Katharina Staritz

Die Freiheit eines Christenmenschen in der Bewährung
Die Freiheit eines Christenmenschen Martin H. Jung
Lebensdaten
von 1903 - bis 1953
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Copyright Konvent Evangelischer Theologinnen in Deutschland
Beziehungen

Katharina Staritz wurde am 25. Juli 1903 in Breslau geboren als älteste Tochter von Carl Staritz und seiner Ehefrau Margarete, geborene Ismer. Neben ihren Eltern waren für Staritz ihr Lehrer von Soden, ihr Studienfreund Klepper sowie ihre Kollegin Schwöbel prägend.

Der Vater von Katharina, Carl Staritz, war Naturwissenschaftler und unterrichtete am Breslauer Gymnasium. Interesse an religiösen Fragen wurde von der Mutter Margarete Staritz geweckt, denn sie war in der Herrnhuter Brüdergemeine erzogen worden, also von pietistischer Frömmigkeit geprägt. Früh wurde Staritz mit menschlichem Leid konfrontiert. Ihr Vater erblindete, musste seinen Beruf aufgeben und suchte Trost in Gesang und Musik. Er starb 1932. Seinen beiden Töchtern ermöglichte er eine höhere Schulbildung. 1922 machte Katharina Staritz in Breslau das Abitur. Sie liebäugelte mit einem Theologiestudium, doch ihre Eltern sprachen sich dagegen aus. So entschied sie sich, Lehrerin zu werden.

Staritz immatrikulierte sich 1922 an der Breslauer Universität für ein Philologie- d.h. Lehramtsstudium in den Fächern Deutsch, Geschichte und Religion. Im Studium begegnete ihr der Theologe Hans Freiherr von Soden, ein Patristiker, der seit 1918 in Breslau lehrte. Von ihm wurde sie entscheidend geprägt. Staritz verlegte sich immer mehr auf den Bereich der Theologie, lernte Hebräisch, später auch Griechisch und schrieb sich 1926 schließlich voll an der theologischen Fakultät ein. Von Breslau wechselte sie 1924 zunächst für ein Semester, 1928 dann dauerhaft nach Marburg, wohin von Soden 1924 berufen worden war. In Marburg absolvierte sie 1928 ihr Erstes Theologisches Examen und promovierte gleichzeitig bei von Soden über Augustins Schöpfungsglauben. Staritz war damit eine der ersten promovierten Theologinnen Deutschlands. Sie trug den – damals nach theologischen Promotionen üblichen – Titel des Lizentiaten (eine weibliche Form des Titels gab es nicht).

Einer ihrer Breslauer Kommilitonen war Jochen Klepper, der später als evangelischer Liederdichter bekannt und beliebt wurde. Klepper studierte Theologie, wurde aber nicht Pfarrer, sondern ging zum Rundfunk. Sein weiterer Lebensweg wurde dadurch bestimmt, dass er im Jahre 1931 eine jüdische Frau, Hanna Stein geb. Gerstel, heiratete. Schon 1933 verlor Klepper deswegen seinen Beruf beim Rundfunk. Hinfort betätigte er sich als freier Schriftsteller. Seine Frau und deren Tochter Renate konvertierten 1938 zur evangelischen Kirche. Die Familie Klepper wähnte sich in Sicherheit und dachte nicht daran, Deutschland den Rücken zu kehren; nur die ältere Stieftochter, Brigitte Stein, verließ Deutschland im Mai 1939 und ging nach England. Als 1942 die Lebensbedingungen immer unerträglicher wurden, wollte Jochen Klepper wenigstens Renate noch in Sicherheit bringen. Doch es gestaltete sich schwierig, ein Land zu finden, das die Bedrohte aufnehmen wollte. Die Schweiz weigerte sich. Klepper sondierte in Schweden. Dort fand man sich schließlich bereit, die Tochter aufzunehmen. Doch nun weigerte sich der deutsche Staat, eine Ausreisegenehmigung zu erteilen. Die Familie Klepper wusste, was geschehen würde. Sie wusste, dass die anstehende Deportation der Frau und der Tochter in den Osten den Tod bedeuten würde. In ihrer auswegslosen Situation entschlossen sich Jochen Klepper, Hanni Klepper und Renate Stein – wie viele andere Juden und Judenchristen – zur gemeinsamen Selbsttötung. Am 11. Dezember 1942 endete in Berlin-Nikolassee ihr Leben.

1952 betreute Staritz eine Lehrvikarin, Gerlind Schwöbel. Sie war es, die 1990 Staritz dem Vergessen entriss und bewirkte, dass heute jeder Staritz kennt, der sich tiefer mit dem Thema Nationalsozialismus und Kirchen befasst. Im Jahre 1990 verfasste Schwöbel ein kleines Buch über Staritz. Angestoßen worden war diese Veröffentlichung durch die Frauendekade des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahre 1988, in deren Rahmen in der Frankfurter St. Katharinenkirche Staritz’ gedacht worden war, am 3. April 1988, an ihrem 35. Todestag. Das Buch unter dem vielsagenden Titel „Ich aber vertraue“ erschien an entlegener Stelle, herausgegeben vom Evangelischen Regionalverband Frankfurt am Main. Doch das Buch wurde zu einem Erfolg. Bereits 1992 konnte eine zweite, erweiterte Auflage erscheinen. Katharina Staritz war wieder entdeckt und wurde populär. Als Frucht dieser Wiederentdeckung erschien 1999 ein erster Band mit Dokumenten aus dem Leben von Staritz, die bis in das Jahr 1942 reichen. Im Jahre 2004 wurde Staritz erstmals in einem Lexikon berücksichtigt, in der vierten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“.

Wirkungsbereich

Staritz begann 1930 in der schlesischen Kirche mit dem Vikariat. 1932 bestand sie das Zweite Theologische Examen. Vom Kreissynodalverband Breslau-Stadt erhielt sie anschließend, am 1. Juli 1933, eine auf Dauer gedachte Anstellung. Mit Vikarinnen wurden damals Privatdienstverträge abgeschlossen. Frauen, die in dieser Weise in und für die Kirche Dienst tun wollten, mussten aber unverheiratet bleiben. 1938 wurde Staritz verbeamtet und ordiniert und erhielt den Titel „Stadtvikarin“.

1938 war auch das Jahr des Novemberpogroms: Am 9. November brannten die Synagogen. Am Tag darauf hielt Staritz in Breslau vor der örtlichen Pfarrerschaft ein Referat, in dem sie auf die Notlage der evangelischen Christen jüdischer Abstammung hinwies. Anschließend beschloss die Versammlung, die Kirchenleitung um „Hilfe“ zu bitten.

Staritz selbst begann Ende 1938 in Breslau – in Zusammenarbeit mit Propst Grüber in Berlin und seinem „Büro Grüber“ – mit einer Beratungsarbeit für Christen jüdischer Abstammung, wobei es um materielle und rechtliche Hilfen insbesondere bei der Vorbereitung einer Auswanderung ging.

Staritz nahm 1938 auch wieder, zunächst brieflich, Kontakt zu Jochen Klepper auf und freundete sich mit seiner Familie an, die in Berlin lebte. Sie berichtete ihnen Neuigkeiten aus Breslau und suchte sie in ihrer schwierigen Lage zu trösten. Mindestens siebenmal stattete sie zwischen 1939 und 1941 Kleppers einen Besuch ab.

In Breslau bemühte sich Staritz auch um den jüdischen Kinderarzt Walter Freund und seine Familie, mit der sie schon seit 1930/31 in Verbindung stand. 1940 wurde das jüdische Ehepaar, das kurz zuvor nach Freiburg im Breisgau gezogen war, nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Die beiden Kinder, von denen eines getauft war, hatten sich rechtzeitig in der Schweiz in Sicherheit gebracht.

Nachdem der Staat im September 1941 allen Juden und von Juden Abstammenden das Tragen eines gelben Sterns vorgeschrieben hatte, verfasste und verbreitete Staritz einen Appell an die evangelischen Christen Breslaus, Mitchristen, die nunmehr den Stern tragen mussten und sich nicht mehr in die Kirche trauten, vor den Gottesdiensten zu Hause abzuholen, mit ihnen in die Kirche zu gehen und sich in der Kirche demonstrativ neben sie zu setzen.

Wegen dieses projüdischen Engagements wurde Staritz im März 1942 verhaftet und kam nach verschiedenen Zwischenstationen in das mecklenburgische Konzentrationslager Ravensbrück. Als Gefangene kümmerte sie sich seelsorgerlich um ihre – überwiegend nicht christlichen – Mitgefangenen und konnte sogar in den Wärtern trotz allem den Menschen sehen. Im Mai 1943 wurde Staritz, unter Auflagen, wieder entlassen. Sie ging nach Marburg, und blieb auch nach der Befreiung Deutschlands 1945 in Hessen.

Staritz nahm in Kurhessen zunächst verschiedene Vertretungsaufgaben in verschiedenen Gemeinden wahr, aber immer dann, wenn der frühere Amtsinhaber aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, musste sie weichen. Sie arbeitete zunächst in Trusen bei Schmalkalden, dann in Sebberterode bei Ziegenhain und schließlich in Albertshausen bei Bad Wildungen. Sie leistete dort den vollen pfarramtlichen Dienst, wozu die Seelsorge ebenso gehörte wie der Unterricht, die Predigttätigkeit und die Sakramentenverwaltung. 1949 wurde sie von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, deren Kirchenpräsident damals Martin Niemöller war, der selbst acht Jahre im Konzentrationslager verbracht hatte, übernommen, verbeamtet und mit der Frauenarbeit in Frankfurt am Main beauftragt. Staritz durfte Predigtgottesdienste halten und Sakramente spenden. In erster Linie war sie aber wieder als Seelsorgerin tätig. Sie arbeitete mit Kindern in der St. Katharinengemeinde, sie bemühte sich um die Frauen in der Haftanstalt Preungesheim, sie engagierte sich im kirchlichen Besuchsdienst, begleitete Gruppen der Frauenhilfe und Mütterkreise und betreute eine Lehrvikarin. Und das alles unter schwierigsten Umständen in einer durch den Krieg zerstörten Großstadt und unter der weiterhin geltenden Verpflichtung zur Ehelosigkeit. Eine Pfarrerin, die geheiratet hätte, hätte ihren Beruf aufgeben müssen. So wollte es die Kirche.

Im Winter 1951/52, nur ein gutes Jahr nach ihrer offiziellen Amtseinführung, erkrankte Staritz an Krebs. Nach mehreren Operationen und einer schrecklichen Leidenszeit, in der sie von Freundinnen getröstet wurde, aber auch selbst vielen noch Trost spenden und Zuversicht vermitteln konnte, und einer letzten Predigt am 4. Januar 1953 gegen das „Fassadenchristentum“ starb Staritz am Karfreitag, dem 3. April 1953 in Frankfurt. Am 8. April wurde sie beerdigt. Die Grabrede hielt Pfarrer Fresenius über Röm 8,38f. In der kirchlichen Presse erschien ein größerer Artikel, der sie angemessen würdigte. Wenig später wurden erstmals ihre Berichte aus der Zeit ihrer Gefangenschaft veröffentlicht, fanden aber nur wenig Beachtung. Die „Berichte und Verse aus der Gefangenschaft“ erschienen 1953 in Münster/Westfalen und wurden von der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland herausgegeben. Direkt auf die Haftzeit Staritz’ zurück gehen mehrere eindrucksvolle Gedichte. Sie waren schon in der NS-Zeit handschriftlich verbreitet worden. Die Berichte über ihre Erlebnisse schrieb sie nach 1945. Besonders hervorhebenswert ist die Schilderung einer Christusvision im Konzentrationslager, die Staritz gewiss werden ließ: Christus ist auch im Lager gegenwärtig. Nur wenige Bibliotheken Deutschlands besitzen ein Exemplar dieses bemerkenswerten Buches. Ein Nachdruck wäre zu wünschen.

Reformatorische Impulse

In dreierlei Hinsicht verkörperte Staritz reformatorisches Christentum: indem sie als Frau in das Pfarramt strebte, indem sie sich als Christin für Juden und Judenchristen engagierte, indem sie sich als Gefangene unter Gefangenen und als Verfolgte unter Verfolgten als Seelsorgerin engagierte und dabei die von Luther gepriesene „Freiheit eines Christenmenschen“ bewährte.

Dass im Prinzip auch Frauen befugt sind zu predigen und die Sakramente zu verwalten, hatte Luther erkannt und in den frühen zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts auch mehrfach in Schriften vertreten und begründet. Das Pfarramt für Frauen war in der reformatorischen Idee angelegt, wurde seinerzeit aber nicht verwirklicht. Entscheidend war, dass Luther aber nicht mehr wie die mittelalterliche Kirche und wie die römisch-katholische Kirche noch heute grundsätzlich, biblisch-theologisch gegen den weiblichen Pfarrdienst argumentierte, sondern nur biologisch, indem er – mit Aristoteles – behauptete, Frauen seien zu höherer Bildung nicht fähig. Nachdem dieses Argument im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts hinfällig geworden war, gab es eigentlich keinen Grund mehr, Frauen vom Pfarramt fernzuhalten. Indem Staritz in den Pfarrdienst strebte, trug sie in ihrer Zeit zur späten Verwirklichung eines Kerngedankens der Reformation bei.

Auch die Solidarität mit den Juden und erst recht mit den Judenchristen war in der Reformation angelegt und hatte auch Luther geteilt, als er 1523 daran erinnerte, dass Jesus selbst Jude gewesen sei und deshalb die Christen mit den Juden „freundlich“ umgehen sollten. Luther blieb jedoch dem, was er 1523 erkannt hatte, selbst nicht treu, ja machte eine Kehrtwende und schrieb in seinen letzten Lebensjahren hasserfüllte antijüdische Schriften. Mit ihrem Eintreten für die Juden folgte Staritz den Spuren des jungen Reformators und nahm, gut biblisch-reformatorisch, ernst, was der Apostel Paulus, der wichtigste Gewährsmann evangelisch-theologischen Denkens, in seinem Brief an die Römer (Kap. 9-11) über die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk und dessen vollzählige Rettung geschrieben hatte.

In ihrem seelsorgerlichen Engagement unter den Gefangenen des Konzentrationslagers Ravensbrück sowie für die Familie Klepper verkörperte Staritz reformatorisches Christentum in seiner besten Form und wurde, wie es Luther in seiner „Freiheitsschrift“ 1520 einmal so schön formuliert hatte, ihren Nächsten selbst zu einem Christus, zu einer erfahrbaren Neuverkörperung Jesu Christi. Sie zeigte, dass sich die Freiheit eines Christenmenschen auch und gerade hinter Gefängnismauern bewährt, weil sie, wie Luther in seiner Freiheitsschrift gelehrt hatte, im inneren Menschen verankert ist und deshalb durch nichts Äußerliches geraubt werden kann.

Kommentar

Staritz war eine Frau, die die Reformation in zweierlei Weise besser verstanden hatte als die Reformation sich selbst: indem sie allen Widerständen und Widrigkeiten zum Trotz als Frau energisch das Pfarramt anstrebte und erreichte und indem sie entgegen der kirchlichen Tradition und entgegen dem nationalsozialistischen Zeitgeist mutig und öffentlich für Juden und Judenchristen eintrat.

Gleichwohl war sie eine ganz normale Frau, ein ganz normaler Mensch, ohne herausragende Begabungen oder Fähigkeiten, ein Mensch wie Du und Ich – aber gerade dadurch wird sie zum Vorbild für dich und mich. „Machen Sie aus Käte keine Heldin und keine Feministin“, hat Charlotte Staritz, ihre erst 1993 verstorbene jüngere Schwester, gesagt, als die Publikationspläne Schwöbels und anderer erstmals bekannt wurden und sie um Berichte und Dokumente ersucht wurde. In der Tat: Staritz war keine Heldin und sie war keine Feministin. Sie war eine engagierte Christin, eine gebildete Theologin und eine vorbildliche Seelsorgerin. Sie zeigte, dass in der Seelsorge Worte und Taten zusammengehören wie nach Bonhoeffer „das Beten und Tun des Gerechten“ und dass Seelsorgerinnen und Seelsorger auch an Menschen gewiesen sind, die der Kirche und dem Christentum fern stehen.

Eine frühe Bewertung von Staritz’ Engagement stammt von einem Betroffenen, von Jochen Klepper. Im November 1941 vermerkte er anerkennend in seinem Tagebuch, Staritz habe das getan, was er bei anderen Pastoren vermisst habe.

Das Beispiel Katharina Staritz zeigt, was ein einzelner Christenmensch, selbst unter schwierigsten Umständen tun und bewirken kann, wenn er sich, mit Luther, als „freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“ und zugleich als „dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ begreift. Was tun wir heute, und welche Risiken sind wir heute bereit auf uns zu nehmen? Vielleicht möchte uns Katharina Staritz sechzig Jahre nach ihrem Tod genau dies fragen.