Johanna Eleonora Petersen

„Da that GOtt meinen Mund auf“
„Da that GOtt meinen Mund auf“ Ruth Albrecht
Lebensdaten
von 1644 - bis 1724
Unter weiteren Namen bekannt als:
Johanna Eleonora von Merlau
Petersen-website.jpg
Copyright Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Beziehungen

Geboren wurde Johanna Eleonora von Merlau am 25. April 1644 – kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg – in Frankfurt am Main. In ihrer Kindheit waren die Auswirkungen dieser zerstörerischen Phase der europäischen Geschichte noch zu spüren: In der Nähe Frankfurts tauchten Gruppen von Soldaten auf, vor denen Frauen und Kinder fliehen mussten – so auch ihre Mutter mit drei kleinen Töchtern. Die Familie von und zu Merlau gehörte mit anderen Geschlechtern des niederen Adels zu den Verlierern der Epoche des Absolutismus. Der Vater Johanna Eleonoras musste sich als Hofmeister bei Grafen in Hessen verdingen. Die Töchter wurden zu Hause von der Mutter unterrichtet, mussten aber relativ früh zum Lebensunterhalt beitragen. Johanna Eleonora von Merlau wurde Hofjungfer an Grafen- und Herzogshöfen. Vierzehn Jahre lang diente sie der Herzogsfamilie von Schleswig-Holstein-Sonderburg, die sich 1664 auf der Wiesenburg bei Zwickau niederließ. Hier lernte sie eine intensive Frömmigkeitspraxis auf lutherischer Grundlage kennen; wie und wann genau sie mit den frühen pietistischen Bestrebungen und deren Vertretern in Kontakt kam, lässt sich nicht ganz sicher rekonstruieren. 1675 zog sie nach Frankfurt am Main, in das Zentrum des frühen Pietismus. Mit dessen wichtigsten Vertretern, dem Theologen Philipp Jakob Spener und dem Juristen Johann Jakob Schütz, hatte sie vor ihrer Umsiedelung einen intensiven Briefwechsel geführt. Von Merlau stand bald im Mittelpunkt einer pietistischen Gruppe, die sich mit der Mystik beschäftigte, Korrespondenzen mit führenden europäischen Reformern pflegte – u.a. mit Anna Maria van Schurmann  – und sich zunehmend von der lutherischen Kirche entfernte. Zu den auswärtigen Gästen dieser Gruppierung gehörte William Penn, der Mitbegründer der Quäker.

1680 heiratete von Merlau den um einige Jahre jüngeren lutherischen Theologen Johann Wilhelm Petersen (1649-1727), der sich bereits als streitbarer Parteigänger des Pietismus einen Namen gemacht hatte. Das Ehepaar lebte zunächst in Eutin, von 1688 bis 1692 in Lüneburg und seit 1693 auf einem eigenen Gut in der Nähe von Magdeburg. Das Ehepaar konnte einen Sohn großziehen, der allerdings keine pietistischen Neigungen zeigte. Während beide Ehepartner in der Eutiner Zeit kaum Spuren im pietistischen Netzwerk hinterließen, radikalisierten sich beide gegen Ende der 1680er Jahre. Dies schlägt sich sowohl in ihren Veröffentlichungen als auch in ihren Kontakten nieder. Beide Petersens beschäftigten sich mit der Frage nach weiteren Offenbarungen, mit der Auslegung der Johannes-Apokalypse und insbesondere mit der Erwartung des bevorstehenden Tausendjährigen Reiches, dem Chiliasmus. J. E. Petersen widmete ihre Anleitung von 1696 diesem Thema. Nachdem J. W. Petersen 1692 u.a. wegen dieser theologischen Zuspitzung sein kirchliches Amt verloren hatte, weiteten er und seine Ehefrau ihre Themen in Richtung Apokatastasis aus. Sie traten für die nicht nur von strengen Lutheranern, sondern auch von der Mehrheit der Pietisten abgelehnte Lehre einer Erlösung aller Geschöpfe ein, die auch den Teufel einbezog. J. E. Petersen trug diese Überzeugung in dem zunächst anonym veröffentlichten Traktat Das Ewige Evangelium vor. Mit diesen Positionen isolierten sie sich von den gemäßigten Pietisten wie Spener oder August Hermann Francke, sie fanden jedoch in ganz Deutschland, Holland und England Anhänger und Anhängerinnen, zu denen zeitweise der in Amsterdam lebende Sophia-Mystiker Johann Georg Gichtel sowie die englische Visionärin Jane Leade gehörten.

Bis etwa 1700 spielte das Ehepaar Petersen eine wichtige Rolle im pietistischen Netzwerk, ihr Gut Niederndodeleben bildete eine Anlaufstelle für zahlreiche Männer und Frauen, die sich manchmal monatelang dort aufhielten. Die Auswertung der Korrespondenzen beider Petersens dürfte noch weiteres Licht vor allem auf die letzten zwei Lebensjahrzehnte werfen. Johanna Eleonora Petersen verstarb am 19. März 1724, ihr Grab ist nicht erhalten.

Wirkungsbereich

Person und Werk Petersens sind nur zu verstehen, wenn der Kontext der pietistischen Bewegung berücksichtigt wird. Sowohl ihr Lebenslauf als auch ihr schriftstellerisches Werk reflektieren spezifische Elemente dieser Reformbewegung. Von etwa 1670 bis 1730 spielte der Pietismus in den deutschen Kirchen eine wichtige Rolle. Die Bibel rückte in das Zentrum der Frömmigkeitspraxis, die Betonung des Priestertums aller Gläubigen gab männlichen und weiblichen Laien großen Aktionsspielraum. Die eigenen Glaubenserfahrungen wurden in Briefen, Tagebüchern und autobiografischen Texten festgehalten. Die ordinierten Amtsträger, die Sakramente und die öffentlichen Gottesdienste verloren an Bedeutung. Auf der Grundlage der reformatorischen Theologie entwickelten sich individuelle Glaubensüberzeugungen und -praktiken, die teilweise in die Aufklärung einmündeten. J. E. Petersen gehört mit anderen pietistischen Frauen und Männern zu denjenigen, die eine Pluralisierung des theologischen Denkens und Handelns bewirkten. Der Frühaufklärer Christian Thomasius begrüßte z.B. die erste Veröffentlichung Petersens nachdrücklich: das unter dem Titel Gespräche des Hertzens mit Gott 1689 gedruckte Werk. Zwanzig Bücher unterschiedlichen Umfangs umfassen das Opus dieser Pietistin, dazu kommen Briefe, die nur teilweise veröffentlicht und erfasst sind. Darüber hinaus wirkte Petersen als Mentorin, Mäzenin und Seelsorgerin im pietistischen Umfeld.

Reformatorische Impulse

Die weiteste Verbreitung erfuhr Petersens Autobiografie. Eine deutsche und eine englische Neuausgabe unterstreichen das Interesse, das dieser Text bis in die Gegenwart hervorruft. Vom Pietismus gingen entscheidende Impulse zur Entstehung autobiografischen Schreibens aus, die bis in die Goethe-Zeit hineinreichen. Das oben zitierte Motto für die Biografie Petersens stammt aus ihrer Autobiografie (vgl. Petersen 2003: 28). Diese Aufzeichnungen, deren erster Teil bereits 1689 veröffentlicht wurde, stehen am Anfang eines umfangreichen Schrifttums männlicher und weiblicher Autoren. Die ersten Werke Petersens reflektieren die aus ihrer Frankfurter Zeit bekannte Beschäftigung mit der Mystik-Tradition, die sie mit Elementen der pietistischen Eschatologie verband. Den größten Umfang in ihrem schriftstellerischen Werk nimmt die Auslegung biblischer Texte ein, sie kommentierte einzelne Bibelverse sowie ganze biblische Bücher. Vor allem mit der Interpretation der Johannes-Apokalypse beschäftigte sie sich lebenslang. Mithilfe einer Auslegung, die von heute aus nur schwer nachvollziehbar ist, deutete sie die apokalyptischen Szenarien als Aussagen über die unmittelbar bevorstehende Zukunft. Petersen berichtet zwar von eigenen Visionen, verstand diese aber lediglich als Hinführung zur Beschäftigung mit dem Text der Bibel und nicht als Offenbarungsmedium. Allem Anschein nach beherrschte sie Griechisch und Hebräisch, aber kein Latein. Anders als ihr Ehemann orientierte sie sich nicht an Gepflogenheiten der gelehrten Textproduktion, sie nennt kaum andere Autoren und Werke, mit denen sie sich auseinandersetzte. Zu vermuten ist jedoch, dass die umfangreiche Bibliothek J.W. Petersens auch von ihr benutzt wurde. Der Gestus der einfachen Bibellektüre passt zum pietistischen Verständnis, dass die Bibel im Mittelpunkt aller Theologie stehen sollte. Das schriftstellerische Opus Petersens konterkariert jedoch zugleich diesen Anspruch, sie war eine überdurchschnittlich gebildete Frau der Frühen Neuzeit.

Petersen setzte sich nicht für die Aufwertung aller Frauen ein, sondern dafür, dass Gott jederzeit Menschen – gleich welchen Geschlechts oder Standes – beruft, um seine Botschaft zu verkündigen. Durch diese unmittelbare göttliche Berufung wurden aus ihrer Sicht Unterschiede zwischen Akademikern und Laien, Männern und Frauen hinfällig. Obwohl sich diese Pietistin nicht für allgemeine soziale oder gesellschaftliche Fragen interessierte, trug ihr Anspruch, die Bibel auszulegen und darüber auch öffentlich zu sprechen und zu schreiben, langfristig zu Veränderungen des Geschlechterverhältnisses bei. In einem ihrer Werke formulierte sie selbstbewusst: „Ettliche werden mir die Worte Pauli 1 Corinth. 14/v.34 und 1 Timoth. 2/v.12./ vorwerffen/ daß einem Weibe unter der Gemeine GOttes zu lehren nicht gezieme. Aber diese sollen wissen/ daß mich dieselben Worte nicht treffen. Ich respectire was der H. Geist durch Paulum gezeuget hat/ und maße mich gegen die geziemende weibliche Unterthänigkeit keines Lehrens unter der Gemeinde GOttes an: Dieses aber weiß ich wohl/ daß/ gleichwie in Christo JEsu nach Austheilung der Gnade und des Geistes weder Mann noch Weib etwas gilt/ Galat. 3/v.28/ als auch die Gnade und Gabe GOttes in einer Weibes=Person nicht zu dämpffen und zu unterdrücken sey“ (Petersen 1696: b4v).

Als weiterer Aspekt, von dem Impulse ausgingen, kann das gemeinsame Wirken des Ehepaares Petersen genannt werden. Kein anderes pietistisches Paar trat in vergleichbarer Weise in Erscheinung. Obwohl sich ihre Texte deutlich voneinander unterscheiden, lässt sich nachweisen, dass sie gemeinsam an den gleichen Fragestellungen arbeiteten und sich gegenseitig beeinflussten. Die zu ihren Lebzeiten öfter geäußerte Vermutung, dass entweder er ihre Texte verfasst habe oder sie seinen Namen benutzte, um ihre Texte zu veröffentlichen, kann heute als überholt gelten.

Kommentar

Petersen gehört zu den berühmten Pietistinnen, mit der sich sowohl Zeitgenossen als auch spätere Generationen intensiv befassten. Die Rezeptionsgeschichte weist ganz unterschiedliche Parameter auf, unter denen sie wahrgenommen und gedeutet wurde. Dieser Aspekt darf nicht vernachlässigt werden, um nicht zeitbedingte Fehldeutungen fortzuschreiben. Im Folgenden werden einige bezeichnende Beispiele genannt, um zu illustrieren, in welch unterschiedlicher Weise diese Pietistin gesehen wurde.

Zu den scharfen Gegnern des gesamten Pietismus gehört der konservative Lutheraner Johann Heinrich Feustking. Er widmete ein umfangreiches Buch häretischen Frauen aller Epochen; die Pietistinnen nehmen hierin einen großen Raum ein. Petersen behandelt er in ausgesprochen polemischer Weise, so schreibt er z.B.: „GOtt nehme sich dieser verblendeten Weibes=Person nach seiner grossen Barmherztigkeit in Gnaden an/ und bringe sie auff gesundere Meynungen!“ (Feustking 1704: 483). Sie habe ihren Ehemann zu radikalen Ansichten verführt, so dass er sein kirchliches Amt verlor. Feustking sah sich, um Schaden von der lutherischen Kirche fernzuhalten, gezwungen, „dergleichen selbst=gewachsenen Scribenten […] Die Feder aus denen Händen zu reissen/ und ihre Schnitzer öffentlich zu zeigen“ (Feustking 1704: 502). Bereits zu ihren Lebzeiten galt Petersen anderen als bedeutende Schriftstellerin, mehrere Lexika, die um 1700 Material über berühmte Frauen versammelten, nennen sie unter den Dargestellten. Im Werk von Johann Caspar Eberti, das 1706 erschien, heißt es: „Petersin (Johanna Eleonora) Gebohrne von Merlau/ des durch seine Schrifften nicht unbekandten Herrn D. Joh. Wilhelm Petersen, ehemaligen Superintendens zu Lüneburg/ noch lebende Eheliebste/ hat durch unterschiedliche Schrifften in deutscher Sprache sich bekandt gemacht“ (Eberti 1706: 278). Drei ihrer Schriften werden vorgestellt und kommentiert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die für die lutherische Kirche verstörenden radikalen Ideen anscheinend völlig vergessen, Johanna Eleonora Petersen wird in eine Sammlung aufgenommen, die Pfarrfrauen porträtiert. Die darin abgedruckte biografische Skizze stellt einen Auszug aus der Autobiografie ihres Ehegatten dar. Petersen nahm viele Rollen ein – aber eine vorbildliche lutherische Pfarrfrau war sie mit Sicherheit nicht! Zu den lange gängigen Deutungsmustern gehört, das Ehepaar Petersen aufzuteilen in den männlichen Theologen auf der einen Seite und die weibliche Mystikerin auf der anderen Seite. Diese Fehlinterpretation reichte bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Inzwischen hat sich in der Forschung eine geänderte Sicht durchgesetzt. In einem neueren Lexikon-Artikel über J.E. und J.W. Petersen unterstreicht Johannes Wallmann: „Beachtlich ist das Selbstbewußtsein, mit dem Johanna Eleonora Petersen für das Recht der Frau auf öffentliche Bibelauslegung bestand“ (Wallmann 2003: 1154).

Als der Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts seine öffentliche Bedeutung verlor, traten auch die mit dieser Bewegung verbundenen Personen und Themen zurück. Die Frage nach der Erlösung aller z.B. wurde zwar weiter behandelt, aber unter anderen Perspektiven als denen, die Johanna Eleonora Petersen und ihre Zeitgenossen beschäftigt hatten. Ihre Deutung der Bibel wurde von ganz anderen Fragen zur Echtheit der biblischen Überlieferung zurückgedrängt. Die Positionen, die Petersen vertrat, sind von heute aus nur noch teilweise verständlich.