Hille Feicken

Eine neue Judith. Die Metamorphose einer Münsteraner Täuferin
Eine neue Judith Marion Kobelt-Groch
Lebensdaten
von unbekannt - bis 1534
Beziehungen

Hille Feicken gehörte nicht zu den Münsteraner Täuferinnen der ersten Stunde. Sie weilte noch fern der Stadt, als die reformatorischen Umtriebe Früchte zu tragen begannen, Bernhard Rothmann evangelisch predigte, im März 1533 ein Bildersturm einsetzte und im Januar 1534 damit begonnen wurde, die Erwachsenentaufe zu vollziehen. Die am 30. Januar erfolgte offizielle Tolerierung der Täufer trug mit dazu bei, dass das Münsteraner Täuferreich unter der charismatischen Führung eines Jan Matthijs Gestalt annehmen konnte. Er betrachtete „Münster als die Stadt der Auserwählten, das ‚Neue Jerusalem’, in der sich die Gemeinde in Erwartung des Weltendes sammeln konnte“ (Klötzer 2000: 34). Matthijs war es also, der den für 1533 zwar erwarteten, aber ausgebliebenen Weltuntergang neu berechnete und nun auf den 5. April 1534 datierte. Die Täuferherrschaft in Münster bot den von obrigkeitlicher Seite geächteten und verfolgten Täufern eine neue, wenn auch unsichere Heimat, denn bereits im Februar 1534 begann Fürstbischof Franz von Waldeck, die Belagerung der Stadt vorzubereiten. Er war nicht der einzige, der die Täufer bekämpfte. Spätestens seit dem Speyerer Reichstag (1529) galten sie als die offiziellen Verlierer der Reformation, deren reformatorisches Anliegen nicht nur scharf kritisiert, sondern gänzlich verworfen und kriminalisiert wurde. Die Täufer sahen sich selbst in einem ganz anderen Licht. Ihrer Meinung nach hatten sie den einzigen gottgefälligen Glaubensweg eingeschlagen. Sie waren nicht nur schlecht auf die katholische Kirche und ihre geistigen Würdenträger zu sprechen, sondern auch auf die meisten Reformatoren, die angeblich auf halber Strecke steckengeblieben waren. In radikaler Manier hatten die Täufer weitergehende Reformen gefordert. Dazu gehörte vor allem die Ablehnung der Kindertaufe, die ihnen nicht schriftgemäß erschien und die sie durch die Erwachsenen- oder besser Glaubenstaufe ersetzten. Im Sinne Walter Klaassens sind die Täufer weder als katholisch noch als protestantisch zu charakterisieren. „Die täuferische Bewegung war eine Alternative zu beiden großen Kirchen“ (Goertz 1988: S. 12).

Was Menschen erwartete, die sich zu den Täufern bekannten, die die Glaubenstaufe empfingen und für ihre Überzeugung warben, war im Wiedertäufermandat des Speyerer Reichstags (1529) deutlich und äußerst scharf formuliert worden. Wer die Wiedertaufe vollzog oder sich ihr unterzogen hatte, war mit dem Tode zu bestrafen, ohne dass vorher noch ein geistliches Inquisitionsgericht tätig werden musste. So abschreckend diese rechtliche Bestimmung auch gedacht war, sie wirkte nur bedingt. Letztlich konnte selbst der drohende Verlust des Lebens viele Männer und Frauen nicht davon abhalten, sich den Täufern anzuschließen, die aus dem Wildwuchs der Reformation und dem radikalen Milieu des Bauernkriegs von 1524/25 hervorgegangen waren und in unterschiedlichen Bewegungen, vor allem in der Schweiz, in Österreich, Süd- und Mitteldeutschland und den Niederlanden fortlebten. Das Münsteraner Täuferreich, das 1534 Gestalt annahm und 1535 nach mehrmonatiger Belagerung unterging, war lediglich eine Facette im bunten täuferischen Erscheinungsbild. Was alle täuferischen Bewegungen außer bestimmten Glaubensinhalten miteinander verband, war die gemeinsame Frontstellung gegenüber einer intoleranten Obrigkeit, die alles daran setzte, die Täufer zu bekämpfen und auszurotten. Das erste Mandat gegen die als bedrohlich geltenden Täufer und Täuferinnen war am 7. März 1526 in Zürich erlassen worden. Ihm folgten nicht nur weitere strafrechtliche Bestimmungen, sondern auch die ersten Hinrichtungen. Wer für seinen Glauben freudig und sogar singend in den Tod ging, darunter viele Frauen, der musste zutiefst davon überzeugt sein, sich auf dem einzig rechten, gottgefälligen Weg zu befinden. Nicht jeder Täufer und nicht jede Täuferin verfügten über eine derartige Kraft. Manche widerriefen und zeigten sich reuig, andere kehrten dem täuferischen Glauben nur scheinbar den Rücken, um zunächst einmal ihre Haut zu retten.

Eine mutige Frau dieses Schlages, die sich für den täuferischen Glauben entschieden hatte und vor möglichen Konsequenzen nicht zurückschreckte, dürfte auch Hille Feicken gewesen sein, die als Münsteraner Judith Furore machte. Wahrscheinlich wäre die Geschichte achtlos über sie hinweggegangen, hätte sie nicht als neue Judith versucht, den Fürstbischof Franz von Waldeck zu ermorden. Neben Erwähnungen u. a. in zeitgenössischen Chroniken geben vor allem die beiden erhaltenen Verhöre Hilles vom 26. und 28. Juni 1534 Auskunft über ihre Herkunft, ihr Leben in Münster und die handlungsleitenden Motive beim geplanten Anschlag auf den Fürstbischof. Ob Hilles Antworten korrekt wiedergegeben wurden, darüber lässt sich nur spekulieren. Dies gilt auch für den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, da das zweite Verhör unter Anwendung der Folter stattfand.

Von ihrer Metamorphose, die eine Allerweltstäuferin in eine biblische Heldin verwandeln sollte, wusste Hille noch nichts, als sie sich den Täufern zuwandte. Eine eigenwillig vollzogene Hinwendung zu einem neuen Glauben konnte ein Schritt sein, der Familienbande zerriss und eine Ehe zerrüttete. Bei Hille Feicken scheint es allerdings keine gravierenden Zwistigkeiten gegeben zu haben, wie dies in so mancher Ehe der Fall war, wenn ein Ehepartner den anderen aus Glaubensgründen verließ. Hille Feickens etwas mysteriös anmutender Ehemann „Psalmus“, über den aus dem erstem Verhör lediglich bekannt ist, dass er in Utrecht geboren wurde, die Bibel oder das Neue Testament in deutscher Sprache lese, könnte derjenige gewesen sein, der seine Frau inspiriert hatte und die treibende Kraft beim Aufbruch nach Münster war. Hille bestreitet nämlich, hinsichtlich ihres Tuns und Anliegens von Freunden beeinflusst worden zu sein. Sie verweist vielmehr auf ihren Mann, von dem sie es habe. Er war auch derjenige, der zuerst nach Münster zog, drei Wochen vor seiner Frau. Warum sie nicht gemeinsam aufbrachen, lässt sich nur vermuten. Vielleicht wollte er erst einmal schauen, ob die Stadt tatsächlich hielt, was über sie verkündet worden war. Zumindest scheinen beide bereits die Glaubenstaufe empfangen zu haben, bevor sie gen Münster zogen. Wann Hille Feicken sich dazu entschlossen hatte, den täuferischen Glauben anzunehmen und unter welchen Umständen ihre Taufe stattgefunden hatte, ist nicht bekannt. Es gab viele Möglichkeiten, angefangen bei eher massenhaft vollzogenen Taufen, wie dies in Münster der Fall war, nachdem die „Gottlosen“ am 27. Februar aus der Stadt getrieben worden waren und alle Verbleibenden sich taufen lassen mussten. Ein derartiges, zwanghaftes Vorgehen, war eher die Ausnahme. Ansonsten fanden Taufen in kleinerem Kreis statt, sei es, dass ein Täuferführer mehrere oder alle Bewohner eines Hauses taufte oder der Akt im Anschluss an eine Versammlung an Taufwilligen vollzogen wurde. Bekannt ist, dass Hille Feicken in Sneek von einem namentlich unbekannten Holländer getauft worden war. Dieses friesische Städtchen in den Niederlanden, das heute etwa 33.000 Einwohner zählt, scheint Hilles Wohnort gewesen zu sein, denn ehe sie sich nach Münster begab, habe sie dort alles, was sie besaß, ihr ganzes Gut an die Armen verschenkt. Mit dem Aufbruch nach Münster verließ sie nicht nur ihren Wohnort, sondern eine vertraute Gegend und Menschen, die ihr nahestanden. Zu ihnen gehörte auch ihr Vater, der ebenfalls in Sneek wohnte und dort frommen Leuten um Tagelohn diente, wobei es sich durchaus um Täufer gehandelt haben könnte, denn „fromm“ konnten in den Augen von Täufern und Täuferinnen eigentlich nur Gleichgesinnte sein. Der Weg nach Münster war weit. Luftlinie gerechnet, mussten Hille und Psalmus nahezu 180 km zurücklegen, aber die Menschen der damaligen Zeit waren durchaus mobil und aus unterschiedlichen Gründen viel unterwegs. Hille und ihr Mann wollten nicht irgendwohin, sondern einzig und allein in diese Stadt, die zum „Neuen Jerusalem“ erklärt worden war und Täufer von nah und fern anzog. Hille betont ausdrücklich, keine materiellen Absichten verfolgt zu haben, sondern einzig und allein davon getrieben worden zu sein, „ihrer Seelen Seligkeit in dem Worte Gottes zu suchen“ (Löffler 1924: 97). Wie viele andere, waren ihr Mann und sie durch Briefe informiert worden, dass Münster das neue Jerusalem sei. Psalmus war zuerst der Aufforderung nachgekommen, in die Stadt der Heiligen zu ziehen, später schickte er einen Brief an seine Frau, dass sie ihm folgen solle. Wie es in dem Aufruf von Anfang März 1534 heißt, sollten in Münster alle „Brüder“ und „Schwestern“ sicher sein vor dem kommenden Gottesgericht. Hilles Vorgehen, sich um die Zurückbleibenden nicht zu kümmern und sich vor der Abreise allen Besitzes zu entledigen, entsprach den Anweisungen: Niemand solle sich umdrehen nach Dingen und Menschen oder gar an seinem Besitz kleben: „Es ist Gut genug für die Heiligen vorhanden. Darum nehmt nichts mit als Geld und Kleidung und Kost auf den Weg“ (van Dülmen 1974: 79).

Wirkungsbereich

Da die Neuankömmlinge aus Sneek bereits getauft waren, hatten sie bei ihrer Ankunft in Münster keine Schwierigkeiten zu befürchten. Hille spricht davon, dass sie gefragt worden sei, ob sie die Taufe empfangen habe, was sie bejahte. Darauf hin nahm sie das kupferne Zeichen in Empfang, eine Art Erkennungsmarke oder auch Zeichen kollektiver Identität, das um den Hals getragen wurde. Heinrich Gresbeck, der vielleicht wichtigste Chronist, der während der Täuferherrschaft in Münster weilte, berichtet davon, dass dieses Zeichen zunächst mit der Aufschrift „das Wort wird Fleisch“ in der Lamberti Kirche an Männer und Frauen verteilt worden sei, vier Wochen später habe die Aufschrift dann gelautet: „das Wort wurde Fleisch“. Untergebracht wurde Hille im Kloster Niesing, das extra für Neuankömmlinge zur Verfügung stand. Die Nonnen hatten ihr Kloster und die Stadt verlassen müssen, weil sie es abgelehnt hatten, sich taufen zu lassen. Nach der Täuferherrschaft sollten sie zurückkehren und ihr Kloster wieder in Besitz nehmen.

Die zum „Neuen Jerusalem“ erklärte Stadt entsprach vielleicht nicht in allen Punkten Hilles Erwartungen. So wusste sie beispielsweise nicht so recht, was sie von dem „Regiment“ halten solle. Sie meinte wahrgenommen zu haben, dass es in der Stadt keine Obrigkeit gäbe. Die wenigen Sätze, in denen sich Hilles Leben im täuferischen Münster zu manifestieren scheint, wirken eher skizzenhaft. Offensichtlich hatte sie Probleme mit der Gütergemeinschaft, die eingeführt worden war, um Gleichheit unter den „Brüdern“ und „Schwestern“ herzustellen. Keiner sollte mehr besitzen als ein anderer und doch sollten alle genug haben. Der alte utopische Traum von materieller Gleichheit unter den Menschen schien in Münster Gestalt angenommen zu haben: „Ihr sollt an keinem Dinge Mangel haben, sei es Kost, Kleider, Haus oder Hof. Wessen ihr bedürft, das sollt ihr kriegen, Gott soll euch an keinem Ding Mangel haben lassen“ (van Dülmen 1974: 97). Hille bestätigt, dass alle Dinge gemeinsam seien und „alle gleich edel und reich“ (Löffler 1923: 96). So reizvoll der Gedanke auch war, Hille wusste dennoch nicht so recht, was sie davon halten sollte. War es rechtens, dem anderen alles wegzunehmen, wobei sie vielleicht auch an all jene dachte, die als „Ungläubige“ aus der Stadt vertrieben worden waren und alles hinter sich lassen mussten. Dennoch, wenn es göttlich ist, dann wäre sie bereit zu bleiben und Gutes und Schlechtes zu ertragen. Zusammen mit anderen Frauen und Mädchen hatte Hille an den Wällen gearbeitet, schließlich ging es darum, die Stadt bestens zu befestigen und vor den Belagerern zu schützen. Dem Fürstbischof Franz von Waldeck lag nämlich viel daran, die Täufer zu besiegen. Aber das sollte noch bis zum 24. Juni 1535 dauern, erst an diesem Tag fiel Münster. Dieser Zustand der Belagerung, die sich allmählich intensivierte, dürfte zusammen mit einem gravierenden Ereignis Hille Feickens Judith-Metamorphose ausgelöst haben. Gemeint ist der Tod des Propheten Jan Matthijs. Dieser Mann hatte mit dafür gesorgt, dass die Stadt von allen und allem Gottlosen radikal befreit wurde. Er hatte das kommende Gottesgericht bis spätestens Ostern 1534 erwartet, worauf sich am 5. April 1535 alle Münsteraner Täufer erwartungsfroh auf den Wällen versammelt hatten. Aber nichts geschah. Wider Erwarten griff Gott nicht ein, das Belagerungsheer blieb unangetastet. Als Jan Matthijs in Begleitung einiger Täufer nun einen Ausfall wagte, um Münster mit Gottes Hilfe zu befreien, wurde er von Landsknechten in Stücke gehauen. Das war nicht nur ein grausames Ereignis, sondern auch ein gefährlich destabilisierendes, das an der Gottgefälligkeit des täuferischen Glaubensweges zweifeln ließ. Möglicherweise war dieses Desaster der Ausgangspunkt für Hille Feickens Vorhaben, die Stadt als neue Judith befreien zu wollen.

Hierfür war es zunächst einmal erforderlich, etwas über die biblische Heldin und ihre Tat zu wissen. Da der Stoff im 16. Jahrhundert äußerst populär war, ist davon auszugehen, dass Hille das Buch Judith zumindest in groben Zügen kannte. Zudem erwies es sich als ausgesprochen hilfreich, dass die biblische Gestalt für jede Frau, die selbstbewusst und ohne männliche Einflussnahme handeln wollte, eine ideale Identifikationsfigur darstellte, und das nicht nur im 16. Jahrhundert. Immer wieder haben Frauen sich auf Judith berufen, wenn sie sich durchsetzen und ihr Handeln legitimieren wollten. Schließlich hatte Gott durch Judiths Befreiungstat zu erkennen gegeben, dass eine starke, entschlossene und zugleich demütige Frau wie sie durchaus nach seinem Geschmack war. Was sich in vorchristlicher Zeit in Bethulia abgespielt haben soll, ließ sich mit etwas Phantasie also durchaus auf das belagerte Münster übertragen. So wie einst, als die gottesfürchtige Judith in höchster Not die Initiative ergriff, bedurfte es auch jetzt einer starken, entschlossenen Frau, die das Schicksal des belagerten Münster in die Hand nahm, nachdem Jan Matthijs kläglich gescheitert war. Das biblische Buch wies den Weg. Es zeigte, was zu tun war. Gemeinsam mit ihrer Magd hatte Judith die belagerte Stadt verlassen, sich ins feindliche Lager begeben und bei passender Gelegenheit die befreiende Tat vollbracht, indem sie den gefürchteten Feldhauptmann nach inbrünstigem Gebet in seinem Zelt mit seinem eigenen Schwert enthauptete. Anschließend war sie mit ihrer Magd und dem abgeschlagenen Haupt nach Bethulia zurückgekehrt. Dieser göttlich legitimierte Mord durch Frauenhand brachte die Rettung. Als die Assyrer das aufgespießte Haupt ihres Feldherrn sahen, ergriffen sie die Flucht. Hille muss davon ausgegangen sein, dass sich die biblische Erfolgsgeschichte auch auf Münsteraner Verhältnisse übertragen ließe. Sie selbst fühlte sich berufen, in die Rolle der neuen Judith zu schlüpfen. Einen ausgeklügelten Plan scheint es allerdings nicht gegeben zu haben. Die als schön beschriebene Friesin folgte einer göttlichen Eingebung, die sie eher quälte als beglückte: „sie habe Tag und Nacht keine Rast noch Ruh haben können und sei in ihrem Gemüte so vielfältig beschwert worden, Judiths Werk zu tun, daß sie es zuerst einer Frau aus Holland zu erkennen gegeben, die ihr gesagt, daß sie sich selbst darin prüfe“ (Löffler 1923: 96). Von Hilles Ehemann ist seltsamerweise keine Rede mehr, obwohl er angeblich im Rat gesessen hat, wendet sich Hille nicht an ihn, sondern an einige Münsteraner Führergestalten, darunter Knipperdollinck, der ihr Geld und Wegzehrung gegeben habe. Anders als ihr biblisches Vorbild verlässt Hille die Stadt ohne weibliche Begleitung, wohl aber mit der Absicht zu töten: „sie sei ausgegangen als Judith, den Bischoff von Münster zum Zeichen [lt. Klötzer wohl ein Fehler in der Reinschrift des Bekenntnisses, es müsste heißen: tom tweden = zum zweiten] Holofernus zu machen“ (Löffler 1923: 96 u. Klötzer 2000: 158). Anders als ihr biblisches Vorbild gelangt Hille nicht zum Ziel. Ihr Anschlag misslingt, angeblich war sie verraten worden. Auch die Mordwaffe entsprach nicht der biblischen Vorgabe, denn angeblich hatte Hille versucht, den Fürstbischof mit einem vergifteten Hemd ins Jenseits zu befördern. Dies mag seltsam klingen, wäre aber nicht einmal gänzlich abwegig gewesen, da es durchaus möglich ist, ein Menschenleben mit vergifteten Textilien zu beenden. Jede Judith, die etwas auf sich hält, mordet allerdings in traditioneller Manier mit dem Schwert. So haben Künstler von Lukas Cranach d. Ä. über Caravaggio und Guido Reni bis Franz von Stuck sie immer wieder dargestellt.

Als Hille verhört wurde, war sie eine gescheiterte Attentäterin. Die Gewissheit, die Mission nicht erfolgreich beendet zu haben, ließ Zweifel keimen. Hille wusste letztlich nicht mehr, ob Gott oder der Teufel sie dazu gebracht hatte. Obwohl sie schwankte, hielt sie letztlich doch daran fest, richtig gehandelt zu haben: „hätte sie es nicht getan, sie hätte Gott damit erzürnt“ (Löffler 1923: 97) Anders als die biblische Judith, die für ihre Tat überschwänglich gefeiert wurde, musste Hille Feicken für ihren missglückten Befreiungsversuch mit dem Leben bezahlen. Nicht der Fürstbischof starb, sondern Hille Feicken. Sie wurde enthauptet.

So wie Hille Feicken als zugereiste Fremde die täuferischen Anfänge in Münster nicht miterlebt hatte, sollte ihr auch das Ende erspart bleiben. Sie gehört nicht zu jenen, die die extrem herrschende Not und schließlich den Untergang des Täuferreichs miterlebten. Was hoffnungsfroh begonnen hatte, endete kläglich. Wie sich die Situation gegen Ende gestaltete, lässt sich dem Bericht einer Schuhmacherfrau entnehmen, der in eine Hamburger Chronik eingeflossen ist. Bitterste Not herrschte in der belagerten Stadt. Brot habe es nicht mehr gegeben, zumindest nicht für den „gemeinen Mann“. Nebst gekochtem Leder hätten Hunde und Katzen auf seinem dürftigen Speiseplan gestanden. Die Verwirrung und Enttäuschung darüber, dass alles ganz anders gekommen ist als erwartet, muss groß gewesen sein. Hille Feicken hat dieses an bittere Kriegszeiten erinnernde Elend nicht miterlebt. Sie ließ zu einem Zeitpunkt ihr Leben, als die Situation sich zwar allmählich verschlechterte, aber noch nicht jenes Grauen erreicht hatte, das die letzten Wochen bis zur Eroberung Stadt herrschen sollte.

Reformatorische Impulse

Hille Feicken erinnert mit ihrem entschlossenen Bekenntnis zum Täufertum und ihrer Judith-Metamorphose daran, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen Reformationsgeschichte geschrieben und in mehr oder weniger ausgeprägter Intensität ihre Gegenwart mitgestaltet haben, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal war es bedeutsam, dass Frauen über das paulinische Schweigegebot hinweg ihren Glaubensweg wählten und verfolgten oder im Falle altgläubiger Gesinnung an ihrem bisherigen Weg festhielten. Dass Frauen sich eigenmächtig für die eine oder andere Richtung entschlossen, dafür gibt es zwar illustre Beispiele wie Katharina von Bora oder Caritas Pirckheimer, die jedoch oft den Blick auf weniger bekannte Frauen verstellen. Hille Feicken ist ursprünglich eine Frauengestalt jener eher profillosen „Masse“ weiblicher Individuen, die kaum Spuren in den Quellen hinterlassen haben, obwohl sie religiöse Bewegungen jedweder Ausrichtung gleich den Männern durch ihre bloße Anhängerschaft mit Leben füllten und zu dem machten, was sie waren. Wäre Hille Feicken nicht in die Rolle der Judith geschlüpft, wäre sie vermutlich namenlos im Dunkel der Geschichte untergegangen. Gelegentlich sollte stärker daran gedacht werden, dass die Reformation auch von Frauen wie dieser Münsteraner Täuferin gestaltet und getragen wurde. Unter ihnen viele weibliche Individuen, die sich nicht unbedingt über eine enge Affinität zu einem Mann definierten, sondern ohne Rücksicht auf Verluste ihren eigenen Weg gingen, der sie notfalls bis in den Tod führte. Die vermeintlich von Gott empfangene Eingebung, als neue Judith zu agieren, zeigt darüber hinaus, dass Frauen freier agieren konnten, wenn Gott oder der heilige Geist sie leiteten und ihnen über irdische Barrieren in Gestalt machtvoller Männer hinweghalfen. Hille Feicken war keine Frau, die von Männern geschickt worden war oder sich von ihnen aufhalten ließ. Einzig und allein fühlte sie sich vom göttlichen Willen inspiriert und geleitet.

Kommentar

Hille Feicken ist eine faszinierende Gestalt, daran ändert auch die spärliche Quellenlage nichts. Frauen nur deshalb zu übergehen oder weniger wertschätzen zu wollen, weil ihre Konturen lediglich blass sind, erscheint angesichts ihres Engagements unangemessen. In ihr jedoch möglicherweise sogar „Die Täuferin“ sehen zu wollen und ihr unter den „Frauen der Reformatoren“ einen Platz zuzuweisen, führt ebenfalls auf Abwege (Ellerich 2012: 36f.). Hille Feicken ist eine täuferische Gestalt unter vielen anderen, wobei die wenigsten unmittelbaren göttlichen Eingebungen folgten. Ihre Inspiration passt in das spirituelle Milieu des melchioritischen Täufertums, das auch Prophetinnen wie Ursula Jost und Barbara Rebstock hervorbrachte. Dadurch, dass sie sich gerade für Judith als Identifikationsfigur entschied, gehört Hille Feicken zur Garde all jener Frauen, die mit Judith identifiziert wurden oder die biblische Heldin bewusst zu ihrem Leitbild erkoren oder sich eng an ihr zu orientieren wagten. Hierzu gehören Künstlerinnen, wie die italienische Malerin Artemisia Gentileschi (1593-1656) oder auch die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 1992 Rigoberta Menchú, die Judith für ihr eigenes Befreiungswerk als Orientierungshilfe und Gewährsfrau in Anspruch nahm. Seite an Seite kämpfte sie mit ihr gegen „Ausbeutung und Entrechtung der guatemaltekischen Indianer durch skrupellose Großgrundbesitzer und eine nicht minder korrupte Regierung“ (Kobelt-Groch 2005: 64). Aber es ist vielleicht nicht einmal erforderlich, sich von Hille Feicken über mehrere Jahrhunderte zu entfernen. In diesem Zusammenhang sei an ein Judith-Gemälde erinnert, das möglicherweise Margarete von Rochefort, Comtesse de Hornes, als biblische Heldin zeigt, worauf u. a. auch der hornförmige Anhänger der Heldin möglicherweise hindeutet. „Könnte es sich gar um ein so genanntes Rollenporträt handeln?“ (Pult 2014: 79) Wenn ja, dann interessiert auch die Frage, um wessen Kopf es sich bei dem Opfer handelt. Die kunsttechnologischen Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.