Magdalena Sybylla wurde am 29. Dezember 1707 in Maulbronn geboren als Tochter von Maria Dorothea Rieger, geb. Schreiber und des Philipp Heinrich Weissensee, der Klosterpräceptor, also Lehrer am dortigen Knabeninternat, war. So idyllisch sich das anhört, so hart konnten in Wirklichkeit die Lebensverhältnisse damals aber sein. Ein Biograph erzählt: „Da ihre Mutter nämlich sie noch unter dem Herzen trug, hatte diese beim Raubeinfall der Franzosen einen großen Schrecken durchzumachen; beide Eltern flüchteten, von beständigem Kriegslärm umschwärmt, nach Schwäbisch Hall, wobei der Wagen zweimal umstürzte“. Wie mag es der werdenden Mutter da ergangen sein! Die Zeit des beschwingten Rokoko, der vielen galanten Feste und des verfeinerten Lebensgenusses wurde von den Menschen erlebt vor dem düsteren Hintergrund, dass das spielerisch scheinende Leben stets bedroht war. Als ihr Vater Philipp Heinrich Weissensee nach Blaubeuren wechselte an die dortige Schule, wäre Magdalena Sibylla als einjähriges Baby fast erfroren. Der Umzug im März über die schneebedeckte Rauhe Alb nach Blaubeuren war schlimm für ein so kleines Kind. Ihre späteren ständigen Kopf- und Nervenbeschwerden brachte sie mit diesen Erlebnissen in Zusammenhang – vielleicht nicht zu Unrecht. Oft starben in jener Zeit die Kinder schon in jungen Jahren, Kinderkrankheiten waren lebensgefährlich. Auch Magdalena Sibylla verlor ihre beiden Brüder schon in frühen Jahren, deshalb wandte ihr Vater viel Energie auf für die Erziehung seines einzigen Kindes. Er führte sie in alte und neue Sprachen, in Natur- und Weltgeschichte – sowie natürlich in die Bibel ein. Unter seiner Anleitung übte sie auch Gesang, Klavier (das „Clavecin“) und lernte die Dichtkunst. Die gelehrige Schülerin war der Stolz des Vaters – Magdalena Sibylla war sozusagen eine echte Vatertochter! Aber mochte sie auch noch so begabt sein, eine systematische Ausbildung am Gymnasium oder gar der Universität war in dieser Zeit unmöglich für ein Mädchen. Ihren Vater sah sie wohl in das traditionsreiche Klostergebäude in Blaubeuren gehen. Dort konnten alle begabten Jungen des Landes, auch die aus ärmlicheren Familien, kostenlos lernen, so dass ihnen nach dem Abitur alle Laufbahnen in Kirche und Gesellschaft offen standen. Die ehemaligen Klosterschulen waren ja die Pflanzstätten des evangelischen Württemberg für tüchtige Pfarrer und Beamte. Magdalena Sibylla schloss dagegen wie die meisten Mädchen die Ehe, dazu recht früh, mit 16 Jahren. Ihr Mann war Emmanuel Rieger, der Bruder des bekannten Theologen Georg Konrad Rieger. Maria Sibylla schreibt rückblickend über ihre weibliche Rolle als Hausfrau und Mutter: „Die Kinder dürfen wir noch helfen auferziehen/ mehr Weisheit und mehr Witz (=Wissen) ist Weibern nicht verliehen“.
Magdalena Sibylla war also eine ganz normale bürgerliche Ehefrau ihrer Zeit – innerhalb der damaligen Bewegung des Pietismus, der „bewusst Frommen“, verlief ihr Leben innerhalb der üblichen gesellschaftlichen Grenzen. Dies ist zu betonen, da es in der pietistischen Bewegung durchaus auch „wilde Frauen“ gab, die, wie die „Buttlarsche Rotte“ der Eva von Buttlar, getrieben von ihrer ekstatischen Frömmigkeit, durchs Land zogen und sehr wohl der geistlichen und weltlichen Obrigkeit zu schaffen machten.
Zur Zeit der Magdalena Sibylla waren Frauen im Bürgertum auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter im Großen und Ganzen festgelegt; wobei der Haushalt eines damaligen höheren württembergischen Beamten – Emmanuel Rieger war zuletzt Stadtvogt von Stuttgart – nicht mit der modernen Klein- und Kleinstfamiliensituation zu vergleichen ist. Der Haushalt umfasste das Ehepaar und seine Kinder (Magdalena Sibylla gebar insgesamt sechs Kinder, nur Maria Dorothea und Immanuel erreichten davon das Erwachsenenalter), daneben die zahlreichen Dienstboten und u.U. auch Angehörige der älteren Generation. Da die Arbeitsteilung in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts noch nicht so fortgeschritten war, war jeder Haushalt auch sehr viel mehr auf Selbstversorgung angewiesen – allein die Vorratswirtschaft für die kalte Jahreszeit war eine umfangreiche und lebensnotwendige Arbeit. Auch die Herstellung und Reparatur der Kleidung und Bettwäsche geschah zum großen Teil innerhalb des Haushalts.
Magdalena Sibylla Rieger litt, wie erwähnt, von Kindheit an oft unter Kopfweh, auch Magenkrämpfe machten ihr zu schaffen. Diese beständigen Schmerzen, von denen sie berichtet, sind wahrscheinlich auch seelisch bedingt; vielleicht als ein körperlicher Protest gegen die Tatsache, als begabte und interessierte Frau von allen geistigen Betätigungen im öffentlichen Bereich ausgeschlossen zu sein, wollte sie nicht bewusst gegen diese Grenzen verstoßen. Dafür spricht auch, dass Magdalena Sibylla es als eine Art Selbsttherapie ansah, Gedichte zu schreiben und im Familienkreis vorzutragen bzw. die geistlichen Gedichte auch nach bekannten Choralmelodien vorzutragen. Ihre Schmerzen wurden dadurch nach ihren eigenen Worten gelindert. Auch ist es nicht rein zufällig, dass sie durch den Arzt Daniel Wilhelm Triller von ihren Schmerzen fast vollständig geheilt wurde, weil dieser eben nicht nur seine ärztliche Kunst anwandte, sondern sie als eine geistig rege Frau ernst nahm, indem er sie dazu bewog, ihre Gedichte veröffentlichen zu lassen, was dann auch auf großen Beifall der Öffentlichkeit stieß (s.u.).
Nach dem Tod ihres Mannes 1758 bekam ihr Leben einen eigenartigen Bruch: sie hörte anscheinend völlig auf, Gedichte zu schreiben. Interessant ist aber, dass sie keineswegs literarisch verstummte: sie führte eine ausgiebige Korrespondenz mit Theologen wie Friedrich Christoph Oetinger und dem Dekan Burk. Darin geht es hauptsächlich um ein religiöses Ringen, ihre Gewissenskämpfe und ihren Glauben an Christus, den sie auch denkerisch durchdringen wollte. So schreibt ihr der berühmte Prälat Oetinger Briefe wie an einen Fachkollegen: er zitiert andere Theologen, gebraucht sogar griechisch geschriebene Fachbegriffe und diskutiert die theologischen Bücher mit ihr, die sie ihm geschickt hatte. Dabei kommen auch persönliche Gefühle nicht zu kurz: so schreibt Oetinger am 7.12.1764 an Magdalena Sibylla: „Sie sagen, ich sei Ihnen noch eine Erwiederung schuldig, wie ich über meiner Tochter Tod so übermäßig gejammert. Allein was soll ich nun erst davon schreiben? Es fühlt niemand, was ich gefühlt und weiß niemand, was ich für Lectionen vom Herrn habe müssen einnehmen (…). Meine Tochter dauert mich, so oft ich an das Schicksal denke, das sie drei Jahr ausgestanden“.
Wie ihre langen Witwenjahre äußerlich aussahen, können wir nicht mehr feststellen. Lebte sie bei einem ihrer beiden Kinder, Immanuel und Maria Dorothea? Immerhin hatte sie noch erleben könne, dass beide heirateten und Kinder bekamen – war sie als Großmutter weiterhin mit den Haushaltssorgen beschäftigt? Trieben sie die politischen Veränderungen um? Nahm sie noch teil am Schicksal ihres Landsmannes Friedrich Schiller, als er mit seinen „Räubern“ 1782 die Gemüter bewegte? Oder lag dies ihrem frommen Wesen zu fern? Wir wissen es nicht. Ihr Leben endete am 31. Dezember 1786 – drei Jahre, bevor die Französische Revolution so vieles im alten Europa aufwühlte und Neues hervorbrachte.
Ihre Gedichte, die durch ihren Arzt Triller veröffentlicht wurden und zu ihrer Dichterkrönung führten, umfassen geistliche wie weltliche Themen, Erfahrungen und Gefühle. Einige möchte ich vorstellen, um den frommen, aber auch kritischen Blick von Magdalena Sibylla Rieger zu zeigen:
Von ihrer frühen Eheschließung sagt sie rückblickend:
„Ich ging von meinen Eltern aus
vielmehr noch mit der Kinder Docken
Dann mit der Nadel, Zwirn und Rocken
und solt nun einem eignen Haus,
gebührlich vorzustehen wissen
und ehlich einen Bräutgam küssen…
Die Freiheit, die ich hier verlohr,
noch eh ich wußte, sie zu schätzen,
die wußte Gott wohl zu ersetzen
und gab mir tausend guts davor
und einen Mann nach meinem Herzen.“
Magdalena Sibylla Rieger muss eine energische Person gewesen sein, ganz gewiss nicht sprachlos und unterwürfig, denn ihren Ärger über mangelnde soziale Entscheidungsmöglichkeit und Anerkennung gibt sie in einem ihrer Gedichte beredt Ausdruck:
„Es wird uns kaum noch oft der Schlüssel anvertraut,
Die Küche, Herd und Tisch und Keller zu verwalten,
wir müssen jederzeit genaue Rechnung halten
vor Erbsen, Linsen, Obst, Brod, Mehl, Holtz, Butter, Kraut.“
Magdalena Sibylla Rieger lebte aber nicht nur innerhalb ihres Hauses, sondern hatte wohl auch wache Augen und Ohren für das, was draußen vor ging. Kriege und Flüchtlingselend rührten sie zu folgenden Versen an:
Wie wird die Luft erfüllt mit Klage, Weh und Ach
Wann halbe Menschen noch den Tod um Rettung flehn.
Der röchelt, jener stirbt, der schreyt und dem wird schwach,
und tausend kann man sonst verzweifelnd ringen sehen…
Der meiste Jammer trifft gemeiniglich die Mütter.
Trägt hie und da noch eins auch sein Verhängnis still:
Ists Rahel doch, die sich nicht trösten lassen will…
als ob der Mensch kein Mensch, ein Vieh zum Schlachten wär!“
Hier nimmt Magdalena Sibylla Bezug auf die biblische Stammmutter Rahel, die nach Jeremia 31,15 um ihre vertriebenen Kinder weint bzw. nach dem Neuen Testament über den Tod der Kinder von Bethlehem (Matthäus 2,18). Sie sieht die militärischen „Erfolge“ keineswegs als große Siege, sondern aus der Sicht der Frauen, der Mütter und nimmt kein ideologisches Blatt vor den Mund, wie grausam jeder Krieg (bis heute) ist.
Dass Magdalena Sibylla unter den Einschränkungen ihrer weiblichen bürgerlichen Rolle litt, zeigen folgende scharfzüngigen und ironischen Verse:
Die Ehre bleibt voraus dem männlichen Geschlecht:
das hat gemeiniglich die Kunst allein gegessen
von weibern ist diß schon verwegen und vermessen
das ist der Männer Looß und angemaßtes Recht
Bey uns ist der Verstand im Mutterleib erfrohren
wir sein zu nichts als nur zu ihrem dienst gebohren…“
Anerkennung für ihre Dichtung fand Magdalena Sibylla doppelt: Zum einen wurde sie am 28. Mai 1743 zur vom Kaiser gekrönten Dichterin, zur poeta laureata, geweiht und zum anderen am 1. Juni desselben Jahres in eine der damals weit verbreiteten Sprachgesellschaften, die Teutsche Gesellschaft zu Göttingen, aufgenommen – was eine weitere Ehre bedeutete, da nicht viele Frauen Zugang zu diesen Gesellschaften bekamen, noch dazu, wenn sie nicht adlig, sondern bürgerlich waren.
Wie nahm die Dichterin diese Ehre auf? Sie betonte zwar immer wieder, nur zu Ehre Gottes zu dichten – was jedoch keineswegs bedeutet, sie sei deshalb seelisch eingeknickt oder nur eine „geniale Muse“ eines bedeutenden Mannes, wie die literarisch gebildeten Frauen ein bis zwei Generationen später! Nein, in einem publizierten Antwortgedicht auf die vielen Lobgedichte, die sie zur Dichterkrönung erhalten hatte, meint sie über den Lorbeerkranz:
Er dient mir doch zur ganz besondern Ehre,
Und wer mir ihn nicht gönnt,
muß doch zufrieden sein;
Ich trag ihn dann beherzt, frey, offen, unverhohlen,
man hat ihn mir geschenckt,
ich hab ihn nicht gestohlen.
Ihre Lobredner kommen aus ganz verschiedenen Kreisen, so lobt der herzögliche Hofpoet Fleischmann „was ein Weib in Stuttgart kann“, oder eine Frau aus Esslingen schreibt ihr:
weil du zeigst vor mich und jede die vom weiblichen Geschlecht
daß noch manche unsre Würde mit gelehrtem Vers verfecht.
Magdalena Sibylla ist deshalb keine Heldin oder ideale Einzelgestalt, auch sie war eingebunden in die Begrenztheiten ihrer Zeit: höhere Schulbildung oder gar ein Universitätsstudium zeichneten sich für Frauen damals erst ganz zaghaft am Horizont ab (bei der Gründung der Universität Göttingen gab es 1747 Ansätze zur Frauenbildung).
Aber Verstand und Vernunft galten viel – auch Magdalena Sibylla ist darin eine Tochter ihrer Zeit, die nicht nur vom Pietismus sondern auch von der Aufklärung geprägt war. Deshalb regen ihre literarischen Zeugnisse häufig auch zum Nachdenken an und können einen belehrenden Impetus tragen:
Bin ich oder bin ich nicht? Dieses möcht ich recht ergründen,
um dadurch zu meinem Heyl, einen festen Schluß zu finden,
Bin ich Anfangs ohne Sünden und zu Gottes Bild gemacht,
Bin ich dann, und zu was bin ich hierher in die Welt gebracht?
Worin drückt sich nun das Reformatorische oder Evangelische bei ihr aus? Betrachten wir neben den bereits erwähnten eher „weltlichen“ ihre geistlichen Lieder. Es sind insbesondere die siebenundsechzig „andächtigen Sonntagsübungen “ für jeden Sonn- und Feiertag des Kirchenjahres nach den Evangeliumslesungen dieses Tages. In diesen Liedern (nach bekannten Choralmelodien) kommt ihre tiefe Verbundenheit mit Gott und Christus in schwungvoller und ungekünstelter Sprache zum Ausdruck. Das einzige ihrer Lieder, das heute noch im württembergischen Regionalteil des Evangelischen Gesangbuchs (Nr. 588) steht, drückt die persönliche Erfahrung aus, als Sünderin („in der Höhle“) von Jesus angenommen zu sein, ja, in der Liebe zu Jesus nach langem, sehnsuchtsvollen Warten („verbirg dich länger nicht“) von ihm Gnade zu empfangen („sola gratia“) und mit ihm eins zu sein:
1. Meine Seele
in der Höhle
Suchet dich im dunkeln Licht;
Jesu, eile
und erteile
Mir dein tröstlich Angesicht;
Auf mein Flehen
Laß dich sehen
und verbirg dich länger nicht.
2. Ich empfinde,
meine Sünde
sei an dem Verlieren schuld;
ich gestehe dies
und flehe
um Vergebung, um Geduld
Du mein Leben,
kannst mir geben
neue Gnade, neue Huld.
3. Ach, von Herzen
Und mit Schmerzen
Such ich Dich, mein Trost und Heil!
Wie so lange
ist es bange
Meiner Seele! komm in Eil;
Laß dich nieder,
komme wieder
Meines Herzens bester Theil !
4. Ich will künftig mehr vernünftig,
minder unbedachtsam sein;
dich zu lieben,
mich mehr üben,
komme in mein Herz hinein.
Welcher Segen ist zugegen,
wenn es heißt:
Du mein, ich dein!
5. Führe, leite,
vollbereite
Mich, wie du mich haben willt;
Gib mir Klarheit,
Geist und Wahrheit
Daß ich gleich sei deinem Bild,
Daß man merke,
Meine Stärke
Sei in dir
und du mein Schild.
Die direkte Verbindung der Seele zu Jesus Christus, von dem diese alles erwartet, Geist, Wahrheit und Stärke bis zur Gleichgestaltung, lässt sich auch als Ausdruck des reformatorischen „solus Christus“ verstehen.
Für das Leitwort „sola scriptura“ sei eines ihrer Evangelienlieder herangezogen:
Bis heute ist dem 22. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest der Evangelientext Matthäus 18,21-35 zugewiesen, nämlich das Gleichnis vom Schuldner, dem Gott aus Gnade („sola gratia“) vergibt. Darauf dichtete sie folgende Verse auf die Melodie des Liedes „Jesu, meine Freude“:
Sollte Recht ergehen,
Herr, wer kann bestehen
wann du für (= vor) Gericht
deine Magd willst ziehen
wohin soll sie fliehen?
Ach, Herr strafe nicht!
Trag Gedult, vergiß der Schuld,
Lasse mich Vergebung finden
meiner schweren Sünden…
Laß mich das empfinden
und mich recht entzünden
Diese Liebes-Glut!
Schlagt ihr Gottes flammen
auch in mir zusammen
daß ich für dies Gut
Eben so auch lichterloh
In der Gegenliebe brenne
und mein Heil recht kenne.
Dreierlei scheint mir an ihren geistlichen Gedichten bemerkenswert:
a) die Einbindung in die vorgegebene Struktur des lutherischen Kirchenjahrs durch die vorgegebenen Evangelientexte, auch der Rückgriff auf die traditionellen evangelischen Choralmelodien;
b) ihre individuelle Sprachfähigkeit, die persönliche Glaubenserkenntnis und ihre Beziehung zu Gott und zu Christus in eigenen Worten zu artikulieren; dies verbindet Magdalena Sibylla Rieger
c) mit dem pietistischen Grundanliegen ihrer Zeit, den eigenen Herzensglauben zu reflektieren und auszudrücken. Der biblische Text ist jeweils der wichtige Auslöser für ihre ganz persönlichen Empfindungen Gott gegenüber. Dabei lassen sich auch Impulse der Brautmystik aufweisen: gemäß dem alttestamentlichen Hohenlied spricht die Seele wie eine Braut sehnsuchtsvoll mit Gott/Jesus und erlebt die Gegenwart des Geliebten, ja die mystische Vereinigung mit ihm (vgl. V. 4 des Gesangbuchlieds: „Du mein, ich dein“). Diese religiöse Erfahrungswelt gelangte aus den mittelalterlichen (Frauen-)Klöstern etwa über Johann Arndt in die Ausdrucksweise des Pietismus.
Ihr Wahlspruch war „Mit stillem Wesen“ (nach ihren Anfangsbuchstaben Magdalena Sibylla Weissensee). Darin lag auch die unauflösbare Tragik ihres Frauenlebens: das „stille Wesen“ beschreibt die geforderte bürgerliche Frauenrolle, ein Ideal, gegen das sich bei ihr zu Recht Körper und Geist sträubten. Gleichzeitig ist es gerade nicht „still und unscheinbar“, Gedichte zu schreiben, darin sehr präzise die eigene kritische Meinung und Empfindung auszudrücken und sie auch zu veröffentlichen, ja, zur poeta laureata gekrönt zu werden.
Magdalena Sibylla Rieger gehört zu dem zu einer historisch häufig vergessenen, aber dennoch weltweit bekannten Frauengestalt, da sie in Lion Feuchtwangers Drama „Jud Süß“ von 1918 und im gleichnamigen Roman die weibliche Hauptperson ist. (Der Roman wurde weltweit in 23 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Magdalena Sibylla Rieger ist also schon seit Jahrzehnten unbemerkt international bekannt!)
Magdalena Sibylla heißt in Lion Feuchtwangers Roman Magdalen Sibylle und gehört zu einem Kreis von Erweckten, also von pietistisch Frommen in Hirsau. Joseph Süß Oppenheimer sah sie: „Sie war schön, sehr anders als die Mädchen im Lande, auf dem bräunlich kühlen Gesicht standen sonderbare, nicht alltäglich schwäbische Gedanken“. In der Erzählwelt des Dramas Feuchtwangers wird sie von dem Herzog Karl Alexander von Württemberg vergewaltigt und als seine Mätresse ehrenvoll und kostspielig gehalten. Im Hintergrund steht allerdings die Liebe zwischen Magdalen und Süß, wobei deren Gottesliebe von Süß heruntergespielt wird: „Wer gewachsen ist wie Sie, rief er, wer Augen hat, Demoiselle, und Ihr Haar, der hat Gott nicht nötig.“ Als Süß seinem schrecklichen Ende am Galgen entgegengeht, gebiert Magdalen Sibylle, die inzwischen den Expeditionsrat Rieger geheiratet hat, ihr erstes Kind. Ihre Dichtungen kommen bei Feuchtwanger nicht gut weg: „Was sie dann las, waren unbeschwingte, triste, banale, kahl und schal moralisierende Reimereien“. Soweit unsre Dichterin im Roman bei Lion Feuchtwanger. Es ist dichterische Freiheit, historische Personen zu verändern und ich denke, jeder Schriftsteller ist darin auch wieder ein Kind seiner Zeit und dem Frauenbild seiner Epoche verbunden. Eine eigenständig empfundene, tiefe Religiosität bei Frauen, die sich nicht mit verklemmter Sexualität erklären lässt, verbunden mit geistiger Produktion, die auch den weiblichen Alltag kommentiert – verständlich, dass dies nicht unbedingt mit dem Frauenideal des beginnenden 20. Jahrhunderts zusammenpasste! Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt: hat sich dieses Ideal am Ende des 20. Jahrhunderts so gravierend verändert? Würde eine Frau wie Magdalena Sibylla heute anders gesehen? Oder müsste sie, lebte sie unter uns, immer noch sarkastisch bemerken: „Uns ist der Verstand im Mutterleib erfroren“?