Ilse Ultsch

„Vikarin“, eine lehrende Frau, aber Theologie muss es sein
Frau „Vikarin“ Susanne Käser
Lebensdaten
von 1906 - bis 2013
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Copyright privat
Beziehungen

Geboren 14.5.1906 in Memmingen als erste von drei Kindern (Ilse, Erika und Fritz). Der Vater Franz Ultsch war Jurist (Staatsanwalt) am Oberlandesgericht in München. Im Jahr 1913 zog die Familie nach München-Gräfelfing. Dort besuchte Ilse Ultsch das Mädchengymnasium Luisenschule in München und machte 1925 mit 23 anderen jungen Frauen Abitur.

Ilse Ultschs Beziehung zu ihrem Vater war intensiver als die zu ihrer Mutter. Der Vater erzog die beiden Mädchen und den Jungen gleichwertig. Er nahm alle drei mit zu Bergtouren und erwartete von allen das gleiche Durchhaltevermögen. Ilse Ultsch liebte die Berge ihr Leben lang. Auch den Sinn für Gerechtigkeit und Verantwortung verdankte sie ihrem Vater. In den schlechten Zeiten erhielt jedes der Kinder am Anfang der Woche von den Eltern einen Laib Brot und musste damit in eigener Verantwortung die Woche über auskommen. Ihre Mutter beschrieb Ilse Ultsch als eine tatkräftige Frau, die sich viele hauswirtschaftliche Tätigkeiten aneignete, um die Familie in den Krisenzeiten zu versorgen. Bruder Fritz stürzte im Herbst 1940 mit einem Flugzeug über England ab. Ihr Elternhaus war nicht besonders kirchlich geprägt. Der Vater wurde von der katholischen Kirche exkommuniziert, weil er seine Kinder evangelisch taufen ließ. Die Mutter war evangelisch-lutherisch, doch liberal eingestellt.

In den 1920er Jahren erlebte Ilse Ultsch ihre „Revolution und Emanzipationsphase“ in einer Gruppe des „Wandervogel“. „Da waren wir Mädchen nicht Gäste in einer Männerwelt, sondern Partnerinnen der Buben ohne festgelegte Rollen“. Die Eltern tolerierten diese neue Lebensform, obwohl sie die Loslösung vom bürgerlichen Milieu bedeutete. „Wir fühlten uns als Vortrupp einer Zukunft, in der viele lebten nach eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit“, schrieb Ilse Ultsch (in: Mitteilungen der EKiBa 1990 Heft 7/8, Frauen in kirchlichen Ämtern, Ilse Ultsch Jahrgang 1906 – Lebenslauf einer Theologin, S. 28-30).

Ilse Ultsch hat nicht geheiratet und dies „als den für sie gesetzten Weg angenommen“. Sie habe immer Wichtigeres zu tun gehabt, ein Seminar besuchen, eigene theologische Arbeit, als sich mit einem Freund zu treffen. So wird sie im Südkurier von Gaienhofen zitiert.

Es gibt einen größtenteils handschriftlichen, vermutlich nicht vollständigen Briefwechsel von 1933 bis 1983 mit dem Theologen Helmut Gollwitzer (1908-1993). Ihre Briefe erzählen Persönliches und Berufliches. Helmut Gollwitzer schickte ihr manche seiner Predigten. Sie erwähnt, dass sie seine Bücher gelesen habe und manches davon in ihren Andachten oder Bibelarbeiten aufgenommen habe. Gefühle füreinander sind nur zwischen den Zeilen zu erahnen. In den ersten Briefen geht es um einen „unverdaulichen Brocken“, den sie als Geheimnisverrat bezeichnet. Es wird nicht ganz deutlich, worum es ging, doch sie äußert Schuldgefühle dem Briefpartner gegenüber. Später spricht eine große Vertrautheit aus ihren Briefen: „Dir gegenüber geht es mir ganz anders als z.B. bei Hans Kraus. Dem schrieb ich ausführliche Briefe und verhältnismäßig oft. Mit Dir bin ich verbunden ohne das, so daß es sich scheinbar ganz erübrigt zu schreiben. Ich bin trotzdem in manchen Gesprächen mit Dir begriffen, jetzt nach den Berliner Abenden, die im Rückblick – so schön und so ausführlich sie waren – doch wieder viel zu kurz scheinen“ (6.7.1937).

In diesem Briefwechsel macht sie sich auch Gedanken um ihre ungewisse berufliche Zukunft. Sie dachte über die Lebensform einer Diakonisse nach, fand jedoch schnell heraus, dass es ihr „wahnsinnig schwer fiele“, sich einer Gemeinschaft anzuschließen, in der das Dienen und Dürfen so groß geschrieben war, so dass das eigene Wollen gar keinen Platz mehr hatte.

Ilse Ultschs entscheidender Wegbereiter zur Theologie war ihr Religionslehrer am Münchener Gymnasium, Georg Merz, später ein bekannter Theologe, Gründer und erster Rektor der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Er vermittelte ihr ein christliches Menschenbild, das sie beeindruckte. Intensiv beschäftigte sie der Gegensatz zur Ideologie der Jugendbewegung der 20er Jahre: hier der Mensch, der aus eigener Kraft sein Leben und die Welt gestaltet; dort das voraussetzungslose Angenommen-Sein. Ihr Vater hatte erfahren, dass es in der Schweiz Pfarrerinnen gab und unterstützte sie in ihrem Berufswunsch.

Frauen waren an den theologischen Fakultäten in der Minderheit, doch Ilse Ultsch erlebte dort keine Diskriminierungen. Im vierten Semester entschied sie sich für Katechetik bei dem praktischen Theologen Fezer, Ephorus im Tübinger Stift, und entdeckte ihre Fähigkeiten als Religionslehrerin, denn „ich wollte wissen, worauf das (= die Theologie; Anm. Susanne Käser) hinausläuft“, begründete sie ihren Entschluss.

In Münster wurde für sie Karl Barth’s Theologie, das Verständnis von Gott als dem ganz Anderen, dem Parteiischen für die Schwachen, zum Schlüsselerlebnis. Diese „[…] theologische Erkenntnis kam als Entdeckung und brachte mir das Gefühl einer elementaren Befreiung. Frei wurde ich dazu, mich selbst realistisch, das heißt kritisch zu sehen. Schuld und Mängel mussten nicht verdrängt werden. […] Daß Gott der Kritiker auch seiner Kirche ist, diese Vorstellung hat mir später sehr geholfen. Kritik (biblischer Ruf zur Umkehr) ist ja ein Zeichen der Zuwendung“, schreibt Ilse Ultsch (in Mitteilungen der EKiBa 1990 Heft 7/8, wie oben, S. 28-30).

Die Beziehung zu ihrer Kirche, der Evang. Lutherischen Kirche in Bayern, blieb problematisch, denn diese ordinierte Frauen nicht und wusste nichts mit ihnen anzufangen.

Ein spritzig-ironisches Gedicht, nach dem 1. Examen 1929, verfasst von Pfarrer Friedrich Loy, beschreibt diese Situation:

„… Blickt das Kirchenregiment auf das Weiberelement,

das jetzt auch bei uns in Bayern

will die Kirche mit erneuern…

Solche Pfarrersweiblichkeiten

muss man unbedingt vermeiden,

… für die wir trotz der besten Gaben

keinerlei Verwendung haben.

Drum, so schickt uns bald, wir warten,

Euere Verlobungskarten,

drauf die Namen prangen fein:

Dorn, Rösch, Ultsch und Hassenstein“.

Die vier Frauen wurden tatsächlich vom Oberkirchenrat aufgefordert, sich zu verloben. In ihrem Ruhestand konnte Ilse Ultsch diese Zeilen mit feinem Humor zitieren.

Nach dem 1. Theologischen Examen folgte die dreijährige Kandidatenzeit. Durch eine Anstellung bei einer „Stiftung für evangelische Mädchenarbeit“ und 13 Wochenstunden Religionsunterricht in München war sie finanziell unabhängig. Hier traf sie Pfarrer Merz wieder als Mentor, der sie zur Vorbereitung auf das 2. Examen zur monatlichen Kandidatenkonferenz einlud. Doch vom Landeskirchenrat wurde sie sofort ausgeladen, weil Frauen nicht erwünscht waren. Sie sprach deshalb beim zuständigen Oberkirchenrat vor und erinnerte ihn daran, dass die Landeskirche ihr den Religionsunterricht an der Volksschule aufgetragen hatte und deshalb an ihrer beruflichen Weiterbildung interessiert sein müsse. Daraufhin durfte sie teilnehmen.

In dieser Zeit besuchte sie zum ersten Mal ein Seminar des Burckhardthauses in Berlin-Dahlem. Sie war begeistert von der Arbeit dort und hielt den Kontakt aufrecht. 

Wirkungsbereich

Nach dem 2. Theologischen Examen waren die beruflichen Aussichten für Frauen in der ELKB schlecht. Ilse Ultsch begann deshalb in München ein Zweitstudium in Geographie und Geschichte für das Höhere Lehramt. Nach drei Semestern musste sie abbrechen, weil ihr Vater 1935 starb und somit keine finanzielle Unterstützung mehr möglich war.

Dieses Studium hatte sie angefangen „mangels besserer Ideen“, aber sie hatte „keine Lust Menschen irgendwelche Allgemeinbildung beizubringen, wenn nicht dieses Eigentliche dahinterliegt“. Sie möchte Theologie lehren, es kam ihr auf die Vermittlung biblischer Inhalte an, wobei ihr die Bibelarbeit und das Gespräch lieber waren als die Predigt.

1935 – 1939 arbeitete sie in der Deutschen Gemeinde in London-West mit deutschen und österreichischen Hausangestellten. Andachten, Bibelarbeiten, Kindergottesdienst gehörten zu ihren Hauptaufgaben. Sie nannte es ihre Berufung, wieder theologisch arbeiten zu können. Hier gab es schon Kontakte zur Young Women’s Christian Assoziation (YWCA), die mit dem Burckhardthaus verbunden war.

In England begegnete Ilse Ultsch jüdischen Familien im Exil, sie hörte Dietrich Bonhoeffer predigen und in englischen Kirchen wurde für Pastor Niemöller gebetet. Über den Kirchenkampf in Deutschland war sie gut informiert.

Als sie an Ostern 1939 nach Deutschland zurückkam, wurde sie kurz vor Kriegsausbruch zur Mitarbeit im Evang. Mädchenwerk (landeskirchliche Organisation, in Verbindung zum Burckhardthaus) in Königsberg berufen. Dort konnte, nach eigener Aussage, 1939 noch ziemlich ungestört gearbeitet werden. Zwei weitere Vikarinnen gehörten dort zur Bekennenden Kirche (BK). Um der drohenden Einziehung zur Rüstungsindustrie zu entgehen, übernahm Ilse Ultsch zusätzlich zwei Jahre lang die vakante Stelle eines vermissten Pfarrers. Sie erlebte die Kirchenkampfsituation in den gespaltenen Gemeinden. In dieser Notsituation erhielt Ilse Ultsch, wie viele Theologinnen, ganz formlos die Erlaubnis zu predigen und die Sakramente (Taufe und Abendmahl) zu spenden, ohne zur Pfarrerin ordiniert zu sein. Allerdings durften die Vikarinnen keinen Talar tragen. Während der kalten Winter froren die jungen Frauen entsetzlich in ihren Kostümen in den ungeheizten Kirchen. Der Antrag, einen Talar tragen zu dürfen wurde, positiv beantwortet, allerdings ohne Beffchen. Dazu Ilse Ultsch an ihrem 90. Geburtstag: „An diesem Stück Stoff hing offenbar die Würde des Amtes. Fragen Sie mich nicht warum.“

Am 9. Februar 1945 konnten sie, die Pfarrfrau aus Zimmerbude mit ihren drei Kindern und eine Haushaltshilfe durch die Vermittlung eines alten Bekannten (ehemaliger Wandervogel, jetzt in der Marineverwaltung) auf einem kleinen Motorsegler Platz finden. Es war die letzte Gelegenheit zur Flucht nach Westen. Immer wieder stellte sie sich später die Frage, ob sie die Gemeinden dort in dieser katastrophalen Situation im Stich gelassen habe.

Nach der Flucht nahm sie Kontakt auf zu Pastor Volkmar Herntrich, Hauptpastor in Hamburg und gleichzeitig Direktor des Burckhardthauses. Anstatt ein Pfarramt übernehmen zu können, wurde sie für die seelsorgerische Betreuung der Flüchtlinge in den großen Lagern der Lübecker Bucht eingesetzt.

Nach dem Krieg wurden die Pfarrstellen wieder mit Männern besetzt, und Ilse Ultsch erlebte schmerzlich, dass ihr die Erlaubnis zu Predigt und Sakramentsverwaltung wieder entzogen wurde. Sie durfte zwar Andachten halten, aber keine Gottesdienste mit Liturgie. Nach eigener Aussage hat sie diese Anweisung manchmal übertreten.

Ilse Ultsch ist ihr Leben lang „Vikarin“ geblieben. Ein späterer Antrag auf den Titel „Pfarrerin“ wurde von der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck, zu der das Burckhardthaus in Gelnhausen gehörte, abgelehnt. Die Begründung hieß, sie habe keine Gemeinde. Die Begleitung der Studierenden im Burckhardthaus-Seminar wurde nicht als „Gemeinde“ verstanden. Ilse Ultsch hat ihr Leben lang unter dieser Degradierung gelitten.

Schon im Juli 1945 wurde das Seminar des Burckhardthauses in Berlin-Dahlem wieder eröffnet. Auf dessen Geschichte kann hier nicht eingegangen werden. Bei der Gründung einer Filiale im Westen als „Seminar für kirchlichen Frauendienst“ wurde Ilse Ultsch zur Direktorin in Hanerau-Hademarschen berufen. Ihr Titel war „Fräulein Vikarin“, angeredet wurde sie mit „Fräulein Ultsch“. Sie meisterte die Aufbauarbeit unter schwierigsten Bedingungen. Zunächst unterrichtete sie die ersten 35 „Bibelschülerinnen“ selbst bis Barbara Thiele, H. Germer und Lic. Anna Paulsen als Gastdozentin dazu kamen.

Als nach einem Jahr der nächste Kurs begann, musste für 70 Personen die Verpflegung sichergestellt werden. Untergebracht waren die Kursteilnehmerinnen in einfachen 12er-Zimmern mit Stockbetten. Durch die Erfahrungen der Kriegszeit, das enge Zusammenleben und -arbeiten entwickelte sich unter den Schülerinnen über Jahrzehnte ein intensiver Zusammenhalt und ein enger Kontakt zu Ilse Ultsch.

Vom YWCA wurde das Seminar ideell und materiell unterstützt und Ilse Ultsch wurde zu einer 3-monatigen Weiterbildung in die USA eingeladen. Sie nahm dort an der 1. YWCA Studienkonferenz für „Women and World reconstruction“ an der Columbia Universität teil und referierte in Bedford/Massachusetts über die Bekennende Kirche in Deutschland.

1951 eröffnete das „Burckhardthaus-West“ die Zentrale für den Verband „Evangelische weibliche Jugend Deutschlands – Burckhardthaus e.V.“ in Gelnhausen/Hessen. Nach dem Umzug aus Hanerau begann hier am 1.1.1952 für Ilse Ultsch eine neue Phase als selbstständige Seminarleiterin. Zudem war sie in die Verbandsarbeit bei Seminaren für Jungscharleiterinnen und katechetische Fortbildungen für Vikare und Pfarrer involviert.

Im Gemeindehelferinnen-Seminar unterrichtete Ilse Ultsch die Fächer Neues Testament, Katechetik und Kirchengeschichte. „Frauen als mündige Auslegerinnen der Bibel auszubilden“ war ihr Ziel. Im Fach Neues Testament vermittelte sie aktuelle theologische Strömungen (Mitte der 1960er Jahre: Gert Otto, Rudolf Bultmann u.a.) und forderte die Studierenden zu kontroversen Diskussionen heraus.

Sie lehrte die ganz unterschiedlich vorgebildeten Studierenden wie biblische Texte „auf eine systematische Weise erschlossen werden und dabei offen bleiben für die Erkenntnis des eigenen Glaubens“ und entwickelte eine eigene Methode, den „Exegese-Rahmen“, auf der Basis der historisch-kritischen theologischen Forschung.

Der Lehrplan sah zehn Katechesen im Laufe der Ausbildung vor, ein Plus in praktischer Erfahrung gegenüber dem Theologiestudium. In Erwartung ihrer strengen Kritik verursachten die Vor- und Nachbesprechungen der Katechesen bei den Studierenden so manches Herzklopfen.

Sie legte Wert darauf, dass die Ausbildung durch Kenntnisse in Soziologie/Politik und Psychologie/Pädagogik ergänzt und die soziale Seite der Ausbildung erweitert wurde durch Praktika im Warenhaus oder in der Industrie. Eine Begegnung mit dem Schwester-Seminar in Berlin-Ost gehörte für jeden Studierendenjahrgang zum festen Programm.

Ilse Ultsch suchte nach einem zukunftsfähigen Berufsbild der Gemeindehelferin. Die 1954 von der EKD erlassene „Ordnung des Amtes der Gemeindehelferinnen“ fand sie unpräzise, denn „In allen Ordnungen für dieses Amt wird immer von Mithilfe geredet. Dahinter steht die Sorge um zu viel Selbständigkeit der Frau in der Arbeit der Kirche […]. Wer immer als Hilfsarbeiter angesehen wird, wird versuchen, in eine andere Arbeit zu gehen“ (Protokoll der Konferenz der ‚Arbeitsgemeinschaft von Seminaren für Gemeindedienst‘ in Hamburg 1951). Obwohl die Gemeindehelferinnenausbildung auf dem Niveau der höheren Fachschule lag, wurde die staatliche Anerkennung verweigert. Als von staatlicher Seite anstelle der höheren Fachschulen nun Fachhochschulen eingerichtet wurden, verschärfte sich die Problematik für das Burckhardthaus-Seminar. Wegen des ungenauen Dienstauftrages und der nicht vorhandenen Zukunftschancen hatte sich die Zahl der Studierenden ab 1964 ständig verringert. Immer wieder äußerte Ilse Ultsch, sie fühle sich schuldig, weil der Beruf der Gemeindehelferin nicht so zielführend war, wie sie das gewünscht hätte.

Mit diesem Fragenkomplex setzte sich Ilse Ultsch im Seminarteam lange und intensiv auseinander und musste schließlich die Entscheidung treffen, die Grundausbildung zur Gemeindehelferin zu beenden und stattdessen Weiterbildung für verschiedene soziale und kirchliche Berufe anzubieten. Damals fragte Ilse Ultsch: „Ob noch einmal die Zeit kommen wird, in der Menschen in der Sozialarbeit Ausschau halten nach einer Fundierung im Glauben?“

Die Schließung des Burckhardthaus-Seminars fiel 1971 mit dem Eintritt in den Ruhestand von Ilse Ultsch zusammen.

Ihren Ruhestand gestaltete Ilse Ultsch noch 20 Jahre lang sehr aktiv, trotz mancher körperlicher Einschränkungen. Sie zog zu Schwester und Schwager nach Wangen/Bodensee. In einem Brief (11.11.1978) schrieb sie, sie habe sich „zum Naturschützer entwickelt“ und sie finde hier viele Elemente wieder, die sie an ihre Wandervogel-Zeit erinnerten. Ihre Erkenntnisse gab sie im Frauenkreis und im Hauskreis weiter z.B. mit Referaten wie „Justus Liebig und die Chemie in der Landwirtschaft“. Konsequent setzte sie ihre Einsichten um und erledigte ihren intensiven Briefwechsel mit einer mechanischen Schreibmaschine meist auf leeren Rückseiten von Informationsbriefen der Umweltorganisationen, um Regenwälder zu retten. Erst als sie fast erblindet war diktierte sie ihre Briefe. Wichtig war ihr auch, ihr Geld noch ihren Lebzeiten möglichst gerecht zu verteilen.

Ihr kirchliches Engagement war vielseitig. Während einer halbjährigen Pfarrvakanz in ihrer Kirchengemeinde wurde sie oft gebeten zu predigen. Auch der neue Pfarrer ließ sich ab und zu von ihr vertreten. Ihr Hinweis, sie sei nicht ordiniert, ließ der Kollege nicht gelten. Jetzt endlich, im Ruhestand wurde sie auch mit dem Titel „Pfarrerin“ angeredet.

Ab 1980 führte sie zusammen mit einer Mitarbeiterin der Ev. Frauenarbeit der Badischen Landeskirche jedes Jahr Frauenfreizeiten u.a. in Adelboden/Schweiz und von 1988-2000 die Baden-Badener-Bibeltage durch. In Adelboden, wie auch in Leukerbad bei privaten Aufenthalten, gefiel es ihr besonders, denn sie sei „süchtig nach Bergen“, sagte sie selbst. Als sie in den Bergen kaum noch wandern konnte, war sie froh, davon umgeben zu sein.

Die Feministische Theologie lernte sie durch die Frauenarbeit in der EKiBa kennen. „Ich habe Respekt vor dem Leiden vieler Frauen. Durch die neue Fragestellung gewinnt meine Exegese an Schärfe der Beobachtung und Aktualität“, äußerte sie dazu an ihrem 90. Geburtstag und sie sei mit den Feministinnen der Meinung, dass in unserer patriarchalen Gesellschaft das weibliche Element nötig sei.

Beiden Jahrestreffenverschiedener Examensjahrgänge des Burckhardthauses entsprach es nicht ihrer Art, nur als Gast dabei zu sein. Sie hielt Bibelarbeiten, die sie wie immer mit aktuellen gesellschafts-politischen Situationen und persönlichem Glauben verband.

Mit 80 Jahren zog sie sich aus dem aktiven Ruhestand zurück. Ilse Ultsch starb am 3. April 2013 in Gaienhofen und wurde in einem anonymen Grab beerdigt. 

Reformatorische Impulse

Ilse Ultsch gehört zu der Theologinnen-Generation, die während des 2. Weltkrieges kirchliches Gemeindeleben aufrechterhalten haben.

Sie leitete das Gemeindehelferinnen-Seminar des Burckhardthauses e.V. in Hanerau und Gelnhausen. Ihr Ziel war es, Frauen zu mündigen Auslegerinnen der Bibel auszubilden. Dazu entwickelte sie als eigene Methode den Exegeserahmen. Außerdem arbeitete sie dafür den Beruf der Gemeindehelferin als zukunftsfähigen Beruf in der Kirche zu etablieren.

Im Ruhestand wandte sie sich noch einmal ganz neuen Herausforderungen zu, die sie so zusammenfasste: sie sei zur Ökologie gekommen und habe zudem von der Katechetik zur Homiletik gewechselt.

 

Kommentar

Ilse Ultsch forderte als Dozentin exaktes theologisches Denken und Arbeiten ein. Eine fundierte Exegese war für sie der Schlüssel zum Verständnis biblischer Texte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Sie lehrte ihre Schülerinnen theologisch selbständig zu arbeiten.

Ihre strenge Selbstdisziplin und auch die früh einsetzende Schwerhörigkeit trugen dazu bei, dass immer eine gewisse Distanz zu ihr blieb.

Theologie und Glaube, Gerechtigkeit und politisches Denken gehörten für sie zusammen. Ihre Erkenntnisse setzte sie konsequent um in ihrem persönlichen Lebensstil, sie lebte und lehrte eine „geerdete“ Theologie. Ausspruch an ihrem 100. Geburtstag: „Ich habe häufiger mit meinem nahen Ende gerechnet und ER beschämt mich mit einem so langen Leben.“