: 41).

Helene Schweitzer-Bresslau lernte in der Schule und im Konfirmandenunterricht einen aufgeklärten, rationalistischen Protestantismus kennen. Gleich zu Beginn ließ sie der Pfarrer den Satz aufsagen: „Gottes Wille zeigt sich in den Naturgesetzen, die er nie durchbricht, und deshalb gibt es keine Wunder“ (zitiert in Mühlstein: 36). Sie lernte, dass Glaube und Vernunft keinen Widerspruch bedeuteten. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1904, der im „Protestanten-Blatt“ veröffentlich wurde, beschrieb sie, was für sie Christentum bedeutete. Religion wird im Wesentlichen als mit der Sittlichkeit identisch angesehen, nicht Unterwerfung unter ein Dogma, sondern ein moralisches Leben macht ihr Wesen aus. Dies verdeutlicht, wie stark sie geprägt war von einer durch die Aufklärung bestimmten jüdischen Tradition, die typisch war für das jüdische Bildungsbürgertum im Deutschland der Jahrhundertwende. Wichtig war sicherlich auch der Einfluss ihres Lieblingsonkels Abraham Isay, der einzige wirklich religiös Gebildete der Familie, auf dessen Schreibtisch sich die Werke Spinozas und Goethes abwechselten. Wenn Helene Bresslau die Liebe zu Gott als die Liebe zur Sittlichkeit definierte, so konnte sie sicher sein, dass auch die ungetauften Familienmitglieder den wesentlichen Aussagen ihres Artikels zustimmen konnten.

In dieser Überzeugung traf sie sich auch mit Albert Schweitzers theologischen Ansichten. Von Beginn ihrer Freundschaft an nahm sie aktiven Anteil an Albert Schweitzers theologischer und philosophischer Arbeit. Neben ihrer aufreibenden Berufstätigkeit korrigierte und redigierte sie alle wissenschaftlichen Werke Albert Schweitzers. Bis zum Schluss blieb sie seine wichtigste Kritikerin, selbst in den Manuskripten des Nachlasses sind ihre Korrekturen erhalten.

Reformatorische Impulse im weiteren Sinne lassen sich vielleicht daran festmachen, dass Helene Schweitzer Bresslau auch unter den widrigsten Umständen nie aufgab, an eine bessere Welt zu glauben und dafür zu arbeiten, auch wenn diese Haltung vermutlich mehr auf die Prägung im Elternhaus als auf den protestantischen Religionsunterricht in der Schule zurückzuführen ist. Mit großer Tapferkeit überstand sie die Jahre als kranke allein-erziehende Mutter in einem kleinen Ort, in dem sie sich immer fremd fühlte, und nicht nur wegen ihrer Krankheit sehr isoliert und einsam war. Immer blieb das gemeinsame Werk in Lambarene der Mittelpunkt ihres Lebens.

Kommentar

In der Öffentlichkeit wird Helene Schweitzer Bresslau – wenn überhaupt dann nur – als die Ehefrau Albert Schweitzers wahrgenommen. Dabei war sie eine bedeutende Frau, die ihrem Mann an Vielseitigkeit kaum nachstand. Trotzdem kommt Helene Schweitzer Bresslau in den meisten Biographien über Albert Schweitzer immer nur am Rande vor, als eigenständige Persönlichkeit wird sie nur sehr selten wahrgenommen. Dies liegt sicherlich nicht nur daran, dass sich Helene Schweitzer Bresslau wegen ihrer Tuberkuloseerkrankung in der Öffentlichkeit sehr zurückhielt. Selbst in dem 2012 erschienen Buch von Florian Illies „1913 Sommer des Jahrhunderts“ findet sich im Kapitel „März“ folgende Anekdote: „Albert Schweitzer wird im März 1913 zum Dr. med. promoviert. Seine Arbeit „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“ irritierte, aber gefiel. Am nächsten Tag verkaufte er sein gesamtes Hab und Gut. Dann nimmt er seine Frau Helene und reist am 21. März nach Afrika. In Französisch Äquatorial Afrika am Ogooue gründet er das Urwaldhospital Lambarene“ (zitiert in Illies: 99). Auch hier wird Helene Schweitzer Bresslau wie ein Gepäckstück nach Afrika mitgenommen, kaum anders als sie die Journalisten der fünfziger Jahre sahen. Sie wurde zu einem ängstlichen, braven Frauchen zurechtgestutzt, das nur aus Liebe ihrem Mann in den gefährlichen Urwald gefolgt ist. Und so war es noch als Kompliment gemeint, wenn in einem Nachruf geschrieben wurde: „Dabei waren die Anforderungen, die das Dasein im Urwald stellte, für eine Frau sicher noch weit härter zu ertragen als für einen Mann, den außerdem der innere Zwang einer deutlich verspürten inneren Berufung trieb, während sie im Grunde doch nur liebend der Idee des anderen folgte“ (zitiert in Mühlstein: 259). Unzutreffender hätte die Beurteilung kaum ausfallen können. Wohl um alle diese falschen Berichte etwas zu korrigieren, schrieb sie 1954 einen kurzen Lebenslauf. Auf einer Seite gibt sie einen knappen Abriss ihres Lebens vor ihrer Verheiratung. Auch wenn sie nichts von ihren inneren Empfindungen preisgibt, belegen diese Sätze, dass das Spital in Lambarene das gemeinsame Werk ihres Mannes und von ihr war – vom ersten Entschluss dort hinzugehen, bis zur Ausführung. In den wenigen Zeilen, in denen sie auf die spätere Entwicklung des Spitals eingeht, spricht sie weiterhin nur von „wir“ und „uns“, so als wäre sie ständig dabei gewesen, und endet mit der Feststellung: „Gegen Ende dieses Jahres gedenken mein Mann und ich wieder dorthin zurückzukehren“ (zitiert in Mühlstein: 259). Unerwähnt bleiben nicht nur die langen Jahre ihrer Krankheit und der Trennung, sondern sogar die Geburt der Tochter.

Helene Schweitzer Bresslau war sich ihrer Bedeutung immer bewusst und so zurückhaltend sie zu Lebzeiten auch war, nach ihrem Tod sollten zumindest die Familie und die Freunde erfahren, welchen wichtigen Anteil sie an der Arbeit ihres Mannes hatte und wie stark sie ihn beeinflusst hatte. Sonst hätte sie wohl nicht die vielen Briefe und die Tagebücher so sorgfältig aufbewahrt.

Doch nicht nur als Partnerin von Albert Schweitzer verdient Helene Schweitzer Bresslau unsere Aufmerksamkeit. Sie begnügte sich nicht mit der Rolle, die die damalige Gesellschaft einer Frau zustand. Sie gehörte zu den ersten Studentinnen in Deutschland und war eine Pionierin der Sozialarbeit. Im Mittelpunkt ihres Lebens stand jedoch immer das gemeinsame Werk in Lambarene. Sie lebte das, was die zu Unrecht vergessene jüdische Münchner Autorin und Frauenrechtlerin Carry Brachvogel 1911 in ihrem Vortrag über die moderne Frau sagte: „Modern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiss aber das höchste Glück der Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit“ (zitiert in Metz: 14).

Auch wenn Helene Schweitzer Bresslau eine große Individualistin war, so ist ihr Leben nicht nur beispielhaft für die Emanzipation der Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts sondern auch für eine junge Frau aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum der Jahrhundertwende. Es ist ein Beispiel für die Emanzipation der Juden und ihr Scheitern. Die Familie Bresslau steht für jene Juden, die sich voll und ganz als Deutsche fühlten und für die nach 1933 die Welt zerbrach. In den schwierigen Jahren des Suchens nach einer sinnvollen Lebensaufgabe, beim Aufbau des Spitals in Lambarene, während ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung, über die Zeiten der Trennung von ihrem geliebten Mann, in Gefahr und Bedrohung – bis zu ihrem Lebensende bewahrte sie die „außerordentliche Würde“, die der Historiker Michael Meyer „als einen Teil des Vermächtnisses der deutschen Juden“ bezeichnet hat (Meyer: 133).