Helene von Mülinen

Hunger nach Gerechtigkeit
Hunger nach Gerechtigkeit Doris Brodbeck
Lebensdaten
von 1850 - bis 1924
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Copyright Privatbesitz (Helene von Mülinen um 1910)
Beziehungen

Helene von Mülinen wurde am 27. November 1850 als Tochter einer Patrizierfamilie in Bern (Schweiz) geboren, zu einer Zeit als eine neue politische Elite den jungen Schweizer Bundesstaat aufzubauen versuchte. Sie interessierte sich für Musik, Sprachen, Literatur, Geschichte und Theologie, konnte aber aus Rücksicht auf ihre großbürgerliche Herkunft kein Studium und keinen Beruf ergreifen, obwohl das Frauenstudium in Bern möglich gewesen wäre. Sie erkrankte daraufhin schwer und fiel in eine tiefe Glaubens- und Sinnkrise. Auch eine Heirat kam für sie schließlich nicht mehr in Frage.

Dann lernte sie 1891 ihre spätere Lebensgefährtin, die Medizinstudentin Emma Pieczynska-Reichenbach kennen und durch sie die Anliegen der internationalen Frauenbewegung. Sie begann in Bern Frauenbildungsanlässe zu organisieren, gründete dazu ein Frauenkomitee und nahm zu politischen Frauenanliegen Stellung. 1896 fand an der Landesausstellung in Genf ein schweizerischer Frauenkongress statt, zu dem sie inkognito den Eröffnungsbericht über das soziale Engagement von Frauen in der Schweiz verfasste. Im Jahr 1900 half sie den Bund Schweizerischer Frauenvereine (heute Alliance F) zu gründen und wurde dessen erste Präsidentin.

Wirkungsbereich

Helene von Mülinen erhielt als Mädchen zusammen mit ihren zwei Schwestern zunächst Privatunterricht durch ihre Mutter und durch einen Theologiestudenten, dann besuchte sie eine Mädchenschule, an der sie später selbst unterrichtete. In den 1880er Jahren schrieb sie sich als Hörerin für theologische Vorlesungen ein und interessierte sich zuerst für die liberale Theologie. Dann stieß sie auf den jungen „positiven“ Theologen Adolf Schlatter, dessen eigenständiger Umgang mit der Bibel sie nachhaltig beeindruckte und befreundete sich schließlich auch mit dessen Nachfolger in Bern, mit dem christlich-sozial engagierten Berner Theologen Fritz Barth (dem Vater von Karl Barth). Mit der Familie Schlatter verband sie ein langjähriger Briefwechsel, wobei nur ihre eigenen Briefe erhalten geblieben sind. Mit Fritz Barth wiederum engagierte sie sich seit den 1890er Jahren in der christlich-sozialen Gesellschaft des Kantons Bern, die sich 1907 der religiös-sozialen Bewegung anschloss. Sie war auch mit Leonhard und Clara Ragaz befreundet und mit der ersten Schweizer Juristin Emilie Kempin-Spyri.

Trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung entfaltete Helene von Mülinen nach ihrem 40. Lebensjahr ihr Lebenswerk, das im Aufbau der schweizerischen Frauenbewegung und in der Einflussnahme auf die neu entstehende schweizerische Gesetzgebung bestand. Ihre noch heute bemerkenswerten rechtlichen Forderungen können in „Hunger nach Gerechtigkeit“ nachgelesen werden. Obwohl sie nach vier Jahren im Präsidium des Bundes Schweizerischer Frauenvereine zurücktrat, wirkte sie doch weiterhin im Vorstand und in Kommissionen mit. Als sie am 11. März 1924 im Alter von 73 Jahren in Bern verstarb, hinterließ sie rund vierzig Kleinschriften, die im Archiv zur schweizerischen Frauenbewegung der Gosteli-Stiftung in Worblaufen gesammelt sind.

Reformatorische Impulse

„Wie wunderlich, dass die Menschen aus der Geschichte so wenig lernen, – noch immer ging jede festgefügte Theologie in die Brüche und führte irr, – und immer wieder machen die Menschen solche Theologien. Glauben ist leben, ist werden, ist Wachstum und Entwicklung. Aber wer, wie viele sind’s die dieses einsehn und wissen? Und scheint doch so kindereinfach.“ (Helene von Mülinens Brief an Susanna Schlatter 6./15.12.1891, 1. Blatt)

Als reformatorischer Impuls kann Helene von Mülinens Hinsehen auf die Bibel gewertet werden, das sie von Adolf Schlatter übernahm und das sie mit dem evolutionsorientierten Persönlichkeitsverständnis von John Stuart Mill verband, das allen Menschen – auch den Frauen – Wachstum und Persönlichkeitsentwicklung zugestand.

Dass ihr Adolf Schlatter, der sich selbst auch in gemäßigter Form für Frauenanliegen einsetzte, nicht folgen konnte, enttäuschte Helene von Mülinen sehr. In einem Brief an seine Frau warf sie ihm und der Kirche vor, den „Hungerruf nach dem Brot der Gerechtigkeit“ nicht gehört zu haben (18.3.1898), und sagte über seinen Greifswalder Kollegen Martin von Nathusius, dass er einer der Schriftgelehrter sei, die den Frauen „Steine für Brot und Skorpione für ein Ei bieten“ (24./28.2.1900).

Sie selbst entdeckte in Jesu Botschaft und Wirken, dass er Frauen nicht gesondert behandelte und schloss daraus, dass sich diese deshalb mit ihren Fähigkeiten in den Dienst am Reich Gottes stellen sollten. Diese theologische Einsicht gab ihr die Berechtigung, sich gegen gesellschaftliche Normen zu stellen, die für sie zuvor unüberwindbar schienen: die Zulassung von Frauen zu politischen Ämtern und zu beruflicher Tätigkeit.

Indem Helene von Mülinen aber von dem Ebenbild Gottes in Mann und Frau ausging, war ihr Ziel nicht die Angleichung der Frau an den Mann. Vielmehr strebte sie einen Freiraum für beide Geschlechter an, um das je eigene Ebenbild Gottes in sich zu entfalten. Ihr schwebte nicht ein Idealbild vor, sondern ein evolutionärer Prozess, der durch konkrete Erfahrungen im je eigenen gesellschaftlichen Umfeld angeregt wird. Dadurch befreite sie die Frau von überhöhten Idealen, aber auch von den traditionellen Schuldzuweisungen, wonach die Sünde durch die Frau in die Welt gekommen sei. Indem sie Frauenemanzipation und biblische Tradition neu miteinander verknüpfte, entwickelte sie ein biblisch begründetes Emanzipationsverständnis.

Die persönliche Entwicklung der Frau stellte Helene von Mülinen in den größeren sozialen Kontext der zeitgenössischen sozialreformerischen Bewegung, die sie als neues Wirken Gottes zu ihrer Zeit auffasste. Durch die Veränderung der Gesellschaft dränge sich auch eine neue, aktivere Form des Frauseins auf. Durch ihr soziales Engagement hatten die Frauen eine besondere Sichtweise in Kirche, Beruf und Politik einzubringen: die Solidarität mit Benachteiligten.

Zum Bild: Privatbesitz (Helene von Mülinen um 1880)

Kommentar

Helene von Mülinen erhielt mit ihrer Auffassung viel Sympathie bei den Frauenvereinen, die sie im Bund schweizerischer Frauenvereine zusammenführen konnte, darunter auch einzelne Arbeiterinnenvereine. Es gelang ihr auch, mit Vertretern der neu entstehenden schweizerischen Gesetzesbücher ins Gespräch zu kommen. Aber ihre Option für die sozial Schwachen unterschied sich zu grundlegend von den damaligen bürgerlichen Vorstellungen der neuen politischen Elite, um von dieser übernommen werden zu können. Auch die sozialdemokratischen Kräfte dachten zu patriarchalisch und die Theologen definierten die Frau zu sehr als Ehefrau (höchstens noch als Missionarin unter Frauen), um Helene von Mülinens Überlegungen zu Beruf und öffentlichem Engagement nachvollziehen zu können.

Von ihren Nachfolgerinnen im Bund schweizerischer Frauenorganisationen, heute Alliance F, wurde Helene von Mülinen mit Briefbiografien gewürdigt. Ihnen ist es zu verdanken, dass ein großer Briefnachlass mit den von ihr verfassten Briefen im Familienarchiv in der Burgerbibliothek Bern greifbar ist. In der Schweizer Frauengeschichtsschreibung nimmt Helene von Mülinen eine wichtige Rolle ein. Noch wichtiger wäre es aber, wenn ihre Denkansätze für die heutige Frauenbewegung wieder entdeckt würden, wie dies 1950 durch Marga Bührig geschah, die sich mit Helene von Mülinen befasste und so wichtige Impulse bekam, um die Frauenemanzipation christlich zu reflektieren.