Um Juliane von Krüdeners Beziehungsnetz besser zu verstehen, einführend einige biografische Eckdaten.
Biografische Eckdaten
Die kleine Baronesse von Vietinghoff wurde am 22. November 1764 als viertes von sieben Kindern in Riga in eine hoch angesehene deutschbaltische Adelsfamilie hineingeboren und auf das evangelisch-lutherische Bekenntnis getauft. Einer ihrer Paten war kein Geringerer als der amtierende Gouverneur von Livland. Die ruhmvolle Vergangenheit des väterlichen Stammbaumes kann bis zu den Nachfahren der Tempelritter im 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Julianes Vater, Baron Otto Hermann von Vietinghoff gen. Scheel (1722-1792), gehörte als hochrangiger Staatsdiener und Besitzer von über 30 Ländereien und Schlössern zu den reichsten Männern Russlands und wurde vom baltischen Volk ehrfürchtig Ludwig XIV. von Riga und Halbkönig von Livland genannt. Darüberhinaus prägte er als Kunstmäzen das gesellschaftliche und künstlerische Leben der baltischen Metropole. Durch ihre Mutter, Anna Ulrike Gräfin von Münnich (1741-1811), war Juliane die Urenkelin des weltberühmten Generalfeldmarschalls Burchard Christoph Graf von Münnich (1683-1767), der als brillanter Ingenieur, Architekt, Premierminister und Krimeroberer in die Geschichte einging. Die Eltern ermöglichten der außergewöhnlich intelligenten kleinen Baronesse eine hervorragende Ausbildung.
Im Alter von 17 Jahren wurde Juliane mit einem 18 Jahre älteren russischen Botschafter verheiratet: Alexius Konstantin Baron von Krüdener (1746-1802). Zur Hochzeit schenkte Baron von Vietinghoff seiner Tochter den Gutshof Kosse (heute Viitina) im Süden des heutigen Estland. Das Hochzeitsgeschenk machte Juliane zur Leibherrin von über 1.000 Leibeigenen. Dadurch wurde sie Teil eines Systems, das sie zutiefst verabscheute. Beförderungen von Alexis bedeuteten Versetzungen aus dem lettischen Jelgava (Mitau) nach Venedig, weiter nach Kopenhagen und später in die preußische Metropole Berlin. Dem Botschafterpaar wurden zwei Kinder geschenkt: Paul (1784-1858) und Juliette (1787-1865). Es folgten schwierige, turbulente und unglückliche Ehejahre. Kurze Zeit nach dem plötzlichen Tod ihres Gatten gelang Juliane von Krüdener im Jahr 1803 in Paris der Durchbruch mit ihrem Roman Valérie.
Im Alter von 40 Jahren stellte eine Gottesbegegnung in Riga Julianes Leben und ihre Prioritäten auf den Kopf. Ein Herrnhuter Schuhmacher spielte eine wichtige Rolle in ihrer radikalen Hinwendung zum christlichen Glauben. Von Kind an evangelisch-lutherisch geprägt, war Juliane von Krüdener schon vorher religiös gewesen, aber nun wurde sie auf eine neue Weise von der Liebe Gottes berührt. Von diesem Zeitpunkt an stellte sie ihr Leben kompromisslos in den Dienst Gottes und ihrer Mitmenschen. Sie kümmerte sich um die Ärmsten und Ausgestoßenen. Furchtlos konfrontierte sie Herrscher und prophezeite lange im Voraus den Untergang der Bourbonen und damit des französischen Königtums sowie Napoleons Rückkehr von der Insel Elba. Mit ihrem religiösen Salon in Paris, im Sommer 1815, erregte die Baltin europaweites Aufsehen, nicht zuletzt weil Zar Alexander I. und weitere Prominente zu ihren regelmäßigen Salongästen gehörten.
Juliane von Krüdeners Missionsreisen (1816-1818) versetzten die Schweiz und Süddeutschland in Aufruhr. Die Angelegenheit Krüdener wurde in den höchsten Ebenen der Politik und selbst an Pfarrkonventen diskutiert. Geistliche wurden ihretwegen suspendiert, die Kriminalpolizei an ihre Fersen geheftet und vieles mehr. Die Baronin polarisierte Familien, Kirchgemeinden, Städte und Kantone. Verschiedene Beweggründe führten schließlich zu ihrer endgültigen Ausweisung aus Westeuropa. Zurück auf ihrem Gutshof Kosse führte die Baronin ihre erweckliche Arbeit einige Jahre weiter. Schwer krank begleitete Juliane von Krüdener einige Familienmitglieder und eine Freundin in die Krim, wo jene eine Kolonie gründen wollten. Sie starb Weihnachten, den 25. Dezember 1824.
Beziehungsnetz
Das Beziehungsnetz der baltischen Baronin kann nur auf dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher Netzwerke jener Zeit verstanden werden; allen voran die Salongesellschaft. Die Fortsetzung gibt einen kurzen Blick auf Julianes Salonbeziehungen, weiter auf ihre Beziehungen zum Hochadel und schließlich auf ihre Beziehungen zu Geistlichen und Sozietäten. Aber auch weitere Begegnungsräume, wie z. B. Kurbäder, waren von großer Bedeutung für Juliane von Krüdeners beeindruckendes Beziehungsnetz.
A) Salonbeziehungen
Als Tochter einer angesehenen Salondame in Riga wurde Juliane von Krüdener ganz natürlich in das wohl einflussreichste soziale Netzwerk jener Zeit von West- bis Osteuropa hineingeboren: Die Salonkultur. An der Seite ihres Botschaftergatten stand Juliane in jungen Jahren zahlreichen diplomatischen und literarischen Salons vor. Im Salon wurde diskutiert, gespielt, musiziert, Leben geteilt, gemeinsam an neuen Werken gearbeitet und vieles mehr. Im Salon wurde Juliane von Krüdener geprägt: von Schriftstellern, Politikern, Künstlern, Freunden, Durchreisenden, Andersdenkenden. In späteren Jahren wurden ihre literarischen Salons zunehmend zu religiösen Salons, die viel Aufsehen erregten – von Riga, über Paris, die Schweiz und Deutschland bis nach Sankt Petersburg. Während vielen Jahren reisten ihren engsten Salongäste in Form eines Wandersalons mit ihr. Innerhalb der Salongesellschaft knüpfte die Baltin – sei es in der Funktion als leitende Salondame oder als Gast in anderen Salons – im Verlauf der Jahre ein eindrückliches Beziehungsnetz.
B) Beziehungen zum Hochadel
Juliane von Krüdeners zahlreichen Verbindungen mit Vertretern der wichtigsten Herrscherfamilien jener Zeit ist erstaunlich. Meine Grafik veranschaulicht, dass die adlige Baltin Zugang zum Preußischen Hof, zum Badischen Hof, zum Russischen Hof sowie zur Napoleonischen Familie hatte:
(Zur Abbildung: Copyright Debora Sommer)
Königin Luise von Preußen schrieb in einem Brief, dass ein Gespräch mit Juliane von Krüdener zu ihrer Entscheidung geführt hatte, Napoleon zu verzeihen. Dem Mann, der für den Niedergang ihres geliebten Königreiches verantwortlich war. Aber auch mit Napoleons Adoptivtochter und Schwägerin Hortense de Beauharnais verband die Baltin eine herzliche Freundschaft. In den Jahren 1814 und 1815 kam es zu einer besonders engen Beziehung zu Zar Alexander I.
C) Beziehungen zu Geistlichen und Sozietäten
Wie in vielen anderen deutschbaltischen Familien der russischen Aristokratie fanden Bildung und Religion eine Verschmelzung in der Person des Hauslehrers, der zugleich Geistlicher war. Geistliche begleiteten die junge Botschaftergattin denn auch als Hauslehrer ihrer Kinder auf ihren vielen Reisen. Über diese geistlichen Reisebegleiter hinaus suchte die Baltin bereits in ihren „vor-missionarischen“ Jahren immer wieder den Kontakt zu Geistlichen, die sie stark prägten. Zu diesen gehörten der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater und der spätere Erzbischof Ludwig Ernst von Borowski in Königsberg. Nach ihrer radikalen Hinwendung zum christlichen Glauben im Alter von 40 Jahren verbrachte sie einige Zeit bei den Herrnhutern in der Oberlausitz. Sie wurde weiter längere Zeit von Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling – einem führenden Vertreter der Erweckungsbewegung – geprägt, aber auch von dem Sozialpionier Johann Friedrich Oberlin und Mystikern von West- bis Osteuropa. Sie stand in enger Verbindung mit zahlreichen religiösen Sozietäten wie Traktat-, Bibel- und Missionsgesellschaften. Mit keiner anderen Sozietät war die Kooperation so intensiv wie mit der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel und deren Tochtergesellschaften.
Der geografische Lebenshorizont und Wirkungsbereich der Baronin reichte von Frankreich im Westen bis zur russischen Metropole Sankt Petersburg im Osten sowie zur Halbinsel Krim im Süden der heutigen Ukraine. Ähnlich facettenreich wie der geografische Horizont ihres Lebens präsentierte sich auch Juliane von Krüdeners Dienst.
A) Wirken unter Armen & Notleidenden
Als Kämpferin für die Gerechtigkeit
Besonderes Mitgefühl empfand Juliane zeitlebens für die unterdrückten livländischen Bauern. Das Los der Leibeigenen war in ihren Augen eine himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit. Als Leibherrin fühlte sie sich verantwortlich für ihre 1000 Bauern in Kosse und litt mit ihnen. Wie unmittelbar Juliane das Leben ihrer Bauern beschäftigte, beweist diese Zeichnung in einem ihrer Tagebücher. Darauf ist deutlich eine Bäuerin mit Tragejoch und einem schief gewordenen Baum erkennbar.
Mit zunehmendem Alter engagierte sie sich immer eifriger für die Verbesserung der Lebensqualität ihrer Bauern. Sie setzte sich mit Hingabe für eine Verbesserung der Lebensqualität ihrer Leibeigenen ein und leistete Entwicklungsarbeit für die kossische Landbevölkerung. Schon früh träumte sie davon, ihre Leibeigenen zu befreien, was sie später auch tat, nachdem Zar Alexander I. im Jahr 1803 die gesetzliche Grundlage dafür gelegt hatte.
Zu Beginn des Jahres 1807 engagierte sich die baltische Missionarin in den Kriegslazaretten von Königsberg. Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt vom 14. Oktober 1806 sowie die blutige Schlacht bei Preußisch Eylauvom 7. und 8. Februar 1807 hatten zu verheerenden Folgen geführt. Karitatives und sozial-diakonisches Wirken war für Juliane die Erfüllung christlicher Nächstenliebe.Im Chaos der desolaten Situation in Königsberg entfaltete sie in den Folgewochen eine rege diakonische Tätigkeit. Voller Hingabe widmete sie sich der Pflege der Verwundeten. Der 25-jährige Achim von Arnim war tief beeindruckt von der baltischen Baronin. In seinem Bericht Frau von Krüdener in Königsberg, den er ohne Julies Wissen in der Zeitschrift Vesta veröffentlichte, rühmte er ihren selbstlosen Einsatz. Ähnlich der deutsche Schriftsteller Max von Schenkendorf. Dies trug zu Julianes Bekanntheit in Europa bei.
Revolutionär und aufsehenerregend für jene Zeit waren auch Juliane von Krüdeners Gefängnisbesuche in Heidelberg. Bei ihrem ersten Gefängnisbesuch im Juni 1812 bat Juliane den Gefängnisaufseher und seine Frau, den Gefangenen auf ihre Kosten ein Festmahl zuzubereiten: Braten, Salat und Bier. Bei weiteren Gefängnisbesuchen trat das soziale Engagement hinter das verkündigende zurück.
B) Wirken in der Salongesellschaft
Als Schriftstellerin & Ratgeberin
Mit ihrem Roman Valérie sicherte sich Juliane einen Ehrenplatz in der Salongesellschaft. Ihr Roman wurde zum Salongespräch und die Autorin zum gern gesehenen Gast. Ihr Renommee als Romanautorin eilte ihr weit voraus und öffnet ihr speziell in Kreisen des Hochadels viele Türen. Neue literarische Werke bedeuteten neue Einladungen und neue Möglichkeiten, der Salongesellschaft aus dem neuen Werk vorzulesen. Und dies lag der Baronin nach ihrer prägenden Gotteserfahrung ganz besonders am Herzen.
Der Kontrast ihrer Lebenswelten, im Spannungsfeld zwischen den Ärmsten und den Reichsten von Lettland und Estland, inspirierte die baltische Baronin Ende 1804 zur Abfassung eines neuen Werkes: Les gens du monde (Die Menschen der Erde). Der unveröffentlichte Roman Othilde, den sie in den Jahren 1807-1809 abfasste, wurde zu einem wichtigen Transportmittel ihres missionarischen Gedankenguts in den Salons. Dies galt speziell für den Einsiedler, ein vollständiges Kapitel aus Julianes neuem Roman, der die Bekehrung eines reumütigen Sünders schilderte. Quellen belegen, dass z. B. der Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant tief bewegt davon war. Durch die Turbulenzen der Folgejahre rückte das literarische Schaffen in den Jahren 1810-1817 in den Hintergrund, bzw. konzentrierte sich jenes auf die Bewältigung der umfangreichen Korrespondenz.
Doch es waren nicht Julianes literarischen Werke, die die hitzigsten Diskussionen auslösten, sondern vielmehr, dass sie es wagte, sich in ihren Salonanlässen zu politischen Themen zu äußern. In einer Zeit, als in den Augen vieler Westeuropäer bereits schriftstellerische Aktivität von Frauen als unschicklich galt, hielt man weibliche Einmischung in die Politik für eine noch viel gravierendere Grenzüberschreitung. Durch ihre aktive Einmischung in die Politik zog die baltische Baronin großen Unmut auf sich. Insbesondere durch ihren Einfluss auf Zar Alexander I. ab Juni 1815. Bis zu 500 Personen, darunter wichtige politische Entscheidungsträger, fanden sich im Sommer 1815 allabendlich in Julianes Pariser Salon ein, um die berühmte Frau zu hören und ihren Rat zu erbitten. Zu den Kernthemen im Salon Krüdener gehörten politische Diskussionen zu den laufenden Friedensverhandlungen in Paris. Man warf der Gastgeberin vor, Zar Alexander I. mit ihrer Friedenspolitik beeinflusst zu haben. So seien Milde und christliche Feindesliebe zur Maxime von Alexanders Politik Frankreich gegenüber geworden.
Am 26. September 1815 wurde die Heilige Allianz, ein überkonfessionelles Bündnis, vom griechisch-orthodoxen Zar Alexander I., dem römisch-katholischen Kaiser Franz I. und dem protestantischen König Friedrich Wilhelm III. in Paris unterzeichnet. Gemeinsam wollten die Herrscher das Christentum zur obersten Maßregel im Verhalten der Völker untereinander erheben. Auch wenn Julianes Anteil an der Entstehung der Heiligen Allianz umstritten blieb, stand sie in den Augen vieler auf der Höhe ihrer politischen Laufbahn: Für kurze Zeit sei sie durch ihren Einfluss auf den Zaren zur mächtigsten Frau Europas geworden.
In späteren Jahren machte die Baronin mit weiteren Schriften, die in den Salons kursierten, von sich reden. Die Schriften machen deutlich, dass Religion und Politik nach der Unterzeichnung der Heiligen Allianz in Paris in der Theologie der Baronin mehr und mehr zu einer untrennbaren Einheit wurden. So ist fast allen Schriften Julianes nach 1815 diese Verschmelzung religiöser und politischer Angelegenheiten eigen. Besonders viel Aufruhr verursachte 1821 ihre politische Schrift Sur la liberation de la Grèce(Über die Befreiung von Griechenland), die in den Salons von Sankt Petersburg rege Verbreitung fand. Unverblümt rügte Juliane die passive Haltung des russischen Hofes, die Griechen ihrem Schicksal zu überlassen.
C) Wirken in der Öffentlichkeit
Als Mutter der Armen & Predigerin
Von 1816 bis 1818 unternahm Juliane von Krüdener Missionsreisen durch Süddeutschland und die Schweiz, wo ihr Sohn als beliebter russischer Botschafter amtete. Mit dem Besuch der Kantonshauptstadt Aarau im April 1816 reagierte sie auf eine Einladung von Johann Heinrich Pestalozzi. Die Schweiz befand sich in einer großen Notlage: Einerseits war sie von den Napoleonischen Kriegen ausgeblutet, andererseits hatte ein Vulkanausbruch auf der Insel Sumbawa zu einem „Jahr ohne Sommer“ mit verheerenden Auswirkungen geführt. Tausende von Menschen strömten in Schweizer Städten zusammen, um die Frau aus dem Norden zu sehen, zu hören und praktische Hilfe zu erfahren. In der Ostschweiz hatten sich laut einem Zeitgenossen innert weniger Wochen an die 25‘000 Menschen um sie geschart. Die „Mutter der Armen“ nahm kein Blatt vor den Mund, wenn sie Geistliche und Regierungen auf ihre Verantwortung aufmerksam machte und forderte ein Evangelium der Tat.
In ihren missionarischen Jahren wurde die Baltin zu einer geistlichen Mutter für viele. Am 14. Februar 1817 schrieb sie an den badischen Innenminister Berckheim, dass Jesus Christus sie berufen habe, weil er „eine Mutter“ brauchte, die sich um die Waisen kümmerte und mit anderen Müttern weinte. Mit Hingabe widmete sie sich dieser Aufgabe und wurde zu einer „Mutter der Armen“, sei es in der Schweiz, in Deutschland, auf ihren livländischen Gütern in Kosse, in Sankt Petersburg oder wo auch immer sie sich aufhielt. Vielen wurde sie auch zu einer geistlichen Mutter im Blick auf prägende Impulse ihres Glaubenslebens. „Der Bevölkerung ward sie eine geistliche Mutter“, wurde im Blick auf Julianes erweckliches Wirken ihrer letzten Lebensjahre im Baltikum gesagt. In ihrem missionarischen Wirken wurde Juliane von Krüdener auch geistliche Mutter vieler erwecklicher Impulse und erwecklicher Erneuerungen, wie z. B. in der Ostschweiz. Die Mütterlichkeit der baltischen Missionarin berührte arm und reich: Die Ärmsten und Ausgestoßenen bis hin zum Hochadel. Russlanddeutsche erinnern sich noch heute an den wichtigen Einfluss der Baronin als „Stammesmutter“.
Trotzdem lässt sich Julianes missionarisches Wirken nicht abschließend unter dem Begriff „Mutter“ subsumieren und nicht auf „Mütterlichkeit“ beschränken. Denn während Mütterlichkeit dem privaten und diakonischen Bereich zugeordnet wird, trat die baltische Missionarin als Salondame während ihrer Missionsreisen in die Öffentlichkeit. Damit hatte sie in den Augen vieler die Schranken der Weiblichkeit überschritten. Der Platzmangel in den Wirtshäusern, die meist zu klein für den Ansturm der Besucher waren, führte in den neuen erwecklichen Handlungsraum der Öffentlichkeit. Der Dienst in der Öffentlichkeit wurde zunächst am Grenzacher Horn, genannt Hörnli, nach der Ausweisung aus Basel praktiziert, wo von einer am Hause befindlichen Treppe aus zahlreichen Besuchern gepredigt wurde:
(Zum Bild: Copyright Wikimedia Commons)
Dass Juliane von Krüdener als Frau öffentlich auftrat, sorgte für große Empörung. Abgesehen vom öffentlichen Wirkungsraum, den sie als Frau beanspruchte, brachte ihr vor allem die Tatsache, dass sie ihre Erbauungsstunden in Wirtshäusern durchführte, heftigen Widerstand ein. Doch die Baltin ließ sich nicht einschüchtern und setzte alles daran, möglichst viele öffentliche Räume zum Transport der Botschaft des Evangeliums nutzen.
Auch wenn Juliane von Krüdeners missionarische Verkündigung von Zeitgenossen nicht selten als willkürliche Verkettung variierender Gedanken bewertet wurde und nicht wenige über Ziel und Absicht ihres Handelns rätselten, fußte jene auf klar definierten theologischen Überzeugungen. Der Schlüssel zum Verständnis von Julianes Kernansichten bildet das Bündnis der Heiligen Allianz. Auf der Grundlage dieses Bündnisses sah sich die Baltin dazu berufen, einer Mission der Heiligen Allianz vorzustehen, die sich in dem neu angebrochenen Zeitalter für die Umsetzung christlicher Werte einsetzte. Die Baronin sah sich von Gott dazu berufen, ihre Mitmenschen auf das nahe Ende aufmerksam zu machen und zur Buße aufzurufen.
Ganz selbstverständlich verteilte sie auch das Abendmahl in ihrem Familiensalon in Riga, was zu hitzigen Diskussionen führte. Viele hatten Bedenken, das Abendmahl aus Laienhand zu empfangen und fürchteten Strafgerichte. Wiederholt berief sich Juliane von Krüdener ausdrücklich auf ihre göttliche Sendung.
Die Lehre von Jesus Christus, dem Gekreuzigten, bildete die Mitte ihrer Theologie und Botschaft. In einem Verteidigungsschreiben vom 14. Februar 1817 an den badischen Innenminister Karl Christian v. Berckheim bezeugte Juliane, in Anlehnung an die paulinischen Worte in 1. Korinther 1,23-25: „Ich will und kenne kein anderes Wollen, als Christus und Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit, aber ewige Weisheit und ewige Übereinstimmung, König der Könige und der Ewigkeiten“.
Reformation der Liebe
Keine Offenbarung war für die baltische Baronin größer als die Erkenntnis der göttlichen Liebe. Das Wesen des Evangeliums von Jesus Christus, dem Gekreuzigten, war Liebe. „Die Liebe zu Christus lehrt uns alles, sie ist der Schlüssel zum Herzen Gottes, sie allein ist groß“, war sie überzeugt. Auf der Grundlage dieser Perspektive brachte Juliane das Christentum in einem Brief auf folgenden Nenner: „Liebe einathmen und Liebe aushauchen, das ist das ganze Christenthum und das lernt man nur zu Jesu Füßen (…).“ In diesem Sinne war die Liebe zu Gott untrennbar verbunden mit der Liebe zum Nächsten. So wurde Juliane zur Predigerin des Evangeliums der Liebe. Oder wie sie es selber ausdrückte: „Für die anderen zu leben, das ist die Religion der Liebe!“.
Auf der Grundlage dieser Religion der Liebe, zielte von Krüdeners Mission auf eine umfassende Reformation der Liebe. Im Gespräch mit einem Dekan erklärte sie, dass „Christus abermals eine Reformation in der von ihm gestifteten Religion“ verlange, „weil sowohl die Reformierten, Lutheraner (…) als die Katholiken zu sehr von der Wesenheit derselben abgewichen sind.“ Aber auch, dass Gott diese Reformation durch Liebe bewirken wolle und er sich daher bewusst einer Frau bediene, da er sie besser brauchen könne als einen Mann: „Schon mehrere Male habe Gott Frauen zu seinen Zielen gebraucht, Judith, Esther, Magdalena, Maria“. Die Religion der Liebe werde weiter zur Einheit aller christlichen Konfessionen führen, da nicht die Zugehörigkeit zu einer Konfession, sondern das Bekenntnis zu Christus entscheidend seien. Dementsprechend stand Juliane von Krüdener in regem Austausch mit Menschen unterschiedlicher Konfessionen: Sie pflegte Gemeinschaft mit Mitgliedern der Herrnhuter Brüdergemeine, mit Quäkern, mit Juden und mit Griechisch-Orthodoxen; sie zählte evangelische Geistliche ebenso wie katholische zu ihren Freunden und Verteidigern.
Nachdem Juliane und ihr Gefolge aus der Schweiz ausgewiesen worden waren, zog die Baronin im Jahr 1817 predigend durch Württemberg, Bayern und Sachsen in Richtung baltische Heimat. Dass nicht alles nach ihrer Vorstellung geschah und sie nicht selten wie Staatsgefangene behandelt wurden, nahm sie aus Gottes Hand. Sie sei stolz darauf, um Jesu Willen Verfolgung zu erdulden, verkündete sie in ihrer öffentlichen Rede in Beeskow. In der Zerstreuung des Gefolges erkannten Juliane und ihr treuer Begleiter Henri-Louis Empaytaz, ein Genfer Geistlicher, eine spezielle göttliche Führung und einen Hinweis darauf, dass Gott am Werk war in Bezug auf die ersehnte Reformation der Liebe: Denn durch die Zerstreuung kehrten 300 Jahre nach der Reformation drei von Julianes engsten Mitarbeitern, Reformern gleich in drei bedeutende Schweizerstädte zurück; Jakob Ganz nach Zürich, Friedrich Lachenal nach Basel und Henri-Louis Empaytaz nach Genf.
Juliane von Krüdener war eine einflussreiche Frau. Sie bewegte Europa als Wanderpredigerin, Evangelistin und Missionarin durch die konsequente Ausrichtung auf ihre Mission und ihre völlige Hingabe an Gott und ihre Mitmenschen. Sie bewegte Europa als missionarische Salondame, Theologin, Autorin, Philanthropin und Sozialreformerin. Sie bewegte Europa als weibliche Pionierin des evangelischen Glaubens, als Impulsgeberin und Netzwerkerin. Julianes Leben zeigt Vernetzungen, wie sie in dieser Dichte in einem einzigen Leben nur selten zu finden sind. Zahlreiche Persönlichkeiten – viele davon männlich – verdankten der Baronin wesentliche Impulse für ihre geistliche Laufbahn und schrieben nach ihr und dank ihr Geschichte. Erweckliche Impulse erfassten aber auch Kirchen, Bewegungen wie den Genfer Réveil und die Anfänge der Basler Mission. Man mag der Baronin von Krüdener vieles vorwerfen und absprechen. Nicht aber die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens und die Unerschrockenheit, einen Auftrag zu erfüllen, zu dem sie sich berufen sah.Sie setzte sich nach Kräften dafür ein, die Botschaft der Bibel kompromisslos umzusetzen und kämpfte bis an ihr Lebensende für die praktische Umsetzung frommer Theorie.
Am 22. November 2014 jährte sich Juliane von Krüdeners Geburtstag zum 250. Mal. Ein Vierteljahrtausend Juliane von Krüdener schien mir ein würdiger Zeitpunkt, die Akte Krüdener neu zu öffnen und der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies geschah in der Abfassung der Biografie Juliane von Krüdener: Eine Baronin missioniert Europa.