Henriette Louise von Hayn wurde am 22. Mai 1724 in Idstein geboren; ihr Vater war Georg Heinrich von Hayn Fürstlich Nassauischer Oberjägermeister, ihre Mutter Ernestine von Lassberg, deren Familie einst aus Österreich wegen ihres evangelischen Glaubens vertrieben worden und nach Öttingen in Schwaben emigriert war. Über Henriette Louises Mädchenjahre wissen wir nichts Genaueres; es ist anzunehmen, dass sie eine standesgemäße Erziehung als adliges Fräulein bekam – vielleicht hatte sie auch Latein und Griechisch gelernt. Idstein war auch geprägt von seinem traditionsreichen Gymnasium wie von einer Druckerei, die pietistische Literatur druckte. Auch die Pfarrer neigten zu der eher subjektiven Herzensreligiosität des Pietismus. Darunter war der Generalsuperintendent Lange, welcher Henriette Louise von Hayn konfirmierte. Sie selbst fasste ihre Religiosität später zusammen in die Worte: „mein Herz brannte recht in der Liebe Jesu“. Irgendwie hatte sie von einer ganzen Siedlung gehört, die in diesem Geist lebte: nämlich die evangelische Brüdergemeine des Grafen Zinzendorf in Herrnhaag (Wetterau). Gegen den Willen ihrer Eltern und gegen die Pfarrherren (darunter Lange) und adlige Herrschaften erreichte sie es schließlich, dass sie 1746, also mit 22 Jahren, aufgenommen wurde und im Mädchenhaus die Erziehung der Kinder übernahm. Da es in der Brüdergemeine alle Dienste und Ämter parallel für Männer und Frauen gab, hatte Henriette Louise von Hayn hier nicht nur die Chance, Lehrerin für die Mädchen zu werden, sondern auch geistliche Ämter zu übernehmen: 1748 wurde sie zur Acoluthie („Nachfolge“) angenommen und zu einer Diakonissa (weibliches Gegenstück zum Diakon) der Brüder-Kirche eingesegnet. 1750 wurde sie Vorsteherin des Mädchenhauses und übersiedelte mit diesem nach Herrnhut. 1758 wurde sie zusammen mit 11 anderen Schwestern von Graf Zinzendorf zur „Priesterin“ ordiniert, ein Weihegrad, der allerdings nach Zinzendorfs Tod 1760 wieder verschwand. 1766 wurde Henriette Louise von Hayn zur Chorhelferin ernannt, d.h. sie war Seelsorgerin für die Lebens-, Arbeits- und Wohngemeinschaft („Chor“) der gut 400 ledigen Schwestern in Herrnhut und übte, nach übereinstimmenden Quellen, eine sehr segensreiche Tätigkeit aus. Das schloss nicht aus, dass sie die Schwestern z.B. wegen des „Durchhechelns“ Anderer auch ermahnen musste! Nach längerem Tuberkulose-Leiden neigte sich ihr Leben zum Ende. Sie „freute sich ausserordentlich und wollte daß sich alles mit ihr freuen sollte“, heißt es im Bericht über ihr Sterben, da sie den so geliebten gekreuzigten Heiland jetzt sehen werde. Sie starb am 27. August 1782 in Herrnhut, wo sie auf dem Gottesacker am Hutberg begraben liegt.
Die schon zu ihren Lebzeiten weltweite Brüdergemeine war ein äußerst gut funktionierendes Netzwerk und Beziehungsgeflecht: alle Erlebnisse in den Chören fanden ihren Niederschlag in den Diarien und in den Protokollen der vielfachen Konferenzen, oft wurden diese Texte abgeschrieben und bei Gemeinversammlungen an anderen Orten der Brüdergemeinen vorgelesen. Infolge der Gleichwertigkeit von Brüdern und Schwestern waren die Mädchen und Frauen genauso im Bewusstsein der Gemein-Öffentlichkeit wie der männliche Teil. Dazu kam und kommt noch heute die Aufgabe jedes Bruders und jeder Schwester, beizeiten einen Lebenslauf zu schreiben, der dann bei der Beerdigung vorgelesen wird. Von manchen, wie Henriette Louise von Hayn, wurde der Lebenslauf später nicht nur abgeschrieben, sondern auch gedruckt.
Die Brüdergemeine verstand sich von Anfang an nicht nur als geistliche Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, sondern besonders in der Zinzendorfzeit auch als Ort der Kreativität, wo alle, Brüder wie Schwestern, adlig oder bürgerlich oder bäuerlich, in ihren kreativen Fähigkeiten gefördert wurden. Auch Henriette Louise von Hayn begann, eine große Anzahl von Liedern (am bekanntesten ist „Weil ich Jesu Schäflein bin“), Gedichten, ganzen Kantatentexten, Gelegenheitsgedichten und Gedichten auf Verstorbene (besonders berührend sind ihre „Kindertotenlieder“ auf die kleinen Mädchen des Mädchenhauses!). Zinzendorf selbst regte auch immer wieder zum Dichten an, veranstaltete Dichterwettbewerbe und sagte etwa 1747 zu den ledigen Schwestern: „Meine Schwestern, es ist sehr jungfernhaltig, wenn man Lieder macht. Das Jungfernchor sollte uns die wichtigsten, meisten und schönsten Lieder in unsere (Gesangbücher) liefern. Der tägliche Umgang mit dem Schmerzensmann, die Ideen, meine Schwestern, ‚ihn aus aller unsrer Macht zu umfangen Tag und Nacht‘, die sollten euch recht schöne und wichtige Gedanken machen, Erinnerungen, heilige Lieder dichten zu lernen.“ Die täglich gepflegte religiöse Hingabe an den gekreuzigten Jesus, den „Schmerzensmann“, führte in der Brüdergemeine dazu, dass viele Lieder und Gedichte von Frauen entstanden und teilweise bis heute im Gesangbuch der Brüdergemeine stehen: So finden sich im derzeitigen Brüdergesangbuch 2007 fünf Lieder und einzelne Verse von Henriette Louise von Hayn (über ihr Lied „Weil ich Jesu Schäflein bin“ s.u.). Obwohl sie zu Lebzeiten zwar als leitende Schwester innerhalb der weltweiten Brüdergemeine sehr wohl eine rege und segensreiche Tätigkeit ausübte, war sie nicht wirklich öffentlich außerhalb der Brüdergemeine tätig. Auch die „Reden“ von ihr, die 1998 gefunden wurden, waren keine öffentlichen Predigten, sondern geistliche Ansprachen innerhalb des Chors der ledigen Schwestern. Andererseits wurde Henriette Louise von Hayn durch ihre Lieder, besonders durch „Weil ich Jesu Schäflein bin“, auch außerhalb der Brüdergemeine bekannt. Ihr Lied steht in einigen Regionalteilen des Evangelischen Gesangbuchs und wurde auch in verschiedene Sprachen übersetzt bzw. findet sich in den Gesangbüchern anderer evangelischer Kirchen – so „I am Jesus’ little lamb“ im Lutheran Service Book Nr. 740.
a) Auswirkungen der Reformation für Henriette Louise von Hayn
Die grundlegende reformatorische Glaubenserfahrung, allein durch den blutigen Tod Jesu am Kreuz aus lauter Gnade vor Gott gerechtfertigt zu sein, erfuhr Henriette Louise von Hayn auch in ihrem Leben. Sie schrieb davon in ihrem Lebenslauf: nach einer Zeit der Verzweiflung, als sie erkennt, dass „am ganzen Menschen nichts gesund“ war und „es war, als ob jeder Blutstropf in mir weinte nach meinem Versöhner, nach meinem Erretter, der mich vor Gottes Thron gerechtsprechen u[nd] für Sein erlöstes Kind erklären sollte“, da erlebt sie die Wende, ähnlich wie Martin Luther: „Es wurde mir, als ob ich in Jesu Blut untergetaucht und versenkt würde, ganz wie ich da war, und alle meine Sinne schlossen sich da zu; und damit brach der helle Tag an in meinem Herzen, wie die Sonne durch die Wolken bricht; es war Friede, Friede, unaussprechlicher Friede! Ich fühlte mich wie ein neugebornes Kindlein, das von seinen Eltern nach überstandenen Schmerzen zärtlich ans Herz gedrückt und geküßt, getränkt, gespeiset und eingewieget wird. O ihr himmlischen Momente, alle menschlichen Vergleiche reichen nicht an euch! Es war mir würcklich oft so, als ob alle Blutströpflein in meinen Adern und alle Thränlein, die häufig von meinen Wangen flossen, ausriefen: ich bin versöhnt!“ Dieses religiöse Erlebnis löste bei ihr große Kreativität aus und ließ sie mehrere Passionslieder sowie viele Kantatentexte dichten, die ihren „Sitz im Leben“ in den geistlichen Zusammenkünften, Andachten und Festgottesdiensten der Brüdergemeine hatten.
b) Reformatorische Impulse von Henriette Louise von Hayn:
Henriette Louise von Hayn gab ihre auf Jesus Christus konzentrierte Glaubenserfahrung am wirksamsten durch ihr bekanntestes Lied „Weil ich Jesu Schäflein bin“ weiter, das sie für den 36. Geburtstag ihrer Freundin Christine Petersen, einer Lehrerin, am 1. August 1776 in Herrnhut dichtete:
Die ursprünglich sieben Strophen lauten:
1. Weil ich Jesu Schäflein bin freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich schön weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt, und bei meinem Namen nennt.
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2. Unter seinem sanften Stab geh ich aus und ein und hab unaussprechlich süße Weide, daß ich keinen Hunger leide, und sooft ich durstig bin, führt er mich zum Brunnquell hin.
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3. Mein Erbarmer leitet mich sicher und behutsamlich, gibt mir auch wohl Salz zu lecken, meinen Durst recht zu erwecken nach dem roten Wundenbach, wenn ich kränklich bin und schwach.
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4. Er hat mich hinaus ins Feld zu der Lämmer Hut bestellt, und ich darf in seinen Nähen nur so sachte beiher gehen und auf dieser niedern Flur folgen meines Hirten Spur.
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5. In dem Früh- und Abendtau einer immergrünen Au schlaf ich und erwache wieder, setz mich zu der Herde nieder in das saftigste Revier, und ihr Brünnlein quillt auch mir.
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6. Drückt mich meine kleine Last und ich brauche Ruh und Rast, darf sein Schäflein ohn Bedenken in des Hirten Schoß sich senken, kriegt an seiner milden Brust wieder neue Arbeitslust.
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7. Sollt ich nun nicht fröhlich sein ich beglücktes Schäfelein? Denn nach diesen schönen Tagen werd ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß. Amen, ja, mein Glück ist groß.
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In der Brüdergemeine wurde das Lied gerne angenommen und erschien von Christian Gregor auf die ersten beiden Strophen sowie die letzte Strophe verkürzt, 1778 im „Neuen Brüder-Gesangbuch“, allerdings unter den Abendmahlsliedern, vielleicht weil die Dichterin in Strophe 2 davon redet, wie Jesus, der Gute Hirte, seelischen Hunger und Durst stillen kann, was wir, sinnenhaft und geistlich zugleich, im Heiligen Abendmahl erfahren können. Dass allerdings mit Kindern dieses Lied gern gesungen wurde und wird, zeigt, wie gut Henriette Louise die Bedürfnisse von Kindern – und nicht nur von diesen – erfasst hatte, das Bedürfnis nämlich, in einer bedrohlichen Welt einen Ort der Geborgenheit für Leib und Seele zu finden, so wie sie selbst in der Brüdergemeine einen Ort der Gegenwart Christi gefunden hatte.
Im Alten wie im Neuen Testament spielt das Bild vom Guten Hirten eine wichtige Rolle, als eine Beschreibung für Gottes Wirken an Israel, seinem Volk bzw. vom Handeln Jesu Christi an den Seinen: Der Gute Hirte sorgt für das Lebensnotwendige, für Essen und Trinken, einen Ruheplatz und die notwendige Erholung, er wehrt die Feinde ab – es gibt auch „Schlechte Hirten“ – und weist der ganzen Herde den richtigen Weg, ja, er kennt jedes einzelne Schaf mit Namen und wenn sie in die Irre gehen, holt er es auf seiner Schulter zurück.
Allerdings ist auch neben diesem starken Bild der Geborgenheit beim „Guten Hirten“ darauf hinzuweisen, dass die Dichterin einen eigenen Umgang mit dem biblischen Text pflegt und Bilder sowie Gedanken aus dem Alten (besonders Psalm 23) wie dem Neuen Testament (Johannes 10) zum Guten Hirten heraussucht und in ihrem Lied neu verknüpft:
So spricht der Psalm 23 deutlich von den Feinden, vor denen der Beter zu Gott, zum Haus des Herrn flieht, zudem ist im Psalmtext nicht nur vom sanften Stab die Rede, sondern auch von der (wörtlich übersetzt) „(eisenbeschlagenen) Keule“, die der Hirte braucht, um die Schafe gegen die feindlichen Mächte zu schützen. Auch Christus, der Gute Hirte des Neuen Testaments, kennt die Feinde und Gefahren, die stets seine Herde bedrohen: der „Schlechte Hirte“ oder „Mietling“, der in der Gefahr die Herde im Stich lässt. Schafe können sich auch lebensbedrohlich verirren.
Diese gewissermaßen härtere Seite der Wirklichkeit ist bei Henriette Louise von Hayns Lied stark abgeschwächt, der Hauptton liegt auf Heilung, Stärkung und Geborgenheit in der Nachfolge Jesu, der seelischen Gemeinschaft mit ihm.
Im Unterschied zu den biblischen Bildern vom Guten Hirten ist im Lied auch nicht die Rede von der Herde oder einer Gemeinschaft der Gläubigen, sondern nur vom „Ich“; was bei einem Lied der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert auffällt, war doch gerade dort der Gemeinschaftsgedanke besonders ausgeprägt. Oder finden sich 1772 schon andere, individuellere Töne?
Ähnlich kommt im Psalm 23 der „Name“ vor, aber dort ist es der machtvolle Name Gottes, in dessen Schutz sich der Beter oder die Beterin sicher fühlen kann. Im Lied dagegen spielt auch der „Name“ eine Rolle, aber es handelt sich nun um den eigenen Namen, den der Gute Hirte kennt – vielleicht auch als Hinweis auf die Taufe zu verstehen.
Ist im Psalmtext als Schlussvers die Hoffnung ausgedrückt, alle Tage des Lebens im „Haus des Herrn“ Gutes zu erfahren, also sehr irdisch und wohl auch auf den Jerusalemer Tempel bezogen, so verlegt die Dichterin die Erfüllung aller Sehnsucht in das Leben nach dem Tod, in die endgültige innige Gemeinschaft mit Jesus Christus:
Denn nach diesen schönen Tagen
werd ich endlich heimgetragen
in des guten Hirten Schoß.
Amen, ja, mein Glück ist groß.
Auch wenn im Lied eindeutig Jesus Christus der Gute Hirte ist und in der Theologie der Brüdergemeine damals der Schwerpunkt stets auf Christus, dem „Heiland“, liegt, so können wir nicht dem Fehler verfallen, Henriette Louise von Hayn einen schroffen Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament zu unterstellen; immerhin ist nicht nur der sorgende Hirte als Gottesbild dem Alten Testament entnommen, sondern auch die Hoffnung, in des Hirten Arm und Schoß aufgenommen zu werden, die sich aus Jesaja 40,11 ableiten lässt: „Er (Gott der Herr) wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen.“
Vergessen wir außerdem nicht, dass Henriette Louise inmitten einer Welt lebte, die nicht abgeschlossen war vom übrigen Europa, sondern durch die vielen Aristokraten innerhalb der Brüdergemeine und deren familiäre und sonstige Verbindungen mit dem Zeitgeist regen Austausch hatte. Manche der idyllischen Bilder, wie in ihrem Lied hier der Schäfergedanke, ist auch vor dem Hintergrund des europäischen Rokoko, der artifiziellen Schäferwelt und der Natursehnsucht der Adligen jener Epoche zu interpretieren. So ist Henriette Louises bekanntestes Lied keineswegs nur als „niedlich“ zu verstehen, sondern von der biblischen Sprache her wie auch auf dem Hintergrund ihrer Zeit.
Mich beeindruckt, dass Henriette Louise von Hayn so kühn und entschlossen infolge ihres Bibelverständnisses das Elternhaus verließ, um nach ihrer Überzeugung in der Herrnhuter (Frauen-)Gemeinschaft zu leben, dort poetisch sehr kreativ war und wichtige Leitungsämter ausübte. Dies tat sie, weil „ihr Herz in der Liebe zu Jesus brannte“.
Das Leben in der Gemeinschaft der ledigen Schwestern barg aber die Gefahr, dass alle sich nur um sich selbst drehten und keine Auseinandersetzung mehr mit der Welt außerhalb der Gemeinschaft stattfand. Ein oder zwei Generationen später konnte deshalb dann ein Besucher über das ledige Schwesternchor schreiben, dass er bei den Schwestern „eine gewisse Blödigkeit“ festgestellt habe!