Henriette Visser’t Hooft-Boddaert, geboren 1899 in Den Haag, lebte als gebürtige Niederländerin mit ihrem Mann, der Generalsekretär des Christlichen Studentenweltbundes und später des Ökumenischen Rates der Kirchen war, und ihrem Sohn in Genf. Sie nahm mit ihrem Mann an internationalen ökumenischen Treffen teil und setzte sich um 1934 in mehreren religiös geprägten Aufsätzen für eine eigenständige Stellung der Frau ein. Sie ging dabei auf biblische Argumente ein und zog besonders auch psychologische Erkenntnisse aus der Schule von Carl Gustav Jung bei. 1950 publizierte sie eine Interpretation von Simone de Beauvoirs (1908-1986) Werk „Le deuxième sexe“ [Bd. 1, Paris 1949]. 1934 bis 1948 korrespondierte sie mehrmals mit dem Theologen Karl Barth (1886-1968) und seiner Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum (1899-1975), konnte sich aber mit ihnen über ihre Forderung nach einer nicht-hierarchischen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung von Mann und Frau nicht einig werden.
Im selben Jahr 1934 erscheinen zwei Aufsätze von Henriette Visser’t Hooft: „Eva, wo bist du?“ wird vom Holländischen in zahlreiche Sprachen übersetzt sowie der etwas knappere Artikel „Is there a Woman’s Problem?“, der in der Zeitschrift des Christlichen Studentenweltbundes „The Student World“ Verbreitung fand. Beide Artikel zielen in eine ähnliche Richtung – sie plädieren für ein auf Gegenseitigkeit ausgerichtetes Geschlechterverhältnis. Während Frauen – gerade auch die Studentinnen mit ihrer Ausbildung – längst Schritte auf die Männerwelt und deren Normen hin unternommen hätten, klagt Henriette Visser’t Hooft das fehlende männliche Interesse an weiblichen Werten ein. Sie will keine zusätzliche Frauenfrage einführen, doch schaffe gerade die gesellschaftliche Aussonderung des Weiblichen die Frauenfrage. Sie weist auf die Absurdität der Auslegung von 1. Korinther 11,5-9 („Der Mann ist nicht für die Frau geschaffen worden, aber die Frau für den Mann“) hin, die auf die Isolierung der Frau von Gott hinzielt oder die Frau zwei Meistern unterstellt. Für Henriette Visser’t Hooft macht die Textstelle nur dann Sinn, wenn „geschaffen für“ auf eine Rolle der Frau als Korrektiv zum Mann hindeutet (ebenso 1. Mose 2,18: die Frau als Hilfe für den Mann). Innerhalb der gleichberechtigten Beziehung von Mann und Frau vor Gott müsste sich gemäss Henriette Visser’t Hooft aber auch der Mann als korrektives Gegenüber zur Frau einbringen.
Zutiefst reformatorisch ist das Anliegen von Henriette Visser’t Hooft, als Frau vom Glauben her gleichwertig und mit einem direkten Zugang zu Gott angesehen zu werden. Dass sie sich getraut, darüber in eine Auseinandersetzung mit Karl Barth zu treten, der Koryphäe nicht nur innerhalb der reformierten Kirche, sondern auch auf dem internationalen Parkett der ökumenischen Kirchenbewegung, auf dem sie sich als Ehefrau des Generalsekretärs des Christlichen Studentenweltbundes und später des Ökumenischen Rats der Kirchen bewegte, zeugt ebenfalls von einer starken Verwurzelung in der reformatorischen Überzeugung, wonach sich Frauen auch in Glaubensdingen einbringen sollen.
Dass sich Henriette Visser’t Hooft gegenüber Karl Barth nicht das nötige Gehör verschaffen konnte, hängt daran, dass dieser für sich eine andere, dialektische Form des Umgangs mit der Bibel erarbeitet hatte und diese herausstreichen wollte. Als eine Auswirkung von Henriette Visser’t Hoofts Impulsen darf aber angesehen werden, dass durch ihre Briefe an Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum zumindest letztere bestärkt wurde, sich mit der Thematik der Stellung der Frau eingehend zu beschäftigen, mit der sie sich bereits in ihrer Ausbildung an der Frauenschule in Berlin auseinander gesetzt hatte, und die dann in die Schöpfungslehre von Karl Barth einfloss und etwa ein Jahrzehnt später auch zu eigenen Publikationen führte.
Die Überprüfung theologischer Überlieferung anhand von psychologischen Einsichten gehört zu den Standards heutiger praktischer Theologie. Dass Henriette Visser’t Hooft das Verhältnis von Studentinnen und Studenten im Christlichen Studentenweltbund vor Augen hatte und psychologisch reflektierte, brachte sie zu Erkenntnissen, die dem traditionellen Frauenbild vieler damaliger Theologen damals weit voraus waren. Dass sich Henriette Visser’t Hooft neben dem Briefwechsel mit Karl Barth auch in eigenständigen Aufsätzen formulierte, entspricht dem fortgeschrittenen theologischen Umfeld, das auch Frauen als Verfasserinnen von Beiträgen heranzog. Sie fühlte sich von der Spannung zwischen den sehr liberalen Auffassungen, wie sie unter den Studierenden beiden Geschlechts gepflegt wurden, und den Rollenklischees des aufkommenden Nationalismus herausgefordert. Reformatorisch ist demnach auch Henriette Visser’t Hoofts wache Wahrnehmung gesellschaftlicher Entwicklungen und ihr kritisches Eingreifen.
Henriette Visser’t Hoofts Bedenken gegenüber den Studentinnen, die sich ganz in die männlich geprägte Studienwelt einließen und sich anzupassen wussten, muss auch heute wieder gehört werden. Auch heute leisten Frauen oft viel Anpassungsarbeit, um in der Berufswelt voranzukommen. Umgekehrt leidet die herkömmlich weiblich geprägte Privatsphäre von Freundschaft, Familie und Kindererziehung unter dem Umstand, dass Männer ungleich viel weniger den gegengesetzten Schritt tun und sich die emotionale Welt erobern. So bleibt Henriette Visser’t Hoofts Forderung nach Gegenseitigkeit im Geschlechterverhältnis (mutuality) noch immer ein Desiderat, das auch für unsere Gesellschaft bedeutsam ist, will man nicht auf die ausgetretene Forderung zurückkommen, die Frauen müssten wieder zurück an den Herd. Gegenseitigkeit bedeutete für Henriette Visser’t Hooft nicht die Angleichung der Geschlechter (amalgamation), sondern das, was sie auch im biblischen Begriff der Liebe wiederzufinden glaubt.
Ihre Bedenken, dass aus der biblischen Parallele zwischen dem Geschlechterverhältnis und der Beziehung zwischen Gott und der Gemeinde eine Stufenleiter abgeleitet würde, die der Frau die Gottunmittelbarkeit raubt, ist wohl in der allgemeinen Glaubenspraxis noch immer nicht genügend entkräftigt worden. Dass die Frau für den Mann geschaffen sei, wird noch zu oft als Hinordnung der Frau allein auf den Mann angesehen, statt dass Frau und Mann als direkt auf Gott hingeordnet verstanden werden. Dieser Hinweis auf eine derartige Differenzierung der religiösen Geschlechtervorstellungen hat vor dem Hintergrund reformatorischen Denkens seine unbedingte Berechtigung.