Lucy Jane Rider Meyer

Begründerin der amerikanisch-methodistischen Diakonissenbewegung
Religionspädagogin und Diakonisse Margit Herfarth
Lebensdaten
von 1849 - bis 1922
Unter weiteren Namen bekannt als:
Lucy Jane Rider
Beziehungen

Lucy Rider Meyer, Religionspädagogin, Medizinerin, Autorin, Liederdichterin, Ehefrau, Diakonisse, Sozialarbeiterin, Freundin und Mutter war ein Mensch mit der guten Gabe, Beziehungen zu knüpfen und zu erhalten. Bezeichnenderweise wissen wir über ihr Leben vor allem von einer Frau, die mit ihr in einer engen Beziehung stand: ihre Schülerin, Diakonisse Isabelle Horton, die den Lebensweg der von ihr verehrten Lehrerin und Freundin in ihrem Buch High Adventure (1928) detailliert nachzeichnet. Dabei greift sie auf eigene Erinnerungen, auf Gespräche und Erzählungen Rider Meyers, teilweise auch auf deren Tagebuch-Aufzeichnungen und auf Erinnerungen von Weggefährten zurück. Eigene Lebenserinnerungen hat Lucy Rider Meyer in ihre Schrift A Wonderful Work (1899), in der sie die Anfänge der Diakonissenarbeit beschreibt, einfließen lassen.

Sie wurde am 9. September 1849 im ländlichen Nordwesten Vermonts in eine große, recht wohlhabende Farmerfamilie hineingeboren. Lucy Riders Großvater hatte als Pionier Land am St. Lawrence-Strom urbar gemacht und dieser Pioniergeist wurde in der Familie hochgehalten, vereint mit einem starken Bildungsinteresse. Lucy Riders Kindheit war ihrer eigenen Erinnerung nach glücklich und unbeschwert. Zwar hatten die Geschwister Verpflichtungen innerhalb der Großfamilie, aber genügend Freiheit zum Spielen in der freien Natur. Naturverbundenheit blieb auch in Riders späterem, städtischen Leben immer einer ihrer wesentlichen Charakterzüge. Sie war von früher Kindheit an bildungshungrig und las, so viel sie konnte. Der Vater selbst unterrichtete seine Kinder in Bibelkunde. Zur Schule gingen die Geschwister im Nachbarort und ihre religiöse Erziehung erhielten sie neben den häuslichen Bibelstunden in der kleinen baptistischen Kirche, die auf dem Gelände der Rider’schen Farm stand. Lucy Rider und einer ihrer Brüder schlossen sich als Jugendliche im Zuge einer Erweckungsveranstaltung der methodistischen Gemeinde an. Die heranwachsenden Kinder konnten ihre Freunde in ihr gastfreundliches, offenes Elternhaus einladen. Musik spielte eine große Rolle. Die Familie besaß das einzige Klavier im Umkreis von vielen Meilen und war auch aus diesem Grund ein beliebtes „Anlaufziel“.

Gegen die weit verbreitete Auffassung, dass Mädchen keine weiterführende Schule besuchen müssten, ermunterte die Mutter ihre Tochter Lucy zur college education, die sie sich allerdings durch eigene Unterrichtstätigkeit selbst finanzieren musste. Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und eine Offenheit für neue Erfahrungen zeichneten Lucy Rider schon als noch junge Frau aus. So verbrachte sie vor Beginn des Collegestudiums ein Jahr als Haustochter bei einer französischsprachigen Familie in Kanada und lernte dort die französische Sprache. Danach unterrichtete sie für ein Jahr an einer Schule der Quaker Society für befreite Sklaven in Greensborough, North Carolina. Das Schicksal der Afro-AmerikanerInnen, die auch nach Abschaffung der Sklaverei Diskriminierung und große Schwierigkeiten erlebten, beschäftigte sie sehr.

Die Unterrichtstätigkeit an der Quaker-Schule hatte Lucy Rider das nötige Geld eingebracht, um im September 1870 das College-Studium am Oberlin-College in Ohio aufzunehmen. Mit der Entscheidung zum College-Studium gehörte sie zu einer kleinen Minderheit: 1870 waren nur 0,7 Prozent aller Frauen zwischen 18 und 21, also dem klassischen „College-Alter“, als Studentinnen eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt hatten zudem noch nicht viele Universitäten ihre Türen für weibliche Studenten geöffnet. Die Atmosphäre des Oberlin-Colleges, 1833 von presbyterianischen Geistlichen gegründet, war von großer geistiger Freiheit geprägt. Stolz war man auf die Tatsache, dass schon seit 1835 afroamerikanische Studenten aufgenommen wurden und dass Koedukation eines der selbstverständlichen, charakteristischen Merkmale des Colleges war.

Lucy Rider, sehr geschätzt von Kommilitonen und Dozenten, lernte während ihres Studiums einen Mann kennen und verlobte sich mit ihm. Sein Ziel war es, als Arzt und Missionar nach Indien zu gehen und es wurde ihre feste Überzeugung, dass es ihre Aufgabe und Berufung sei, ihn dabei zu begleiten. Aus diesem Grund verließ sie Oberlin und nahm an der Woman´s Medical School in Philadelphia ein Medizinstudium auf. Im zweiten Studienjahr aber erkrankte ihr Verlobter schwer und starb, so dass sie ihre Lebensplanung radikal verändern musste. Sie selbst schrieb über diese Zeit: „There came a (…) winter in my life, when all my plans were frustrated, and my future was a blank“ (Rider Meyer, A Wonderful Work: 4).Viele Jahre später nahm sie im Alter von 37 Jahren das abgebrochene Medizinstudium wieder auf und führte es zu Ende. Jetzt aber kehrte sie zunächst in ihr Elternhaus nach Vermont zurück. Neben der Unterstützung ihrer Eltern und der Pflege des erkrankten Vaters engagierte sie sich in der Sunday School der methodistischen Gemeinde. Bald gelang es ihr, Bibelarbeiten und religionspädagogische Unterrichtsmaterialien zu veröffentlichen und sich so ein eigenes Gehalt zu verdienen. Nach dem Tode des Vaters nahm Lucy Rider ein weiteres Studium auf, das Fach „Science“ an der Boston School of Technology, und erlangte nach Abschluss des Studiums 1879 eine Stelle als Dozentin für Chemie am McKendree College in Lebanon, Illinois. Daneben arbeitete sie aber weiterhin mit großem Einsatz für die Sache der Sunday School, unternahm Vortragsreisen, publizierte und nahm an Versammlungen und Konferenzen, unter anderem in London, teil.

Als ihr der ehrenvolle (und gut bezahlte) Posten als Geschäftsführerin der Illinois State Sunday School Association angeboten wurde, gab Lucy Rider ihre Stelle am McKendree College auf. Ziel ihrer neuen Arbeit war, das Niveau des Sunday School-Unterrichts zu heben. Ihre Aufgaben umfassten Reise-und Vortragstätigkeit, Vorlesungen und Organisation von Schulungen. Lucy Rider erwarb sich damit den Ruf als überzeugende und außergewöhnlich gute Rednerin.

Während ihrer Reisen ergaben sich zahlreiche Begegnungen mit methodistischen Frauen. Viele erzählten von ihrem Wunsch, in den Gemeinden wirkungsvoll und verantwortungsvoll mitzuwirken – tatsächlich aber scheiterten Einsätze oft daran, dass ihnen ganz elementare Kenntnisse fehlten und sie keine Möglichkeit sahen, sich eben diese Kenntnisse anzueignen. So entstand in Lucy Rider die Idee, eine Schule zu gründen, um Frauen für die kirchliche Arbeit auszubilden. Diese Idee setzte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Josiah Shelley Meyer, den sie 1885 kennen lernte und heiratete, in die Tat um. Noch im gleichen Jahr eröffneten sie die „Chicago Training School“.

Josiah Shelley Meyer, geboren 1849 in Pennsylvania, arbeitete zum Zeitpunkt der Eheschließung als Assistent der Geschäftsführung der Young Men’s Christian Association in Chicago. Studiert hatte er Buchhaltung und Wirtschaft, war aber zugleich von großem religiösen Enthusiasmus erfüllt – einige Semester Theologiestudium hatten ihm allerdings gezeigt, dass eine theologische Laufbahn nicht seinen Vorstellungen entsprach. Die Zusammenarbeit mit seiner Frau bot ihm nun die Möglichkeit, seinen christlichen Glauben mit seiner beruflichen Ausbildung zu vereinen: während der vielen Jahre, die er mit ihr gemeinsam die 1885 gegründete Schule leitete, war er für alle finanziellen und organisatorischen Angelegenheiten des Schullebens und des späteren Diakonissen-Hauses zuständig.

Die Ehe, die nach damaligen Maßstäben in hohem Grade ungewöhnlich war, scheint glücklich und liebevoll, wenn auch nicht ohne Spannungen gewesen zu sein. Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Normen der Zeit, die dem Mann die öffentliche, der Frau die private Sphäre zuschrieben, lebten die Meyers, ohne dies zu problematisieren, ein anderes Modell. Sie war die bekanntere Figur des Paares, die stärkere Persönlichkeit, die immer in der Öffentlichkeit stand, beschrieben als brillant, „magnetisierend“ und inspirierend. Er dagegen galt als verlässlich, geduldig, vernünftig und praktisch veranlagt. Isabelle Horton berichtet von Josiah Meyers Stolz auf seine Frau und von seiner Bereitschaft, sie trotz bestimmter theologischer Differenzen in allen ihren Unternehmungen uneingeschränkt zu unterstützen. In ihrer Zusammenarbeit für das gemeinsame Ziel waren sie ungeheuer erfolgreich: sie selbst gründeten sechs Institutionen, dazu kamen 32 Institutionen, die von Absolventinnen ihrer Schule initiiert wurden.

Spannungen zwischen den Ehepartnern erwuchsen jedoch aus den theologischen Konflikten um die historisch-kritische Bibelauslegung und die theologische Ausrichtung der Chicago Training School. Isabelle Horton bezeichnet Shelley Meyer in „High Adventure“ als konservativ, ein Adjektiv, das sicherlich auf Lucy Meyer nicht zutraf. Weiter schreibt Horton über ihn: „He walked in the old ways and loved the old truths, and felt that they were being discredited by modern investigations and research. He saw in the ‚simple gospel’ all that was needed for the world’s redemption“ (Horton, High Adventure, S. 314).Diese Differenz in theologischer Hinsicht führte seit 1915, als Lucy Rider Meyer immer häufiger aus gesundheitlichen Gründen über längere Zeiträume ihre Position nicht ausfüllen konnte und sich von ihrem Mann vertreten lassen musste, zu Krisen. Josiah Meyer versuchte während ihrer Abwesenheiten das Curriculum zu verändern, entsprechend seiner Überzeugung, dass zum Dienst an den Kranken, Armen, Alten und Kindern nichts als Hingabe und der richtige „Geist“ vonnöten seien. Lucy Meyer dagegen bestand auf der Notwendigkeit von wissenschaftlich überprüfbarem Wissen und fachspezifischen Kenntnissen, die das Curriculum von Anfang an integriert hatte. Tiefer noch ging der Konflikt der Eheleute in der Frage nach der Auslegung der Bibel. Josiah Meyer vertrat ein wortwörtliches Verständnis der biblischen Schriften, Lucy Meyer dagegen die historisch-kritische Auslegungsweise, zu der sie sich in einem (undatierten) Brief an ihren Mann mit großer Klarheit äußerte: „I can never consent that the historic method of Bible teaching shall be given up. It is reasonable and sensible. I could no more go back to the old way than I could put myself into the little calico dresses I used to wear when I was ten years old“ (Quelle bei Horton, High Adventure, S. 323).

Ungeachtet der Konflikte wurde die Chicago Training School und die sich aus ihr entwickelte Diakonissenarbeit das Lebenswerk des Ehepaars Meyer. Einen Großteil der Ehejahre lebten und arbeiteten sie gemeinsam mit den Schülerinnen in der Schule und zogen dort den 1887 geborenen Sohn groß – eine Trennung von Beruf und Privatem war in dieser Konstellation nicht vorgesehen. Die jahrelange harte Arbeit und die andauernde finanzielle Unsicherheit des Unternehmens forderten jedoch ihren Preis. Lucy Rider Meyer erkrankte immer wieder schwer. 1896 konnte sie dennoch eine zweite Europa-Reise unternehmen, während derer sie auch Station in Kaiserswerth machte und das legendäre Gartenhäuschen, den Ursprungsort der Diakonissenanstalt, besuchte. Nach einer letzten längeren Reise zu verschiedenen, aus der Arbeit ihrer Schule entstandenen Diakonissen-Institutionen starb Lucy Rider Meyer am 16. März 1922 in Chicago.

Wirkungsbereich

Lucy Rider Meyers Wirken erscheint vielfältig und vielseitig, aber fügt sich doch zu einer Einheit zusammen, die mit dem Adjektiv „diakonisch“ am besten beschrieben werden kann. Ein wesentlicher Teil ihres Wirkens war der kirchlichen Frauenbildung gewidmet. Denn Ende des 19. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass die Kirchen auf den radikalen und oft problematischen gesellschaftlichen Wandel, verursacht durch rapide Verstädterung, Immigration und Industrialisierung, Antworten finden mussten. Ohne gut ausgebildete Laien, vor allem Frauen, würden sich diese Antworten nicht realisieren lassen. Die Gründung der Chicago Training School im Oktober 1885 lässt sich daher als eine der frühesten Aktionen einer allgemeinen kirchlichen Bildungsoffensive einordnen, auch wenn sie von Seiten der Methodist Episcopal Church zwar nominell begrüßt, aber nie regelmäßig finanziell unterstützt wurde. Von Anfang an wurde die Schule durch private Spenden finanziert.

Im Vergleich zu anderen Denominationen war die Position der Frauen innerhalb der methodistischen Kirchen stark und Frauen spielten in vielen kirchlichen Bereichen eine große Rolle. Lucy Riders beruflicher Weg zeigt das Selbstbewusstsein einer Methodistin, die ihre Möglichkeiten nutzte – und doch immer bestrebt war, die Entscheidungs-und Partizipationsräume für Frauen weiter auszudehnen. Denn der Weg zum Erwerb der laity rights für Frauen, d. h. der Partizipation an kirchenpolitischen Angelegenheiten, und der Weg hin zur Frauenordination waren lang und mühsam. Lucy Rider Meyer gehörte zu der kleinen Gruppe von Frauen, die nach jahrzehntelanger Auseinandersetzung 1904 erstmalig als Delegierte bei der methodistischen Generalkonferenz zugelassen wurden. Die erste Frauenordination in der Methodist Church, der Nachfolgeorganisation der Methodist Episcopal Church, fand erst 1956 statt. In Lucy Rider Meyers Texten fällt allerdings auf, dass sie die „Frauenfrage“ selten explizit thematisiert – eine bemerkenswerte Lücke angesichts der Tatsache, dass sie selbst keine Einschränkungen, die ihrem Geschlecht geschuldet gewesen wären, hingenommen hat. Mit scheinbarer Selbstverständlichkeit verfolgte sie ihre Bildung, ihre Karriere und eine Ehe, die im modernen Sinne als gleichberechtigt bezeichnet werden kann. Ebenso selbstverständlich setzte sie das Anrecht anderer Frauen auf Bildung und berufliche Erfüllung voraus. Die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen erweiterte sie dadurch beträchtlich, dass sie ihren Schülerinnen und ihren Diakonissen Aufgaben zutraute, die weit über das hinausgingen, was eine Frau im Familienkreise leisten konnte.

Die Chicago Training School bildete im Laufe der Zeit Diakonissen, Krankenschwestern, Religionspädagoginnen für die Sunday School, Spezialistinnen für Kinder-und Jugendarbeit, Gemeindeschwestern und „Evangelistinnen“ aus. Die Ausbildung umfasste – wie auch an allen anderen später entstandenen Training Schools – zwei Schuljahre, ein Jahr mehr als die meisten Krankenhäuser in die Ausbildung ihrer Krankenschwestern oder die Schulen in die Lehrerausbildung investierten. Der Schwerpunkt des Curriculums waren die biblischen Fächer, dazu kam der Unterricht in den Grundlagen der Medizin, Kirchengeschichte, Musik und die Methodik des Sonntagsschulunterrichts. Drei Nachmittage der Woche waren für praktische Arbeit vorgesehen: für die Hausbesuche in den Armenvierteln und für den Unterricht in sogenannten Industrial Schools, vergleichbar etwa mit kleinen, auf praktische Fähigkeiten hin spezialisierten Volkshochschulen – meist von den Schülerinnen selbst gegründet. Der erste Jahrgang bestand aus elf jungen Frauen, 25 Jahre nach der Schulgründung waren 256 Schülerinnen eingeschrieben. Schon 1887 entwickelte sich aus dem Kreise der ersten Schülerinnen die Diakonissenarbeit, zwei Jahre später gründeten die Meyers ein Krankenhaus, Wesley Hospital, das zum Lehrkrankenhaus der deaconess nurses wurde. Sinkende Schülerzahlen, die andauernde finanzielle Unsicherheit und Lucy Rider Meyers zunehmende gesundheitliche Schwäche führten jedoch dazu, dass sie die Schulleitung 1918 niederlegte. Unter ihrem Nachfolger wurde die Chicago Training School 1934 mit dem Garrett Bible Institute in Evanston, Illinois (dem heutigen Garrett Theological Seminary), zusammengelegt und verlor damit ihre Unabhängigkeit.

Der Führungsstil Lucy Rider Meyers lässt sich aus den Quellen als mütterlich und warmherzig, aber doch bestimmt erkennen. Wie alle ihre Schülerinnen leistete sie einen Anteil an der praktischen Hausarbeit und teilte mit den Schülerinnen die Mahlzeiten und prayer meetings. Mit den ehemaligen Schülerinnen und späteren Diakonissen, die oft weit verstreut lebten, stand sie in engem Briefkontakt. Die Briefe, aus denen Isabelle Horton in ihrer Biographie Auszüge wiedergibt, zeugen von großer menschlicher Wärme, engem, freundschaftlichen Kontakt zwischen der Schulleiterin und ihren dear girls und der Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit.

Zur Keimzelle der methodistischen Diakonissenbewegung wurde die Chicago Training School gleich nach dem ersten Unterrichtsjahr 1886. Mehrere Schülerinnen schlossen sich mit Lucy Rider Meyer zu einer Diakonissengemeinschaft zusammen, also einer verbindlichen, diakonischen Arbeits-und Lebensgemeinschaft. Die kirchliche Anerkennung des neuen „Diakonissenamtes“ erfolgte im Mai 1888. Bewusst betonten die Frauen ihre Unabhängigkeit von schon bestehenden Diakonissengemeinschaften in Deutschland oder den USA und tatsächlich ist deutlich zu sehen, dass sie den Prototyp der Diakonissenanstalt, nämlich Theodor Fliedners Anstalt in Kaiserswerth, geradezu auf den Kopf stellten: auf eine männliche Leitung wurde verzichtet, die Frauengemeinschaft war egalitär und nicht hierarchisch gegliedert, die Frauen sollten selbstständig und führungsstark statt gehorsam und demütig sein, das Haupteinsatzgebiet war weniger die Krankenpflege als die städtische Sozialarbeit, die politische Ausrichtung war progressiv und nicht staatstragend-konservativ.

Gemeinsam mit anderen Diakonissengemeinschaften war ihnen – zumindest in den ersten Jahren – das gemeinsame Leben, eine gemeinsame Tracht, der Verzicht auf ein eigenes Einkommen und der unverheiratete Status der einzelnen Frau. Alle diese Merkmale wurden jedoch immer hinterfragt, diskutiert und schließlich aufgegeben. Schon Lucy Rider Meyer selbst hatte die Ehelosigkeit als Voraussetzung des Diakonissenamtes insofern praktisch hinterfragt, als sie sich als Deaconess by the Grace and the Call of God (so z.B. auf der Titelseite eines ihrer Bücher, der „Deaconess Stories“) bezeichnete, trotz ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter. Bis heute jedoch gilt das Selbstverständnis der methodistischen Diakonissen, als geistliche Gemeinschaft mit christlicher Motivation sozial-diakonische Arbeit zu leisten. Gegenwärtig arbeiten 151 verheiratete und ledige Frauen als Diakonissen in der United Methodist Church.

Reformatorische Impulse

Reformatorische Theologie ist für Lucy Rider Meyer nicht durch Luther, sondern durch John Wesley und den Methodismus prägend geworden. Weniger die Frage nach dem gnädigen Gott und die befreiende Rechtfertigungsbotschaft stehen im Zentrum, sondern die Frage, wie sich die Erfahrung der Gnade Gottes im Leben auswirkt. Das Wachsen in der Liebe, die immer vollkommenere Heilung und Heiligung des einzelnen Menschen und der Gemeinschaft sind der Kern der methodistischen Interpretation des christlichen Glaubens. Lucy Rider Meyer setzte diese im Methodismus angelegte Dynamik, seinen Optimismus und seine Zielorientierung in ihrem Leben und Glauben um: das menschliche Elend in den Slums von Chicago waren für sie nicht Anlass, um über die Sündenverhaftung der Menschheit zu klagen, sondern das Feld, in dem sie dazu berufen war, an Gottes Reich mitzubauen. Mit Luther und Wesley teilte sie die Liebe zur Bibel. Dass Diakonie und Kirche untrennbar zusammengehören, war für sie selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war für sie das Priestertum aller Gläubigen, das schon Wesley in seiner Betonung der Bedeutung der Laien umgesetzt hatte. Damit die Laien Verantwortung in der Kirche übernehmen konnten, brauchten sie Bildung – Rider Meyers Bildungsinteresse und ihre “Bildungsmission” waren nie Selbstzweck, sondern ausgerichtet auf kirchliche, christliche Arbeit. Das dem Methodismus immanente soziale Engagement brachte sie ins Gespräch mit gesellschaftlichen und politischen Strömungen ihrer Zeit und positionierte, zumindest implizit, die Diakonissenbewegung in die konfessionsübergreifende theologische Strömung des Social Gospel.

In Nachahmung des Vorbildes Jesu konzipierte sie die Diakonissenarbeit als ganzheitliche Verbindung von Evangelisation und Sozialarbeit; beide hatten für sie die gleiche Wertigkeit und ließen sich nicht voneinander trennen, wie sie in folgendem Zitat, mit leicht ironischem Unterton, deutlich macht:

„The deaconess is not the traditional Bible reader who creeps softly up shabby back stairs and pats the heads of dirty little children (but never washes them) and reads and prays with poor sick women (but never gives them a bath or sweeps the room). Deaconesses are visitors, but they do more. They are nurses, and kindergartners, and kitchen-gardeners, and housekeepers, and teachers, and evangelists, and gospel singers and pastors´ assistants, and editors and physicians, and managers of orphanages, and superintendents of hospitals. They are – anything that a broad Christian woman may be to advance the cause of Christ“ (Lucy Rider Meyer, „Relation of the Deaconess to the Church“, in: The Message and Deaconess Advocate, January 1898, 6.).

Sämtliche Arbeitsbereiche, gerade auch die nicht im engeren Sinne kirchlichen, machten die Diakonissen in gut protestantischem Sinne zu ihrer Berufung. Lucy Rider Meyers Auffassung von diakonischer Arbeit als „offener Tür“, die nicht nur in die Kirche hinein, sondern vor allem auch aus der Kirche hinaus in die Welt führt, ist ein reformatorischer Impuls, der bis in die Gegenwart hineinwirkt. Einige ihrer Schülerinnen griffen diesen Impuls insofern auf, als sie Gebet und Agitation für sozialpolitische Reformen als komplementär verstanden und sich noch deutlicher als Rider Meyer selbst am politischen Diskurs der Zeit beteiligten.

Mit dieser Haltung wurden sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als ein radikaler Paradigmenwechsel in den meisten traditionell als evangelikal bezeichneten Denominationen wie auch dem Methodismus zur Abwertung der sozialen Arbeit zugunsten der rein missionarischen führte, zu einer Minderheit.

Kommentar

Die deutschen Diakonissen des 19. Jahrhunderts bleiben für die Nachwelt oft unsichtbar. Was sie gedacht, geglaubt, gefühlt und erlebt haben in langen, oft mühsamen Dienstjahren, erfahren wir selten. Eine Diakonisse sollte arbeiten, still und demütig, nicht in die Öffentlichkeit treten. Die Deutung und ideelle Ausformung des Diakonissenberufes übernahmen meist die „Diakonissenväter“, die Theologen. Ganz anders die amerikanisch-methodistischen Diakonissen, die Romane schrieben, Flyer texteten, in kirchlichen Publikationen Artikel veröffentlichten, Spendenbriefe und Jubiläumsschriften verfassten – allen voran Lucy Rider Meyer. Ihre Lebendigkeit und ihr Charisma haben erstaunlicherweise unter dem zeitlichen Abstand von über hundert Jahren nicht gelitten. Ihre archivierten Texte, auf schwer zu lesenden Mikrofiches oder als zerfallende Seiten in staubigen Kartons, haben mich angesprochen, als wären ihre Verfasserin und ich Zeitgenossinnen. Sie sind erstaunlich modern, intelligent, oft witzig, gleichzeitig realistisch und visionär, fröhlich und zugleich ungeheuer empathisch gegenüber den Armen und Elenden. Hätte ich im Chicago des späten 19. Jahrhunderts gelebt, hätte ich – so hoffe ich zumindest – bei ihrem Experiment mitgemacht. Teil einer Frauengemeinschaft zu sein, die trägt und stärkt für die große Aufgabe, konkrete Nächstenliebe hier und jetzt zu praktizieren, dabei weltoffen zu bleiben, ein einfaches Leben voller Lebensfreude und Dankbarkeit zu leben, alle Bildungschancen zu nutzen, Theorie und Praxis, Glaube und Leben zu verbinden. Ob ich ihren Optimismus geteilt hätte, ihre unerschütterliche Überzeugung, dass die Welt sich immer weiter zum Licht hin bewegt, weiß ich allerdings nicht. Aber vielleicht hätten sie mich damit angesteckt.