Justina Siegemund

Autor vitae und ‚Mutter’ eines Buches: die königlich-preußische und kurbrandenburgische Hofhebamme Justina Siegemund
Die Hofhebamme Waltraud Pulz
Lebensdaten
von 1636 - bis 1705
Unter weiteren Namen bekannt als:
Justine Si(e)g(e)mund(in), Justina Sigismund, Justina/Justine Di(e)t(t)(e)rich(in)
Justina_Siegemund.jpg
Copyright Wikimedia Commons/Rodak
Beziehungen

Justina Siegemund ist die erste Frau, die im deutschen Sprachraum ein geburtshilfliches Lehrbuch veröffentlicht hat. Sie stammt aus Rohnstock/Roztoka in Schlesien, geboren wurde sie am 26. Dezember 1636 im nahen Jauer/Jawor. Ihre Mutter Anna, geb. Clement, war Tochter eines Rohnstocker Freigärtners, der Vater, Elias Di(e)t(t)(e)rich, war lutherischer Geistlicher. Die im familiären Kreis erworbene Bildung (vollständige Alphabetisierung) war im 17. Jahrhundert für eine Frau außergewöhnlich, Justina Siegemund hat sie später – teilweise autodidaktisch – erweitert. Etwa zwei Jahre nach ihrer Heirat (1655) mit dem Rentschreiber Christian Siegemund wurde sie irrtümlich für schwanger gehalten und von verschiedenen ‚Wehemüttern’ (Hebammentätigkeit war noch nicht professionalisiert, basierte im wesentlichen auf traditionalem Wissen gebärender und Geburtshilfe leistender Frauen) tagelang zur Geburt gedrängt. Es war diese leidvolle Erfahrung, die Justina Siegemund nach eigener Aussage zur Lektüre geburtshilflicher Lehrbücher sowie zum Austausch mit den – von ihr stets als unwissend bezeichneten – Hebammen ihrer Umgebung motivierte. Diese zogen die 23-Jährige, obgleich ihr Gebärerfahrung als wichtigste Voraussetzung zum Hebammenberuf fehlte, zunehmend zu schweren Geburten hinzu. Nachdem Justina Siegemund, die in ihrem Ehestand beträchtlichen Spielraum genoss und aufgrund der gehobenen Stellung ihres Ehemanns nicht auf ein Entgelt angewiesen war, auf diese Weise zwölf Jahre lang Erfahrungen gesammelt hatte, wurde sie auf Betreiben eines Arztes 1670 Stadthebamme in Liegnitz/Legnica. Etwa zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt rettete sie der von Ärzten erfolglos behandelten Luise von Anhalt-Dessau (1631–1680), die nach dem Tod ihres Ehemanns, Herzog Christians von Liegnitz-Brieg-Wohlau (1618–1672), die Regentschaft führte, durch die Entfernung eines Gebärmuttergewächses das Leben. Bis zum Tod der Herzogin genoss die Hebamme daraufhin Unterhalt an deren Hof, aufgrund ihrer Freistellung und ihres Rufs wurde sie nicht nur innerhalb Schlesiens, sondern auch aus Sachsen angefordert. Sie stand jedoch bis 1678 (und zum Teil noch danach) immer wieder auch den Liegnitzer Schwangeren und Gebärenden zur Verfügung, allerdings eben nicht mit der für Stadthebammen gewöhnlich geforderten Ausschließlichkeit.

Bereits während ihres ersten Karrierehöhepunkts bekam Justina Siegemund es mit Konkurrenz zu tun: Im September des Jahres 1680 bezichtigte sie der Liegnitzer Stadtarzt Dr. Martin Kerger (1622–1691) gewalttätiger geburtshilflicher Praktiken. Insbesondere warf er ihr vor, Geburten aus Eigennutz zu beschleunigen, und stellte dies in Zusammenhang mit ihrem ungewöhnlich weit gespannten beruflichen Aktionsradius. Auch der Verordnung von Hausmitteln, und damit der Durchkreuzung des ärztlichen Berufsmonopols – Hebammen waren für die Handarbeit an der Gebärenden zuständig –, wurde Justina Siegemund beschuldigt. Kerger hatte seine Anschuldigungen an den Hebammenordnungen orientiert, das heißt in Muster übersetzt, die Straftatbeständen entsprachen. Obwohl Justina Siegemund – in ihrem Lehrbuch später abgedruckte – „Zeugnisse“ sammelte und sich auf ihr Betreiben Gebärende wie auch bei der Geburt anwesende Frauen, Hebammen und Ehemänner unter Eid entlastend zu den Beschuldigungen äußerten, konnte Kerger aufgrund seiner Aufsichtsfunktion über das Hebammenamt rechtlich nicht belangt werden: Liegnitzer Stadtgericht, Rat wie auch der Leipziger Schöffenstuhl vertraten die Auffassung, er habe mit einer Anzeige vermeintlicher Missstände in Erfüllung seiner Amtspflichten gehandelt. In der vom Richter der ersten Instanz angefertigten Schilderung des Verfahrens wurde die hartnäckig auf Entkräftung der Vorwürfe bestehende Justina Siegemund als zänkisches Weib abqualifiziert. Nachdem sie 1683 vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm als „Weise-Mutter“ an seinen Hof berufen worden war, konnte sie die sich immer komplizierter gestaltende Rechtssache von Berlin aus nicht mehr weiterverfolgen.

In ihrer neuen Position sollte Justina Siegemund laut Bestallungsurkunde Hofangehörige wie auch andere Frauen betreuen. Zur Niederkunft und Wochenpflege verschiedener Fürstinnen bzw. Prinzessinnen wurde sie dabei mitunter an andere, meist eng mit den Hohenzollern verbundene Höfe ausgeliehen, ein bei besonders geschickten Hebammen nicht ganz unüblicher Vorgang, der Gelegenheit zum Anknüpfen förderlicher Beziehungen bot. Aus der Datierung der jeweiligen Anweisungen lässt sich erschließen, dass Justina Siegemund unter anderem der Herzogin Marie Amalie von Sachsen-Zeitz (1670–1739), Tochter des Großen Kurfürsten, zwischen 1690 und 1700 bei vier Geburten Beistand geleistet hat, außerdem auch der Kurfürstin von Sachsen Christiane Eberhardine (1671–1727), Gemahlin von August dem Starken, bei der Geburt von Friedrich August II. (1696). Ihre Tätigkeit führte die Hofhebamme bis in die Niederlande, damals geistiges Zentrum Europas: Auf Ansuchen des friesischen Statthalters Heinrich Casimir II. von Nassau-Diez reiste sie 1689 zur Niederkunft seiner Ehefrau Henriette Amalia (1666–1726). Die Reise ging über Friesland nach Den Haag, wo Justina Siegemund für ihr Hebammenanleitungsbuch Unterstützung seitens der nassauischen Leibärzte erfuhr, einige der im Lehrwerk enthaltenen Abbildungen stechen ließ und im übrigen Gelegenheit hatte, Maria von Oranien (1662–1694), wenig später Königin von England, das Manuskript zu zeigen. Die unterschiedlichen, nur partiell datierten Widmungsbriefe, mit denen die Hofhebamme im folgenden Jahr jeweils Teile der  – buchgeschichtlich noch unzureichend untersuchten – ‚Erstausgabe’ ihres Werks versah, bezeugen unabgeschlossene Verhältnisse, Dankbarkeit für vergangene sowie Hoffnung auf zukünftige Förderung: Sie waren an ihre Landesherrin, die brandenburgische Kurfürstin Sophie Charlotte (1668–1705), und an Anna Sophie (1647–1717), die damalige Kurfürstin von Sachsen, gerichtet; daneben an Charlotte von Holstein-Sonderburg-Wiesenburg (1652–1707), Tochter von Luise von Anhalt-Dessau, sowie an Maria II. Stuart und Henriette Amalia von Anhalt-Dessau, Fürstin von Nassau-Diez, außerdem an deren Schwester Elisabeth Albertine (1665–1706), durch Heirat Herzogin zu Sachsen-Weißenfels-Barby.

Zum Alltag der über die deutschen Grenzen hinaus berühmten Hofhebamme gehörten nicht zuletzt der Kontakt und Austausch mit akademisch gebildeten Ärzten – und von daher wiederum die Konfrontation mit Konkurrenz und Standesdenken. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Lehrbuchs, in dem immer wieder von verleumderischen und missgünstigen Feinden die Rede ist, kam es erneut zu Streit mit einem Arzt, dem Leipziger Professor der Anatomie und Chirurgie Andreas Petermann (1649–1703). In diesem Fall ging es um das Hebammenhandwerk im engeren Sinn, um die manuellen Techniken der Hebammen, die Ärzten und Chirurgen damals fremd waren, nicht zuletzt aus moralischen Gründen. Die Kontroverse (1690–1692) wurde in die seit 1723 erweiterten Ausgaben des Anleitungsbuchs aufgenommen; sie zeigt, dass Petermanns geburtshilfliches Wissen nicht am lebendigen Leib erworben war, sondern aus Büchern und/oder Sektionen stammte. Dem von Ärzten und Chirurgen vertretenen, durch Dominanz des Sehsinns charakterisierten Wissenstyp stand das auf dem Tastsinn basierende geburtshilfliche Wissen von Hebammen gegenüber, das mündlich beziehungsweise handlungspraktisch in einer Initiationsbeziehung zwischen Meisterin und Schülerin tradiert wurde. Diese von unmittelbarem Kontakt geprägte Lernsituation und Kommunikationsform ahmt Justina Siegemund in ihrem als Lehrgespräch abgefassten Anleitungsbuch nach – und sucht sie gleichzeitig zu substituieren. Dass auf die Unterstützung durch nonverbale Ausdrucksmittel, auf physische Präsenz und direkte Rückkoppelung nicht verzichtet werden kann, macht die Hofhebamme in der Auseinandersetzung mit Petermann allerdings deutlich.

Wirkungsbereich

Die geographische Mobilität der kurbrandenburgischen (unter Friedrich III. dann seit 1701 auch königlich-preußischen) Hofwehemutter war außergewöhnlich. Dabei hat Justina Siegemund keineswegs nur mächtigen Frauen Geburtshilfe geleistet, sondern wurde in allen gesellschaftlichen Schichten bei Komplikationen hinzugezogen, um anderen Hebammen beizustehen und diese zu unterrichten. Ihr ‚schwere und unrecht stehende Geburten’ behandelndes Lehrbuch publizierte sie – die Geburtshilfe in hohen und höchsten Kreisen wurde zweifellos großzügig rekompensiert – im Selbstverlag und ließ es mit ihrem von Samuel Blesendorf gezeichneten und gestochenen Porträt schmücken; die Distanz zwischen dem eng an die Erfahrung am eigenen Leib geknüpften geburtshilflichen Wissen der ‚Durchschnittshebammen’ und den Praktiken der Hofwehemutter erscheint darin immer wieder enorm. Diesen Eindruck hat die Historiographie der Geburtshilfe nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass seit dem 19. Jahrhundert ein im Anleitungsbuch auch ins Bild gesetzter Wendehandgriff als Erfindung Justina Siegemunds hochstilisiert und  – der  ‚gedoppelte Handgriff der Siegemundin’  ist bis heute ein Begriff – nach ihr benannt wurde.

Gleichzeitig wurde die Erfolgsgeschichte des Anleitungsbuchs jedoch weitgehend ignoriert. Bis in die 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es keine zuverlässige Übersicht über die zahlreichen Ausgaben und Neuauflagen, die von anhaltendem verlegerischen Interesse und damit von der Gunst des Publikums zeugen: Schon 1691 erschien eine Übertragung ins Niederländische, in der Justina Siegemunds weibliche Autorität allerdings bereits insofern untergraben wurde, als dieser Ausgabe Instruktionen für Hebammen des niederländischen Arztes und Chirurgen Cornelis Solingen (1641–1687) beigefügt wurden. In Berlin beziehungsweise Leipzig erschienen 1708, 1715 und 1724 noch einmal Ausgaben, die sich vom ursprünglichen Text inhaltlich nicht unterschieden. 1723 erfolgte jedoch mittels gravierender Eingriffe eine ‚Verwissenschaftlichung’ des Anleitungsbuchs: In den Text eingeschoben wurden Bezugnahmen auf männliche Autorität (François Mauriceau), hinzugefügt wurden die erwähnten Kontroversschriften, der Arzneimittelanhang eines ungenannten Verfassers sowie eine zweite Vorrede des als Herausgeber fungierenden Arztes Johann Daniel Gohl (1674–1731), dessen Marginalien und Fußnoten nun die Lektüre steuern. 1741, 1752 und 1756 erschien das Werk erneut in dieser von einem männlichen Gelehrten mittels und für seinesgleichen vorgenommenen deautorisierenden Perspektivierung. Die paratextualisierte Edition liegt auch den Nachdrucken von 1976 bzw. 1980 und 2000 zugrunde; die 2005 von Lynne Tatlock vorgelegte Übersetzung ins Amerikanische basiert indes auf dem ursprünglichen Text. Rechnet man mit einer durchschnittlichen Auflagenhöhe von 800 Exemplaren und nimmt man der Einfachheit halber an, diese seien vollständig abgesetzt worden, könnte der Traktat in einem guten halben Jahrhundert etwa 7000 Käufer(innen) gefunden haben. Die Zahl der realen Rezipient(inn)en lag aufgrund der Zirkulation der Bücher und wegen des Brauchs, dieselben vorzulesen, selbstverständlich wesentlich höher.

Justina Siegemunds Werk hat also weit über die Lebenszeit der Verfasserin, die mit 68 Jahren am 10. November 1705 verstarb, hinaus gewirkt. Es gilt als das bedeutendste der im 17. Jahrhundert  in deutscher Sprache abgefassten geburtshilflichen Lehrbücher und hat übrigens auch andere Hebammen wie Anna Elisabeth Horenburg und Barbara Widenmann – mitgearbeitet hat in letzterem Fall der Ehemann, ein Chirurg – zur Veröffentlichung ähnlicher Traktate (1700 bzw. 1735 und 21738) angeregt, die deutlich vom Lehrbuch der Hofwehemutter abhängig sind.

Entgegen den über Jahrhunderte hinweg wiederholten Vorwürfen ist das Anleitungsbuch durchaus nach systematischen Gesichtpunkten gegliedert, aber eben mittels autobiographischer Einschübe immer wieder an die Materialität und Erfahrung der Autorin rückgebunden: wissen und fühlen tauchen im Text als Synonymendoppelung auf. Die moderne Geburtshilfe verdankt diesem Lehrbuch, das eng an die unter Geburtshilfe leistenden Frauen praktizierte Wissensweitergabe angelehnt ist, nicht wenig. Ihre frühesten und berühmtesten Vertreter haben daraus geschöpft, ohne davon in angemessener Weise Rechenschaft abzulegen. So hat etwa Lorenz Heister (1683–1758), der als Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland gilt, in seinem einschlägigen, mehrfach neu überarbeiteten und immer wieder aufgelegten Lehrbuch Abbildungen aus der niederländischen Ausgabe von Justina Siegemunds Werk übernommen. Er unterschlägt dabei nicht nur die Herkunft der betreffenden Abbildungen, sondern reißt diese auch aus ihrer Tradition, verwandelt sie sich und seinem Berufsstand an und verschleiert auf diese Weise bewusst den historischen und sozialen Ursprung seiner Kenntnisse: In der Erläuterung einer der Übernahmen aus dem Anleitungsbuch wird die Wendung eines Kindes in Querlage eben nicht – wie bei Justina Siegemund selbstverständlich – durch die Hand einer Hebamme vorgenommen, sondern „cum manu chirurgi“. Nach solch läuternder (Re-)Produktion steht der Reproduktion der Abbildungen in weiteren geburtshilflichen Lehrwerken des 18. Jahrhunderts nichts mehr entgegen. Der zur Entwicklung der modernen Geburtshilfe führende, unter anderem über Vermittlerfiguren wie die Hebamme Justina Siegemund laufende ‚Austauschprozess’ zwischen den praktisch-technischen Fertigkeiten Geburtshilfe leistender Frauen mit ihrem lebensweltlichen Wissen und den theoretischen Kenntnissen von Ärzten und Chirurgen war für die Hebammen mit vernichtenden Konsequenzen verbunden.

Reformatorische Impulse

Die Herkunft aus einem schlesischen Pfarrhaus hat Justina Siegemunds Lebensweg in mehrfacher Hinsicht geprägt. Im „Lebens-Lauff“ der Leichenpredigt wird ihr Erziehungsprogramm skizziert: Die Priorität religiöser wie moralischer Bildung und die Vorbereitung auf den Dienst am Gemeinwesen entsprechen den von Luther und im Luthertum hinsichtlich der Kindererziehung vertretenen Grundsätzen. Aufgrund des Glaubensgegensatzes zur habsburgischen Oberlandeshoheit war Justina Siegemunds Familie in der gemischtkonfessionellen Territorialstruktur Schlesiens von gegenreformatorischen Zwangsmaßnahmen betroffen. Der zähe Widerstand ihrer Umgebung gegenüber den Repressalien hat das protestantische Bewusstsein der Hebamme zweifellos geschärft. Die Bedeutung, die religiösen Werten im Werk Justina Siegemunds zukommt, manifestiert sich allenthalben: im Motto, dem vorangestellten Bibelspruch sowie in Teilen des Titelblatts und zahlreichen Passagen des eigentlichen Textes, nicht zuletzt in der Wahl des Namens Christina für die ideale Schülerin, welche die auf die Autorin verweisende Dialogfigur Justina um Belehrung bittet. Ein Versuch, hier orthodox lutherisches Gedankengut von möglichen reformierten Einflüssen abzugrenzen – die brandenburgischen Hohenzollern waren 1613 zum Kalvinismus übergetreten, ihr Bekenntniswechsel hatte unter den schlesischen Fürsten Schule gemacht –, liefe Gefahr, der historischen Realität Gewalt anzutun.

Nicht nur vor dem hier skizzierten Hintergrund waren Justina Siegemunds Werdegang und Selbstverständnis – in durchaus konfliktreicher Weise – vom Protestantismus als einem umfassenden kulturellen System geprägt. Durch die Reformation mit ihrer Aufwertung des weltlichen und alltäglichen Lebens war die Ehe zum ranghöchsten Stand für die Frau geworden, als Reproduktionsinstanz geradezu zum Pflichtprogramm: Bei Luther, in den Predigten über den christlichen Hausstand wie in der Hausväterliteratur besteht Einigkeit darüber, dass die Frau ihren Dienst am Gemeinwesen im ‚Beruf’ der Hausmutter, also im Rahmen einer vom Ehemann geleiteten Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft, abzuleisten habe, was Justina Siegemunds Einführung in diese – von Gott gestellte – Aufgabe erklärt. Auf der Verpflichtung der Frau zur Mutterschaft wird mit sehr repressivem Unterton beharrt. So äußert sich Luther in seinem Sermon Vom ehelichen Leben (1522) abfällig über die „unfruchtbar weyber“ und lobt die fruchtbaren: „Ob sie sich aber auch müde und tzu letzt todt tragen, das schadt nicht, laß nur tod tragen, sie sind drumb da“ (WA 10 II, S. 301). Nicht verwunderlich also, wenn Justina Siegemund angesichts solcher Wertmaßstäbe ihrem beruflichen Werdegang beharrlich den Anschein göttlicher ‚Schickung’ zu verleihen und sich auf diese Weise in der einzigen vom Luthertum akzeptierten Kategorie von Nichtmüttern zu platzieren sucht: Hebammendienst, Mädchenunterricht sowie Armen- und Krankenpflege waren, wie sich den evangelischen Kirchenordnungen entnehmen lässt, die einzigen außerhäuslichen Tätigkeiten, welche die Reformatoren den Frauen zugestanden. Unter entsprechendem Rechtfertigungsdruck geht die Hebamme sogar noch weiter und bedient sich einer spezifischen Metaphorik; in der rhetorischen Formulierung ihres Selbstverständnisses wird das von ihr veröffentlichte Werk zum Äquivalent für ein Kind: „Solchergestalt ist dieses Buch / das lange / wie in einer Geburt gestecket / ans Liecht gekommen / und sol / weil ich keine Kinder zur Welt gebohren / das seyn / was ich der Welt hinterlasse“ (J. S.: Hoff-Wehe-Mutter, Cölln an der Spree 1690, Bl. ):(  ):(  ):( 1r).

Im Personalteil der Leichenpredigt wird diese Verschiebung ‚komplettiert’: mit einem Epigramm aus sechs elegischen Distichen über die Verstorbene als Autor vitae.

Kommentar

In einer beispielhaft kühnen Wendung machte Justina Siegemund das Handikap der Unfruchtbarkeit zum Hebel, indem sie ihre ‚Berufsverfehlung’ in die größtmögliche Nähe zu einer Geburt rückte und so Mutterschaft noch in ihrem Fehlen als Wert bestätigte – und zugleich für bedingt verzichtbar erklärte. Darüber hinaus bestritt sie, die ja außerhalb der Reziprozitätsbeziehung zwischen gebärenden und Geburtshilfe leistenden Frauen stand, allerdings nicht nur explizit, dass Gebärerfahrung allein schon klug mache, sondern wies auch noch darauf hin, dass die Erfahrung am eigenen Leib geradezu hinderlich sei, indem sie verzerrend wirken könne und eine objektive Wahrnehmung verstelle. Diese hochambivalente Annäherung an den von Ärzten und Chirurgen vertretenen, sich in der Moderne durchsetzenden Wissenstyp, der durch Distanz zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt, durch die Trennung von Wissen und persönlicher Erfahrung, gekennzeichnet ist, brachte ihr „blinde Feindschafft“ (J. S.: Hoff-Wehe-Mutter, Cölln an der Spree 1690, Bl. ):(  ):(  ):(   ):( 1r) von Kolleginnen ein. Deren Abqualifizierung, gepaart mit der Selbststilisierung als Einzelgängerin, durchzieht das gesamte Werk von Justina Siegemund.

Es gibt jedoch mehr als einen Hinweis darauf, dass auch die Hofhebamme die Quellen des eigenen Wissens lediglich partiell offen legt. Ein entsprechender Verdacht konnte sich bereits angesichts ihrer Betonung des Lernens aus – nicht näher bezeichneten – Büchern aufdrängen. Geflissentlich verschwiegen wird das Üben an Tieren, eine Praxis, die sich nur den Verhörsprotokollen aus dem Prozess mit Kerger entnehmen lässt. Spätestens seit damals wusste Justina Siegemund, dass das Lernen „beym Viehe“ nicht comme il faut war, jedenfalls nicht nach Ansicht der Gelehrten. Vor diesem Hintergrund wird im Anleitungsbuch dann steril-unverfängliches, dafür aber desto nobleres Buchwissen vorgeschützt. Wenn die Autorin gelegentlich betont, auch von Ärzten gelernt zu haben, so verfolgt sie damit wohl eine ähnliche Strategie. Auffällig bleibt, dass sie ein Lernen von anderen Hebammen nirgends erwähnt, sich als Hebamme nicht in eine weibliche Traditionslinie stellt.

Die große Mehrheit der Hebammen vergangener Jahrhunderte hat keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Was die Justina Siegemund zugeschriebenen ‚Erfindungen’ und die – in stark gegenderter Umgebung – damit verbundene Definition als ‚Ausnahmehebamme’ angeht, so war die Hofwehemutter nicht unbedingt die erste, die ‚Neues’ beschrieb. Sie tat es jedoch in einleuchtenderer, detaillierterer und durch Abbildungen veranschaulichter Form wie auch in sinnvollerem Zusammenhang als ein Arzt und/oder Chirurg, der den einschlägigen Handgriff selten oder nie ausgeführt hat. Ärzte, Chirurgen wie auch die Hofhebamme schöpften damals aus denselben Quellen, den anonymen beziehungsweise als anonym betrachteten, nirgends schriftlich fixierten Kenntnissen Geburtshilfe leistender Frauen, die dann je nach dem eigenen theoretischen und praktischen Hintergrund in unterschiedlicher Weise aufbereitet wurden. Untereinander rivalisierend vermittelten sie so zwischen der Kultur der Geburtshilfe leistenden Frauen und der Kultur der Ärzte und Chirurgen. Die Kenntnisse der Hofhebamme beruhten insofern weit mehr als sie den Anschein erweckt auf dem praxisorientierten geburtshilflichen Überlieferungswissen, das unter Frauen zirkulierte. Wenn Justina Siegemund diesem Wissen und dem Potential der Frauen in ihrem Werk keinerlei Wert beigemessen hat, wenn sich auch bei ihr die von Ärzten und Chirurgen stereotyp wiederholte Diskreditierung der Hebammen findet, so handelt sie ganz ähnlich wie ‚emanzipierte’ Frauen heute, die es den Männern gleichtun wollen. Justina Siegemunds Leistung gerät in dieser kritischen Perspektive nicht aus dem Blick, im Gegenteil: Erst durch die Wahr-Nehmung des lebensweltlichen Wissens ihrer aus der Wissenschaftsgeschichte verdrängten Kolleginnen kann die Rolle der Hofhebamme als einer prominenten intermediären Akteurin im komplexen Entstehungsprozess der modernen Geburtshilfe angemessen gewürdigt werden.

Postskriptum. Apropos Komplexität und Emanzipation: 2014 hat Justina Siegemund im Rahmen des Projekts FrauenOrte im Land Brandenburg eine Gedenktafel am Eingang ins Hauptgebäude der Universität Frankfurt an der Oder erhalten. Der einschlägige Text verfehlt sie auf wenigen Zeilen vielfach: Falsch sind unter anderem die Daten ihres beruflichen Werdegangs und der Titel der ‚Erstausgabe’ ihres Werks; ebenso problematisch wie überflüssig erscheint die ihr übergestülpte retrospektive Diagnose („Scheinschwangerschaft“); gänzlich unzutreffend, ja irreleitend ist die inhaltliche Wiedergabe der angeführten Hebammenordnung. Statt am universitären Ort eine Neubewertung nichtwissenschaftlichen Wissens vorzunehmen, wird Justina Siegemund für die Wissenschaft vereinnahmt und durch dieses Anpassungs- und Verkleidungsmanöver bewusst oder unbewusst der herrschenden Logik unterworfen – seitens eines Komplexität und Kosten reduzierenden Staatsfeminismus, der die Ergebnisse von Frauen- und Geschlechterforschung nur so weit zur Kenntnis nimmt, als sie sich für die Forderung nach (paritätischer) weiblicher Inklusion in den männlichen Sozialpakt verwerten lassen. Differenz wird da allemal eingeebnet – Verantwortliche wie Beteiligte blieben meinen Protestschreiben gegenüber indifferent.

Die Gedenktafel für Justina Siegemund erzählt keine Geschichte gegen das Vergessen, sondern instrumentalisiert die Hebamme für die Gleichstellungspolitik; die vor diesem Hintergrund fabrizierte mainstream-story kommt einer damnatio memoriae nicht nur der Handwerkerin Justina Siegemund gleich, sondern auch der Ziele der Frauenbewegung – keineswegs identisch mit der Forderung nach Quoten.