Margit Sahlin wurde am 6. Mai 1914 in Stockholm geboren, als jüngste von sieben zum Teil weit älteren Geschwistern. Die Eltern waren beide Lehrer. Akademische Bildung war Tradition in der Familie, der Großvater Rektor der Universität Uppsala. Kaum 17 Jahre alt, beendete sie 1931 die Schulzeit mit dem Abitur.
Im Elternhaus wurden die intellektuellen Fähigkeiten gefördert. Es war selbstverständlich, dass Margit das Gymnasium besuchen und studieren konnte. Auch die wissenschaftlichen Studien, die zur Promotion führten, wurden unterstützt. Erst viel später kam sie auf den Gedanken, dass das Desinteresse an ihrer Forschungsarbeit auch ein Geschlechterproblem sein konnte. Margit Sahlin wuchs auch in einer Familie auf, in der regelmäßiger Kirchgang und Gebet Tradition waren. Der eigene Weg zum Glauben war nicht so selbstverständlich, zeigt aber auch die Ernsthaftigkeit ihres Denkens.
Ein Frankreichaufenthalt sollte auf ein Studium der französischen Sprache an der Universität in Stockholm vorbereiten. Eine längere Krankheit verhinderte diesen Start. Doch dann begann Margit Sahlin mit Eifer ihre Sprachstudien, zunächst mit Französisch, dann studierte sie germanische Sprachen. Schon 1934 legte sie das Magisterexamen und zwei Jahre später, 1936 das Licentiatsexamen ab. Für die Promotion hatte sie ein Thema gewählt, das für sie seit dem Frankreichaufenthalt von Interesse war: Der Zusammenhang von Volkskultur und mittelalterlicher Kirche in Frankreich. Aufenthalte in Frankreich folgten. Thema der Arbeit war: Etude sur la Carole Medievale l‘Origin du Mot et ses Rapport avec l‘Eglise. 1940 promovierte sie damit zum Dr. phil. Aber ihre Forschung fand nicht die Aufmerksamkeit, die sie erwartet hatte.
Schon während ihrer Sprachstudien hatte sich Margit Sahlin im Christlichen Studentenbund engagiert, in dem sich auch eine Gruppe für Studentinnen bilden konnte.
1936 war sie von zwei Treffen so tief beindruckt, dass sie sich zum täglichen Bibelstudium entschloss mit dem festen Willen, auch täglich ihre Gedanken zum Text aufzuschreiben. Das führte sie zum tieferen Verständnis der Bibel. Sie engagierte sich in einer damals neuen kirchlichen Bewegung „Ungkyrkorörelse“, die der wachsenden Säkularisierung begegnen wollte, mit dem Ziel, den Graben zwischen Kirche und Arbeiterschaft zu überbrücken. Die Studenten sammelten sich um Manfred Björkquist, den späteren Bischof, der diese Volkskirchenbewegung mit ins Leben gerufen hatte. Die Integration von Kirche und Kultur und die Einbeziehung von Laien gehörten auch zu den Zielen. Bei solchen „Kreuzzügen“, das waren Einladungen an junge Arbeiter, lernte Margit Sahlin nicht nur deren Probleme kennen, sondern erfuhr auch, dass sie fähig ist, mit anderen Menschen über Probleme zu sprechen, eine Art Erprobung für das was sie später tun würde. Die Kritik an der Kirche, die sie bei Weggefährten sah, änderte nichts an ihrer tiefen Verbundenheit mit ihrer Kirche. Bereits während eines Einsatzes der Gruppe kam ihr der Gedanke, dass es doch wunderbar sein könnte, Gottes Wort auch als Beruf zu verkündigen. Darum entschloss sie sich, nach einigem Zögern und vielen Bedenken, für das Theologiestudium. Das beendete sie 1943 als cand. theol.
Eine Anstellungsmöglichkeit für Theologinnen kannte die schwedische Kirche nicht.
Ein Aufsatz in einer Kirchenzeitung im Jahr 1938, in dem ein neues weibliches Amt in der Kirche angeregt wurde, erregte Aufsehen. Von der Frauenbewegung, die die volle Gleichstellung verlangte, wurde sie kritisiert. Aber es gab auch Widerstand innerhalb der Kirche, vor allem bei noch treuen Gliedern, dabei wurde mit einzelnen Bibelstellen argumentiert. Die schwedische Kirche hatte zwar keine Stellen für ausgebildete Frauen, aber der Vorsteher der Stadtmission gab ihr seine Stelle als Seelsorgerin, allerdings mit ganz geringer Bezahlung – eine Volksschullehrerin bekam das Doppelte. Im neugegründeten Bistum Stockholm bekam die Theologin eine halbe Stelle, Bildung von Frauengruppen und Frauenräten war ihre Aufgabe. Das verbesserte die finanzielle Situation. Im selben Jahr wurde daraus eine ganze Stelle bei der Diakonie. Das war das kirchliche Organ, das sich um die freiwillige Arbeit in der Kirche kümmerte und sie organisierte, eben alles, was durch die kirchliche Gesetzgebung nicht festgelegt war. 1950 wird „Katharinastiftelsen“ in Sparreholm gegründet. Es soll ein Ort sein für kirchliche Frauenarbeit, auch Ausbildungsstätte für weibliche kirchliche Mitarbeiter und soll als Gästeheim dienen. Damit wurde der kirchlichen Tradition nicht widersprochen, denn von einem Pfarramt war nicht die Rede. Eine besondere Einsegnung hätte sie sich schon gewünscht und auch die Möglichkeit in einer Frauengruppe während eines Seminars den Gottesdienst feiern zu können. Margit Sahlin arbeitete dort bis 1970. Inzwischen – am 10. April 1960 – war Margit Sahlin ordiniert worden.
Die schwedische Kirche war nach der Reformation bis zum Jahr 2000 Staatskirche. Das gab ihr eine besondere Stellung. Das lutherische Pfarramt war zugleich auch Standesamt, Pfarrer wurden vom Staat bezahlt. Die Bischöfe wurden von der Regierung eingesetzt. Der Staat konnte Einfluss nehmen auf die kirchliche Gesetzgebung, die Kirche war also auch von der Regierung in gewisser Weise abhängig. Ein 1958 erlassenes Gesetz wurde auch für Margit Sahlin wichtig. So hatte der Reichstag ein Gesetz vorgelegt, dass der Kirche vorschlug, das Pfarramt im Zuge der Gleichberechtigung auch für Frauen zu öffnen. Die Synode, die immerhin noch ihre Zustimmung geben musste, hatte für Aufschub gestimmt, wegen der Brisanz der Thematik. Unruhe in der Gesellschaft, heftige Diskussionen in den Medien sorgten schließlich dafür, dass in einer zweiten Synode dem Gesetz zugestimmt wurde und es in Kraft treten konnte, allerdings gegen den Willen einiger Bischöfe. Dieser Druck von außen machte die Situation nicht einfacher. Margit Sahlin war in der Zwickmühle. Die Frauenorganisationen, mit denen sie guten Kontakt hatte, begrüßten natürlich das Gesetz. Aber innerhalb der Kirche war es umstritten. Man schaute auf sie, sie musste entscheiden. Sie bat um Bedenkzeit, suchte Gespräche mit Vertretern des Weltkirchenrates und entschied sich für die Ordination um der jungen Frauen willen, die das Pfarramt anstrebten. Das brachte ihr natürlich Ablehnung in traditionellen Kirchengemeinden ein und den Bruch mit dem einigen früheren Weggefährten, besonders mit Bischof Bo Giertz.
Der Einfluss der Regierung zeigt sich auch, als Margit Sahlin als erste Frau als Hauptpfarrerin (kyrkoherde) an der Engelbrechtskirche in Stockholm nominiert wurde und diese Stelle auch bekam. Sie war ausgewählt worden, obwohl die Gemeindeversammlung einen anderen Kandidaten vorgeschlagen hatte. Sie wurde dann aber auch trotz anfänglicher Widerstände von der Gemeinde freundlich aufgenommen. Von 1970 bis zum Ruhestand 1979 hatte sie diese Stelle inne.
1978 verlieh die Universität Uppsala den Ehrendoktortitel der Theologie an Margit Sahlin. Am 24. Mai 1985 bekam sie den Kulturpreis der Stadt Stockholm. Ihr letzter Gottesdienst – ein ökumenischer Gottesdienst – war am 19. Januar 2003 in der Oskarskirche in Stockholm. Am 1. März 2003 ist Margit Sahlin gestorben. Am 21. März 2003 war die Trauerfeier in der Engelbrechtskirche in Stockholm. Begraben wurde Margit Sahlin auf dem alten Friedhof in Uppsala.
Wenn man von Einsatz der Studenten absieht, war der Wirkungsbereich zunächst hauptsächlich die Arbeit mit Frauen und deren Zurüstung zur Arbeit in der Kirche. Margit Sahlin sammelte die Frauen und bildete kirchliche Frauenräte in den einzelnen Bistümern. Sie war auf der Suche nach einer neuen Lebensform, reiste in andere Länder, um andere Gemeinschaftsformen kennen zu lernen, besuchte den Weltkirchenrat 1948 in Amsterdam, die evangelische Akademie in Bad Boll, verschiedene Kommunitäten und Ordensgemeinschaften in Frankreich, England, Italien und auch in Deutschland. Die ökumenische Bewegung gab viele Anknüpfungspunkte.
Der Traum war eine eigene Kommunität. Es entstand auch die „Sancta Katharinas communio“, eine kleine Gemeinschaft im Katharinenstift. Aber noch während sich diese Gemeinschaft entwickelte, wurde „Katharinastiftelsen“ zum Treffpunkt für viele. Aus dem geplanten und gewünschten evangelischen Kloster wurde so etwas wie eine evangelische Akademie. Margit Sahlin lud ein zu offenen Gesprächen zwischen Kirche und Gesellschaft. Die Liste der bekannten Namen, die dort einen Vortag hielten oder diskutierten, war lang, Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller. Diese Gespräche führte sie auch, als sie Pfarrerin in Stockholm war. Die Botschaft der Bibel für den heutigen Menschen verständlich zu machen, war ihr wichtig. Dafür brauchte es das Gespräch. Zum hundertsten Geburtstag 2014 wurde sie für diese Arbeit in der größten schwedischen Zeitung posthum dafür gewürdigt – natürlich auch in der Kirchenzeitung.
Dass sie Pfarrerin werden konnte, ist sicher ein spätes Erbe der Reformation. Dazu gehört aber auch die Bedeutung der Heiligen Schrift für ihr Leben und der Wunsch und das Bestreben, die Botschaft der Bibel für ihre Zeit verständlich und bedeutsam zu machen. Vielleicht gehört auch dazu, dass sie sich nie fertig und perfekt fühlte, sondern immer wieder um Wegweisung suchte.
Sie hat durch ihre Entscheidung kommenden Frauengenerationen den Weg ins Pfarramt ermöglicht, obwohl sie selbst zunächst nicht daran interessiert war. Auch dass Frauen nicht nur durch Handarbeiten für die Mission sich am kirchlichen Leben beteiligen konnten, sondern sich selbst bilden durften, um sich dann verantwortlich einzubringen, ist ihrer Initiative zu verdanken. Sie hat für ihr Land passende Wege gesucht, aus überkommenen Strukturen heraus zu kommen. Denn nur so war der zunehmenden Entkirchlichung zu begegnen. In vielen Aufsätzen mahnt sie an, dass überkommene Arbeitsformen nicht mehr tragen können und neue gefunden werden müssen, dass kein möglicher Weg ungeprüft bleiben darf. Auch als Pfarrerin in der Gemeinde war sie bemüht, Strukturen, die nicht mehr tragfähig waren, aufzubrechen, in der Gemeinde in besonderen Gottesdiensten und außerhalb in Gesprächsgruppen, Dialog nannte sie das. Und weil die Hemmschwelle für Fernstehemde in kirchlichen Räumen vielleicht zu hoch war, suchte sie außerhalb von Kirche Orte auf, in denen Lebensfragen, aber auch Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft besprochen wurden.
Sie war tief davon überzeugt, dass die Heilige Schrift Antworten auf die Fragen und Probleme der Gegenwart hat.
Nach meinem Zweiten Examen, aber weil ich als Frau noch nicht ordiniert war, hatten schwedische Freunde den Kontakt zu Elisabeth Djurle, einer der in Schweden ordinierten Frauen, vermittelt. Wir hatten uns in Stockholm getroffen und uns an einem Tag ausgetauscht. Von Margit Sahlin und ihrer Arbeit hatte ich natürlich auch schon gehört. Elisabeth Djurle machte mir Mut und zeigte mir den Weg nach Österskär. Es war eine Gruppe dort zu einer Tagung. Weil es gerade eine Pause gab, wurde ich zu einer kleinen Mahlzeit eingeladen. Von daher stammt mein erster Eindruck von Margit Sahlin: eine sehr lebendige und aktive, dabei fröhliche Frau, die sich Zeit nehmen konnte für einen unerwarteten Gast. Das war am 27. Juli 1960.
Ich habe mir damals auch eins ihrer Bücher gekauft und erinnere mich an gute und kluge Auslegungen zu Gleichnissen, die vielleicht Niederschriften von Bibelabenden waren, so lebendig waren sie geschrieben.
In den folgenden Jahren war ich zwar regelmäßig in Schweden, aber nicht mehr in Stockholm, sondern meist im Süden. Seltsamerweise traf ich in den Kirchen, die ich besuchte, keine Pfarrerin, obwohl es sie im Bistum Lund häufiger gab als im übrigen Land, weil der Bischof dort Frauen ordinierte, was durchaus nicht überall üblich war.
Eine neue, späte Begegnung mit Margit Sahlin bekam ich, als mir schwedische Freunde zum 80. Geburtstag und zum 50. Ordinationsjubiläum das kurz zuvor erschienene Buch über Margit Sahlin schenkten. Ich habe es mit tiefer Bewegung immer wieder gelesen. Den Mut und die Kühnheit, die Energie und die Beharrlichkeit habe ich bewundert, auch die Freiheit, immer wieder bei Bischöfen anzuklopfen und neue Vorschläge zu machen. Sie ließ sich durch Ablehnung nicht beirren. Und eigentlich tat sie das alles nicht für sich selbst, um einen Posten zu haben oder um es den Männern gleich zu tun, sondern aus Sorge um die Verkündigung des Evangeliums. Bei allen Auseinandersetzungen blieb sie besonnen. Sie strebte ein Amt sui generis an, auch damit es zu keiner Spaltung kommen sollte. Sie war ja wirklich in einer Zwickmühle. Sie liebte die Gottesdienste in ihrer hochkirchlichen Form. Aber gerade die hochkirchlichen Theologen wollten keine Frauen im Amt. Um der jungen Frauen willen hat sie sich dann doch entschlossen, das Amt anzunehmen. Sie war bereit, auch neue Wege zu gehen. Das zeigte sich auch, als sich ihr Traum von einer klosterähnlichen Gemeinschaft nicht realisieren ließ. Ihr eigenes Motto war: radikalt inat – radikalt utat (zu lesen : inot – utot; also radikal nach innen, radikal nach außen. (Das Wort radikal klingt im Schwedischen nicht so hart wie in der deutschen Sprache. Ich würde dafür vielleicht „entschieden“ oder „konsequent“ einsetzen.)
Sie war tief verwurzelt im Glauben, lebte mit Bibel, Gebet und Gottesdienst als ihrem Zentrum und konnte doch so offen sein für Gedanken und Fragen der Gesellschaft und ihrer Menschen.
Und das, obwohl sie keinesfalls so selbstsicher war und immer wieder im Gebet um Weisung suchte und sich nicht scheute, andere Menschen um Rat zu fragen. Ein Nachruf eines schwedischen Pfarrers schließt mit den Worten: “Danke, Margit“. Ja, das sollte ich auch tun.