Leonore Siegele-Wenschkewitz

Die Täter im Blick
Die Täter im Blick Britta Jüngst
Lebensdaten
von 1944 - bis 1999
Unter weiteren Namen bekannt als:
Leonore Wenschkewitz
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Copyright privat
Beziehungen

„Ich fühle mich wirklich als Migrantin.“ Leonore Maria Anita Wenschkewitz stammt aus einer baltischen Pfarrfamilie. Beide Eltern, Anita Michelsson und Hans Wenschkewitz, wurden in Riga geboren, ebenso wie Leonores ältere Geschwister Otto, Heinz und die Zwillinge Klaus und Anneliese. Der Vater war Pfarrer in Riga und lehrte Neues Testament am Herder-Institut. Auf Grund des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 wurde die Familie aus Lettland umgesiedelt ins Deutsche Reich und kam nach Belgard in Pommern. Dort wurde am 27. Juni 1944 Leonore geboren.

Im Frühjahr 1943 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen und geriet in Rimini in Gefangenschaft. Die Mutter versuchte im März 1945 mit ihren fünf Kindern zu fliehen, musste jedoch wieder nach Belgard zurückkehren. Ende 1945 wurden sie schließlich ausgewiesen, gelangten über Berlin nach Hannover und trafen im nahe gelegenen Dorf Großgoltern den Vater wieder, der dort eine Pfarrstelle übernehmen konnte. Die Familie war sich des Verlustes des baltischen Lebens- und Kulturzusammenhangs sehr bewusst. Und auch Leonore empfand sich als baltische Migrantin, obwohl sie damals noch gar nicht auf der Welt war.

Leonore besuchte die Volksschule in Großgoltern und später in Osnabrück, wo der Vater eine Pfarrstelle bekam. Dort ging sie zur Städtischen Oberschule für Mädchen und wechselte, als der Vater Rektor des Pastoralkollegs der hannoverschen Landeskirche in Loccum wurde, an das Gymnasium für Mädchen in Nienburg/Weser. Im Februar 1963 bestand sie das Abitur. In Loccum nahm sie am Leben von Akademie und Kloster teil, fand auf Tagungen wie auch im Familien- und Freundeskreis zahlreiche interessante GesprächspartnerInnen. Ein weltoffenes Christentum mit politischen, literarischen, theologischen Diskussionen gehörte schon früh zu ihrem Alltag.

 Leonores Mutter Anita starb, als sie sieben Jahre alt war. Die zweite Frau des Vaters Eta, geb. von Otte, hatte sich als junges Mädchen im Bund Deutscher Mädel (BDM) engagiert. In der Familie wurde darum ausgiebig diskutiert, warum sich Menschen, besonders Frauen, überhaupt für den Nationalsozialismus begeistert hatten. Leonore las das Tagebuch der Anne Frank und beschäftigte sich mit Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Beide Bücher hatte ein Bruder ihr geschenkt. Ihr Geschichtslehrer Hans Grewe war Mitglied der Deutschen Friedens-Union (DFU) und bestärkte Leonore in ihrem Interesse. 

Nach dem Abitur schrieb sich Leonore in Göttingen für die Fächer Musikwissenschaft und Latein ein und studierte ab dem zweiten Semester zusätzlich evangelische Theologie. Nach ihrem Wechsel nach Tübingen konzentrierte sie ihr Studium auf die Theologie. Als sie prägende Lehrer nennt sie den Kirchenhistoriker Hanns Rückert, den Systematiker Gerhard Ebeling und den Neutestamentler Ernst Käsemann. Nach dem gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg am 1. Juni 1966 schloss sich Leonore Wenschkewitz dem Arbeitskreis „Braune Universität“ an. „Wir begannen danach zu fragen, wer denn die Professoren waren, die den Nationalsozialismus unterstützt hatten. Warum hatten sie sich ihm angeschlossen, und was war nach 1945 aus ihnen geworden?“ (Schneider-Ludorff/Rascher: 130). Diese Frageperspektive sollte Leonore ihr Leben lang beschäftigen.

1969 wurde Leonore wissenschaftliche Hilfskraft bei dem Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder und unterstützte ihn bei der Erschließung und Verzeichnung der Aktenbestände, die er und in erheblichem Umfang auch sie für sein Werk „Die Kirchen und das Dritte Reich“ gesammelt hatten. Mit ihrer Dissertation „Nationalsozialismus und Kirchen. Religionspolitik und Staat bis 1935“ promovierte sie im Sommer 1972 zur Doktorin der Theologie. Im Juli 1971 hatte sie Ulrich Siegele, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Tübingen, geheiratet.

Ihr kritischer Blick auf die Haltung der Tübinger Fakultät und ihrer Angehörigen im Dritten Reich stieß dort auf Abwehr. So wurde ihr geplantes Habilitationsprojekt über die Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen von der Berufung Adolf Schlatters 1898 bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft abgelehnt und ihr Vertrag nicht verlängert.

Die württembergische Kirche bot ihr die Möglichkeit, ihr Erstes Theologisches Examen nachzuholen und als Repetentin am Evangelischen Stift in Tübingen zu arbeiten. Mit dieser neuen Aufgabe erweiterte sich ihr Forschungsinteresse auf die Geschichte des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum und auf die Reformationsgeschichte. Elisabeth Moltmann-Wendel sowie feministische Literatur aus der zweiten Frauenbewegung und den USA regten sie an, sich mit Feministischer Theologie zu beschäftigen.

Elisabeth Moltmann-Wendel machte sie ebenfalls aufmerksam darauf, dass die Evangelische Akademie Arnoldshain eine Studienleiterin suche, denn Frauen der Kirche hatten sich dafür eingesetzt, dass erstmals nach 40 Jahren eine Frau in die Akademie berufen werden sollte. So trat Leonore Siegele-Wenschkewitz am 1. April 1983 ihren Dienst in Arnoldshain an und wurde ein Jahr später zur Pfarrerin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ordiniert. Besonders die Frauenarbeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau war daran interessiert, eng mit ihr zusammen zu arbeiten. Die Frauen hätten, so erzählt Leonore, die frischgebackene Studienleiterin aus der Universität auf einen partizipatorischen und kommunikativen Stil verpflichtet und mit ihr alle Bereiche der feministischen Theologie durchgearbeitet.

Die Akademiearbeit bot ihr die Möglichkeit, ihre drei bis dahin noch unterschiedlich stark entwickelten Themenschwerpunkte weiter zu verfolgen und auszubauen: die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kirchen und Theologischen Fakultäten in der Zeit des Nationalsozialismus, den Dialog zwischen Christentum und Judentum und die Feministische Theologie.

Leonore Siegele-Wenschkewitz war auch kirchenpolitisch stark engagiert und arbeitete in zahlreichen Gremien mit. So war sie seit 1977 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“. Zwischen 1980 und 1997 gehörte sie der EKD-Studienkommission „Kirche und Judentum“ an, seit 1985 auch der „Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“, deren 2. Vorsitzende sie 1988 wurde und schließlich 1998 geschäftsführende Vorsitzende. Sie gehörte zum Vorbereitungsausschuss der EKD-Synode zur „Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“, die 1989 in Bad Krozingen tagte, und wurde 1992 Vorsitzende der EKD-Kommission „Förderung Theologischer Frauenforschung“. Sie war Gründungsmitglied der Europäischen Gesellschaft für die Theologische Forschung von Frauen. Der Verein zur Förderung Feministischer Theologie in Forschung und Lehre e.V. vergibt in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Akademie Arnoldshain alle zwei Jahre den „Leonore-Siegele-Wenschkewitz-Preis“ für Arbeiten, die in besonderer Weise die Feministische Theologie oder die Gender Studies in der Theologie vorantreiben.

Im Mai 1990 habilitierte Leonore Siegele-Wenschkewitz sich am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt für das Fach Historische Theologie mit ihren Arbeiten zur protestantischen Universitätstheologie im 20. Jahrhundert. 1994 wurde sie zur stellvertretenden Direktorin und im Juli 1996 zur Direktorin der Evangelischen Akademie Arnoldshain gewählt, 1997 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin an der Frankfurter Universität ernannt. Am 24. Oktober 1999, wenige Wochen vor ihrem Tod, erhielt sie den Edith-Stein-Preis in Göttingen. Sie starb am 17. Dezember 1999 in Frankfurt a.M.

Wirkungsbereich

Christliche Theologie und Kirche in der NS-Zeit

„Von ihr gelernt habe ich, dass wir uns in unserer christlichen Theologie dem judenfeindlichen Erbe zu stellen haben. Wir können es nicht einfach übergehen, nur weil es so unbequem ist.“ So erinnert sich Dr. Evelina Volkmann, die bereits als Studentin von Leonore Siegele-Wenschkewitz gestaltete Tagungen besuchte. Die Geschichte der Kirchen und theologischen Fakultäten zur Zeit des Nationalsozialismus interessierte Leonore Siegele-Wenschkewitz von Beginn ihres Studiums an und wurde durch die Zusammenarbeit mit Prof. Klaus Scholder vertieft.

Bis 1979 erarbeitete sie insgesamt vier Studien zur nationalsozialistischen Religionspolitik zwischen dem Parteiprogramm 1920 und dem Ende der NS-Zeit 1945. „Früher hatte ich gedacht, daß die Deutschen Christen antijüdisch waren und die Bekennende Kirche projüdisch. Unter dem Gesichtspunkt, wie sich die Haltung der bekennenden Kirche gegenüber den Juden artikulierte, hatte ich viele Texte gelesen und war entsetzt, wie durch und durch antijüdisch alle Bereiche der Kirche waren“ (Schneider-Ludorff/Rascher: 132). Leonore Siegele-Wenschkewitz brach ein Tabu und zahlte dafür einen hohen Preis. Die Tübinger Fakultät hatte sie 1976 beauftragt, für das 500-jährige Jubiläum einen Beitrag zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Dritten Reich zu schreiben. Ihre Beiträge über Karl Fezer, Professor für Praktische Theologie und erster unter den Nationalsozialisten gewählter Rektor, und den Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel zeigten deutlich die Verquickung der Fakultät und sie tragender Persönlichkeiten mit Ideologie und Struktur der Nazis. Die Fakultät reagierte mit Abwehr und fasste den Beschluss, dass Dissertation und Habilitation sich nicht mit demselben Jahrhundert beschäftigen dürften. So musste sie ihr Habilitationsvorhaben aufgeben.

„Es ist zwar wichtig, dass Leute Widerstand geleistet haben, aber es war für mich während meiner Studienzeit die Frage viel wichtiger, warum man sich anpasst. Das hängt damit zusammen, dass ich selbst ein politischer Mensch bin und auch meine Art, Theologie zu treiben, so auffasse, dass ich denke: Die Theologie muss sich fragen – wenn wir der Ansicht sind, dass es eine Weltverantwortung des Christentums gibt –, wie wir diese wahrnehmen können, ohne jeder menschenverachtenden Ideologie um den Hals zu fallen. Genau das passierte ja. Die Öffnung für die Welt bei diesen Professoren, die sich dem Nationalsozialismus öffneten – bei ihnen wurde das Christentum meiner Meinung nach preisgegeben wegen der Dominanz menschenverachtender Ideologie“ (zitiert nach Schneider-Ludorff: 615). In ihrem Aufklärungswillen und ihrer Unbestechlichkeit war Leonore Siegele-Wenschkewitz ihrer Zeit weit voraus.

 

Dialog zwischen Judentum und Christentum

Seit den 70er Jahren beschäftigte sich Leonore mit der Geschichte und der Theologie des Judentums. 1979 bot sie ein Seminar an „Christentum und Judentum: Ausgewählte Abschnitte eines ungeklärten Verhältnisses“. In ihrer Studie über Gerhard Kittel – Kenner des Judentums und Nationalsozialist – stellte sie die Frage, ob Antijudaismus ein integraler Bestandteil des Christentums sei und ob eine christliche Theologie ohne Antijudaismus überhaupt möglich sei. Sie begann in der Folge einen lebendigen Austausch mit jüdischen Gelehrten und bezog das Gelernte sofort in ihr eigenes Denken ein. Gury Schneider-Ludorff fasst zusammen: „Ingesamt lässt sich das Forschungsinteresse von Leonore Siegele-Wenschkewitz dahingehend beschreiben, dass sie einerseits auf antijüdische und antisemitische Strukturen in der protestantischen Theologie aufmerksam machte und damit jahrhundertealte Stereotype dekonstruierte. Zum anderen aber versuchte sie, auch Perspektiven aufzuzeigen, die eine nicht antijudaistische theologische Interpretation in sich bargen und somit für den jüdisch-christlichen Dialog fruchtbar gemacht werden konnten“ (Schneider-Ludorff: 618).

 

Feministische Theologie

„Ich habe Leonore Siegele-Wenschkewitz kennen gelernt, als ich im Sommer 1986 in Magliaso beim Gründungstreffen der ESWTR auf einer Bank saß und Leonore auf mich zukam und sich vorstellte. Wir kamen schnell ins Gespräch über die damals zu brodeln beginnende feministische Antijudaismusdebatte, und sie erzählte, sie hätte da eine Tagung im Herbst vor mit Susannah Heschel als jüdisch-feministischer Referentin. Sie lud mich ein, meine Überlegungen zur feministischen Matriarchatsforschung auf dieser Tagung vorzustellen. Das tat ich mit einem sehr kritischen Referat zum Thema, das in ausgearbeiteter Form dann in dem Band erschien, den Leonore 1988 herausbrachte“ (Marie-Theres Wacker in einer Email an Britta Jüngst). Die Debatte um Antijudaismus in Feministischer Theologie begann Ende der 70er Jahre in den USA. 1986 wurde die Auseinandersetzung darüber auch in der Bundesrepublik öffentlich durch eine Rezension, die Katharina von Kellenbach zu Gerda Weilers Buch „Ich verwerfe im Lande die Kriege“ geschrieben hatte, und durch die Arnoldshainer Tagung „Feministische Theologie und jüdisch-christliches Gespräch“. Feministische Theologinnen hatten alte antijüdische Stereotype aufgenommen und im neuen feministischen Gewand aktualisiert.

Leonore Siegele-Wenschkewitz trug nicht nur dazu bei, dass dies öffentlich kritisiert und diskutiert wurde, bis schließlich die meisten christlich-feministischen Theologinnen in Deutschland ihre theologischen Ansätze selbstkritisch hinterfragten. Sie war es auch, die eine innere theologische Verbindung suchte und forderte zwischen christlich-feministischer Theologie und den Erkenntnissen aus jüdisch-christlichen Gesprächen. Denn sie verortete die christlich-feministische Theologie in der BRD im Kontext der deutschen Geschichte und damit in der Verantwortung für diese Geschichte. Sie folgerte: „die feministische Theologie muß in ihre Auseinandersetzung mit dem Sexismus die Auseinandersetzung mit dem Rassismus einbeziehen. Hier liegt der Ansatz christlicher feministischer Theologie in der Bundesrepublik, sich als „Theologie nach Auschwitz“ zu entwerfen, sich auf den Weg zu begeben zu einer Befreiungstheologie ohne Antijudaismus“ (Siegele-Wenschkewitz 1988: 53).

Leonore Siegele-Wenschkewitz hat diese Aufgabe als einen doppelten Paradigmenwechsel beschrieben: von einer androzentrischen, patriarchalen, sexistischen Theologie zu einer feministischen Theologie und von einer judenfeindlichen und das Judentum funktionalisierenden Theologie zu einer christlichen Theologie, die sich nicht mehr im Gegensatz zum Judentum beschreibt.

Zu ihren Tagungen lud Leonore jüdische Feministinnen aus den USA und Israel nach Arnoldshain ein. So kamen Susannah Heschel, Judith Plaskow, Eveline Goodman-Thau. Damit gab sie auch den damals wenigen feministisch interessierten Jüdinnen in Deutschland die Möglichkeit, mit ihnen zu diskutieren und jüdisch-feministische Ansätze kennen zu lernen.

Reformatorische Impulse

So, wie ich selber Leonore Siegele-Wenschkewitz kennen gelernt habe, hat sie – neben konzentrierter und präziser Forschungsarbeit – meist im Austausch mit anderen gedacht, geforscht, gearbeitet und Impulse weiter gegeben. Manchmal waren diese anderen ihr GesprächspartnerInnen in Papierform, sehr oft direkte, lebendige Kontakte hier und da mit sehr unterschiedlichen Menschen. Darum habe ich einige von ihnen gebeten, mir ihre Erinnerungen an Gespräche und Begegnungen zu schreiben. So ist, was Leonore Siegele-Wenschkewitz geleistet, gedacht, gelebt hat, lebendig im Gespräch.

 „Für ihre wichtigste Erkenntnis halte ich die Zusammengehörigkeit von christlich-jüdischem Dialog und feministischer Theologie. Mit einer Tagung hat sie zusammen mit einigen anderen Menschen erstmals diese beiden Diskurse im deutschsprachigen Raum zueinander geführt. Das war äußerst fruchtbar.“ (Dr. Evelina Volkmann, Evangelisches Bildungszentrum Württemberg)

„Dass Leonore Siegele-Wenschkewitz diese Debatte und diesen Paradigmenwechsel (leider fast nur in der feministischen Theologie) angestoßen hat, ist einer der wichtigsten reformatorischen Impulse, den wir ihr verdanken.“ (Antje Röckemann, Gender-Referentin des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen-Wattenscheid)

  „Von Leonore hab ich gelernt, wie man mit kontroversen Themen umgeht. Sie war leidenschaftlich und kampferprobt. Sie wusste, dass die Kombination von feministischer Theologie, kritischer Geschichtsanalyse und jüdisch-christlicher Theologie ihre Karriere behinderte. Und sie hat es trotzdem gemacht, weil es richtig und wichtig war. Ich habe ihre Integrität und Unbestechlichkeit sehr bewundert.“ (Prof. Dr. Katharina von Kellenbach, Religious Studies St. Mary’s College of Maryland, USA)

 „Nachdem 1994 die liberale und die feministische Richtung des Judentums auch Deutschland erreichte, war es in den jüdischen Gemeinden nicht möglich, diese Themen offen und kontrovers zu diskutieren. Zu sehr griffen sie noch in die Substanz des deutschen Nachkriegsjudentums ein. Diese Fragen konnten damals nur in einem Rahmen außerhalb der jüdischen Gemeinden besprochen werden.

In mehreren Tagungen hat Leonore Siegele-Wenschkewitz meinen Mitstreiterinnen und mir diesen Rahmen bzw. Raum und damit eine Stimme gegeben. So konnten wir von außerhalb in die damalige jüdische Gemeinschaft in Deutschland einwirken.

Heute, zwanzig Jahre später, sind die Lebensentwürfe jüdischer Frauen auch hierzulande vielfältig und kreativ. In den jüdischen Gemeinden tätige Rabbinerinnen und Kantorinnen sind ein selbstverständlicher Teil jüdischen Lebens in Deutschland geworden. Durch die Räume, die uns Leonore Siegele-Wenschkewitz seinerzeit geöffnet hat, hat sie zu dieser Selbstverständlichkeit mit beigetragen.

Mir persönlich hat sie vermittelt, wie auch für brisante Themen auf unkonventionelle Weise Denkräume geöffnet werden können, in denen dann, zunächst geschützt, Neues entstehen kann.“ (Dr. Susanna Keval MA, Kultur- und Sozialwissenschaftlerin, Gruppenanalytikerin, Frankfurt a.M.).

 „Für ihre wichtigste Erkenntnis halte ich, dass Ethik und Historiographie, dass also quellenbewusste Geschichtsschreibung – und Kirchengeschichtsschreibung – immer eine moralisch-ethische Dimension eröffnet. Ihr Werk ist reformatorisch, weil sie sowohl die Quellen ernst nahm als auch mutig zu neuen Thesen stand. Kirchliche Zeitgeschichte, theologische Frauenforschung und jüdisch-christlichen Dialog hat sie miteinander vernetzt.“ (Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow, Bielefeld).

„Aus ihren Veröffentlichungen habe ich gelernt, die Beziehung zwischen evangelischer Kirche und NS noch kritischer zu sehen, als ich das bei Marquardt gelernt hatte. Insbesondere ihre sehr kritische Sicht auf Luthers Judenfeindschaft halte ich nach wie vor für hochbedeutsam. Bis heute scheint die Evangelische Kirche nicht bereit, diese Perspektive zu übernehmen.“ (Prof. Dr. Andreas Pangritz, Universität Bonn)

 „Sie hat kompromisslos gegen die Verschleierung struktureller Gewalt in Gesellschaft, Staat und Kirche gekämpft. Für die evangelische Theologie und Kirche sind ihre Gedanken zum Verhältnis Staat-Kirche nach wie vor wichtig, weil sie der lutherischen Neigung zur Anlehnung an die Staatsgewalt mit ihren Forschungen widersprochen hat.“ (Prof. Dr. Marie-Theres Wacker, Universität Münster)

Kommentar

Leonore Siegele-Wenschkewitz hat die christliche Theologie in Deutschland in ihren historischen und politischen Kontext gerufen und gestellt, indem sie die Täterseite christlicher Theologie, ihrer Denker und Institutionen in der ihr eigenen Genauigkeit und Unbestechlichkeit ans Licht holte. Insbesondere deswegen halte ich sie für eine der wichtigsten christlichen Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre kritischen Impulse hat sie gesetzt in Solidarität mit ihrer Kirche und mit Begeisterung für die Theologie. Wie gut, dass so viele feministische Theologinnen – auch in Auseinandersetzungen – von ihr gelernt haben! Für mich hat sie damit das notwendige Bindeglied benannt zwischen einer christlichen Theologie, die sich nach der Shoah aus dem Kontakt mit jüdischem Denken und Leben erneuern will, und einer christlich-feministischen Theologie, die ihr eigenes antijüdisches theologisches Erbe aufzuarbeiten bereit ist. Ihre intellektuelle wie emotionale Klarheit war augenöffnend und wohltuend.

So unerschrocken sie als Theologin und Kirchenpolitikerin agierte, so furchtlos ging sie auch in den persönlichen Kontakt. Ich habe, wie viele andere, ihre Nähe als unterstützend und herausfordernd erlebt. Als es in der kirchlichen Frauenpolitik noch kein Wort und kein Konzept für Mentoring gab, war Leonore Siegele-Wenschkewitz Mentorin für jüngere Theologinnen, denen sie auch große Aufgaben anvertraute und die sie verlässlich unterstützte. Neben und in allem Engagement war auch Zeit und Aufmerksamkeit für die Menschen, die eher im Hintergrund arbeiten, für gutes Essen, schöne Dinge und Genuss. Auch das – ein reformatorischer Impuls!