„Gab es eine größere Predigerin als die Samariterin, die sich nicht scheute, Jesum und sein Wort zu predigen, sich offen vor aller Welt zu ihm zu bekennen, sobald sie ihn hatte sagen hören, dass wir Gott in Geist und Wort verehren sollen?“ (Dentière: Epistle, 55 [Übersetzung C. L. Griffiths]). So lautet eine der Schlüsselfragen in Marie Dentières Schrift Epistre très utile (1539), in der sich die Autorin für eine aktive Teilnahme der Frau am Leben der Kirche und Gesellschaft ausspricht.
Marie Dentière wurde um 1490 oder 1495 in Tournai (im heutigen Belgien) geboren; sie war Priorin im Augustinerinnenkonvent der nahe ihrer Heimatstadt gelegenen Abtei Saint-Nicolas-dès-Prés. Bereits frühzeitig schloss sie sich lutherischem Gedankengut an und verließ Anfang der 1520er Jahre ihr Kloster, um nach Straßburg zu gehen. Dort heiratete sie Simon Robert, einem dem Kreis von Meaux nahestehenden Prediger, dem sie 1528 in die Schweiz folgte. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie mit Antoine Froment, auch er ein Prediger und Weggefährte Wilhelm Farels und einer der Protagonisten der Genfer Reformation, eine zweite Ehe ein. Marie Dentière, die aus ihren beiden Ehen mindestens drei Töchter hatte, ließ sich 1535 mit ihrer Familie in Genf nieder und unterstützte dort die Einführung der Reformation mit Wort und Tat.
Nach ihrer Flucht oder über die Verbindungen ihres ersten Mannes kam Marie Dentière in Kontakt mit Margarete von Angoulême (der späteren Königin von Navarra), die stets eine schützende Hand über die reformatorische Bewegung in Frankreich hielt. 1539 widmete sie ihr wichtiges Werk, die Epistre très utile, der Königin von Navarra, die sie möglicherweise auch persönlich kennengelernt hatte und die vermutlich die Patin einer ihrer Töchter aus erster Ehe war.
Als aktiv an den städtischen Reformationsbewegungen der ersten Stunde Beteiligte konnte Marie Dentière Verbindungen zu den großen Reformatoren ihrer Zeit knüpfen, so zu Wolfgang Capito und Martin Bucer in Straßburg wie zu Wilhelm Farel, Peter Viret und – später – Johannes Calvin in Genf.
Dass sie sich dabei nicht mit dem im Zuge der Reformation neu geschaffenen „Beruf“ der Pastorenfrau begnügte, sondern eine dezidiert eigene Rolle als Frau und Christin für sich einforderte, bezeugt ihr reformatorisches Wirken in Genf.
Unser Wissen darüber, dass auch Frauen durch aktive Predigt in den Reformationsprozess Farel’scher Prägung (also vor der Ankunft Calvins in Genf) eingriffen, verdanken wir in erster Linie der Feder einer Frau, der Genfer Klarisse Jeanne de Jussie, deren Kleine Chronik ein aus katholischer Sicht verfasstes Zeugnis der Genfer Reformationsbewegung darstellt. Offenbar hatten sich die Genfer Reformatoren bei ihrer Bekehrungskampagne der Mithilfe von bereits konvertierten Frauen bedient, die die Nonnen „von Frau zu Frau“ zum Abschwören ihres klösterlichen Gelübdes veranlassen sollten. Jeanne de Jussie berichtet in diesem Zusammenhang von einer gewissen Claudine Levet (Jussie: Chronik, 153) und überliefert Marie Dentières Auftritt im Klarissenkloster mit folgenden wenig schmeichelhaften Worten: „In dieser Gesellschaft befand sich eine Nonne, eine Äbtissin, eine falsche hutzelige Teufelszunge, die Ehemann und Kinder hatte, namens Marie Dentière aus der Picardie, die sich in das Predigtamt eindrängte und fromme Leute zum Abfall brachte.“ (Jussie: Chronik, 144).
Auch als die Frauen nach der Institutionalisierung der Reformation in Genf erneut aus der kirchlichen Öffentlichkeit in den Hintergrund gedrängt worden waren, scheint Marie Dentière ihre öffentliche Verkündigung unbeirrt fortgesetzt zu haben, wie Calvin 1546 missbilligend in einem Brief an Farel feststellt: „Neulich kam Froments Frau [Marie Dentière] hierher. In allen Kramläden, auf allen Straßen predigte sie gegen unsere langen Talare.“
Neben diesen von Jussie und Calvin bezeugten Momentaufnahmen, in denen Marie Dentière öffentlich das Wort ergreift, sind verschiedene Werke von ihr überliefert, mit denen sie sich nicht nur als umfassend gebildete Frau mit fundierten Kenntnissen in der Bibel und im kanonischen Recht, sondern auch als eine der ersten Theologinnen der französischsprachigen Reformation erweist.
Nachdem A. Rilliet die 1536 in Genf anonym erschienene historische Schrift La guerre et deslivrance de la ville de Genesve 1866 anhand von Sprach- und Stiluntersuchungen der Feder Marie Dentières zuschrieb, besteht heute weitgehender Konsens über ihre Autorenschaft. Das kleine Werk handelt von den politischen und religiösen Kämpfen, die letztendlich zur Einführung der Reformation in Genf führten, und ordnet die damit verbundenen Geschehnisse zugleich in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ein. Aus resolut reformatorischer Perspektive verfasst, darf die Schrift gewissermaßen als reformiertes Pendant zu Jussies Kleiner Chronik gesehen werden.
Einen dezidiert ‚feministischen’ Grundton avant la lettre schlägt Marie Dentière in ihrem 1539 (unter falscher Ortsangabe) in Genf herausgegebenen theologischen Werk Epistre très utile an, welches angeblich auf Wunsch der Königin von Navarra entstanden war, die sich über die Umstände der Ausweisung Calvins und Farels aus Genf erkundigen wollte. Diese kleine Streitschrift in Form eines Briefes an Margarete von Navarra, wurde gleichzeitig in zwei Versionen veröffentlicht, wobei das Widmungsschreiben an die königliche Adressatin in der einen Ausgabe die Autorin lediglich durch die Initialen M. D. ausweist, in der anderen aber ihren vollen Namen, Marie Dentière, nennt. Letztere Version enthält des Weiteren einige Anmerkungen zu einer von der Tochter der Autorin (und Patentochter Margaretes) zusammengestellten hebräischen Grammatik, die der Tochter der Königin zugeeignet ist. Exemplare dieser ganz offenbar für einen unterschiedlichen Leserkreis bestimmten Versionen befinden sich heute im Musée historique de la Réformation, Genf (mit Initialen) und in der Bibliothèque Mazarine, Paris (mit vollem Namen) (vgl. Kemp/Desrosiers-Bonin).
Die Schrift, deren voller Titel Epistre très utile faicte et composée par une femme Chrestienne de Tornay. Envoyée à la Royne de Navarre seur de Roy de France. Contre les Turcz, Juifz, Infideles, Faulx chrestiens, Anabaptistes et Luthériens lautet, ist in drei Teile gegliedert: einem Widmungsbrief an die Königin von Navarra (Lettre d’envoi à la Reine de Navarre), einem kurzen Traktat zur Verteidigung der Frauen (Défense pour les Femmes) und dem eigentlichen Sendbrief (Epistre très utile), dessen lebendig-unmittelbarer Elan geradezu wie eine Predigt im Stile Farels anmutet (Skenazi: Marie Dentière, 18). Einem roten Faden gleich durchziehen alle drei Abschnitte Marie Dentières Überlegungen zu Wert und Wesen der Frau, die weit über den reformatorischen Rahmen des Buches hinausgehen.
In ihrem Widmungsbrief an die Königin bezieht sich die Autorin auf das paulinische Schweigegebot für Frauen in der Kirche (s. 1 Kor 14,34 und 1 Tim 2,11) und betont, dass es ihr lediglich um eine Unterweisung von Frau zu Frau gehe (Dentière: Epistle, 53). Gleichzeitig hebt sie hervor, dass die Gabe zur Verkündigung der Frohen Botschaft als eine Gnade Gottes anzusehen sei, der sich niemand entziehen dürfe, und formuliert gewissermaßen ihre eigene Version der lutherischen Doktrin vom Priestertum aller Gläubigen, wenn sie schreibt: „Weil das, was Gott euch gegeben hat, und was er uns Frauen offenbart hat, wir ebenso wenig wie die Männer verbergen und in der Erde begraben dürfen“. (Dentière: Epistle, 53 [Übersetzung C. L. Griffiths]).
Der kurze Text zur Verteidigung der Frauen ist im Stil der Schriften der Querelle des femmes, der großen literarischen Debatte der Frühen Neuzeit um Wert und Wesen der Frau, konzipiert. Es handelt sich um eine Art „Katalog“ berühmter Frauengestalten aus der Bibel, wie z. B. Deborah und Ruth sowie insbesondere die Samariterin und Maria Magdalena, die mutig ihrem Auftrag, vor aller Welt das Wort zu verkünden, nachgekommen seien (s.o.).
Während die Autorin im Hauptteil ihres Werkes, der eigentlichen Epistre très utile, neben der beißenden Kritik an den Genfer Nachfolgern Calvins und Farels die großen Themen des Reformationszeitalters in den Mittelpunkt stellt und nicht an Polemik gegen die verhassten Dogmen der Katholischen Kirche – wie Messopfer, Werkgerechtigkeit, Heiligenverehrung usw. – spart, kommt auch hier die konsequente Betonung der Gleichheit aller Christen vor dem Herrn nicht zu kurz: „Ich frage“, so schreibt sie, „ist Jesus nicht genauso für die armen Unwissenden und Einfältigen wie für die Herren, die rasierten, tonsurierten und infulierten gestorben? […] Haben wir zwei Evangelien? Eines für die Männer, und ein anderes für die Frauen?“, und sie konstatiert mit den Worten aus Galater 3,28: „[…] alle sind wir eins in Jesu Christo, hier ist weder Mann noch Weib, weder Knecht noch Freier.“ (Dentiére: Epistle, 79 [Übersetzung C. L. Griffiths]).
Der unzeitgemäße „feministische“ Gesamttenor des Buches und die darin geäußerte schonungslos-polemische Kritik an den Amtsnachfolgern Calvins und Farels sowie – mehr noch vielleicht – die Beteuerung, die Schrift sei von einer Frau verfasst worden, provozierten ein augenblickliches Eingreifen des Genfer Stadtrates: Alle Exemplare, derer man habhaft werden konnte, wurden eingezogen; der Verleger wurde vorübergehend in Haft genommen. Der Vorfall läutete den Beginn der Zensur im reformierten Genf ein. Nicht nur wurde Marie Dentière das Wort entzogen; im gesamten 16. Jahrhundert verließ kein einziges aus weiblicher Feder stammendes Werk mehr die Genfer Druckerpressen.
Über den weiteren Lebensweg Marie Dentières haben wir wenig Kenntnis. Nach der Rückkehr Calvins nach Genf scheint sich das Verhältnis des Ehepaares Froment zu den anderen Reformatoren erheblich abgekühlt zu haben. 1540 übernahm Froment eine Pfarrstelle in Massongy; dort eröffnete er zusammen mit seiner Frau ein kleines Pensionat, in dem das Bildungsangebot für die eigenen Töchter wie auch andere junge Mädchen möglicherweise sogar den Unterricht in der hebräischen Sprache mit einschloss (Graesslé: Vie, 7).
Ein 1561 erschienenes, mit den Initialen M. D. signiertes Vorwort zu einer Predigt Calvins über die Schicklichkeit weiblicher Kleidung (1 Tim. 2,9ff.) wird ebenfalls Marie Dentière zugeschrieben. Die kleine Schrift ist weniger feministisch akzentuiert, ermahnt jedoch Frauen und Männer zugleich, sich schlicht und sittsam zu kleiden und sich durch einen sittlichen Lebenswandel gottgefällig zu erweisen.
Marie Dentière verstarb noch im gleichen Jahr, Ende 1561, in Genf.
Marie Dentières reformatorischem Wirken in Wort und Schrift blieb ein unmittelbarer Erfolg versagt. Ihre Praxis, vor aller Welt das Wort zu verkünden, wurde, wenn nicht unterbunden, zumindest mit tadelnder Herablassung quittiert; ihre theologische Schrift Epistre très utile wurde aus dem Verkehr gezogen und der Vergessenheit anheim gegeben; erst im späten 19. Jahrhundert widerfuhr ihrem Werk zögerlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit.
Marie Dentière meldete sich zu den großen religiösen bzw. konfessionellen Themen ihrer Zeit zu Wort. In ihrer Epistre très utile diskutierte sie aus streng reformierter Sicht die Dogmen und Riten der römischen Kirche und unterzog letztere einer rigorosen Kritik. Auf diese Weise mahnte sie die Richtigkeit des reformierten Glaubens – vorgeblich „von Frau zu Frau“ – bei ihrem intendierten Lesepublikum an, allen voran der offiziellen Adressatin des Briefes, Margarete von Navarra, die trotz ihrer reformatorischen Sympathien dem katholischen Glauben treu blieb.
In Übereinstimmung mit den zeitgenössischen (männlichen) Theologen reformierter Provenienz betont sie, dass Jesus Christus der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch sei und die Heilige Schrift als alleinige Richtschnur für gottgefälliges Handeln zu gelten habe. Die in ihren Augen rein äußerlichen Zeremonien der Katholischen Kirche seien, so argumentiert sie, durch das Kommen Christi aufgehoben und ohne jegliche Wirkung. Mit beißender Schärfe polemisiert sie u. a. gegen Heiligenkult, Pilgerreisen, Bilderverehrung, Fastenzeiten und Speisevorschriften; sie demontiert das Messopfer und die Doktrin von der Transsubstantiation als rein menschliche Erfindungen und hebt den kommemorativen Charakter des Abendmahls hervor.
Weit über ihre männlichen Theologenkollegen hinausgehend klagt Marie Dentière des Weiteren mit Nachdruck eine radikale Neubewertung der Rolle der Frau in der Kirche ein, indem sie die Gleichheit aller Menschen vor Gott hervorhebt und die lutherische Doktrin vom Priestertum aller Gläubigen nicht nur ernst nimmt, sondern – soweit das aus ihrer Biographie greifbar wird – durchaus in die Tat umsetzt.
Auch in der Mädchenbildung scheint sie mit der Gründung ihres Pensionats durchaus versucht zu haben, neue Impulse zu setzen, die über das übliche reformatorische (weniger intellektuell angelegte) Bildungsideal für Mädchen hinausgingen. Die Bemerkungen über die von ihrer Tochter verfassten hebräischen Grammatik mögen ein Hinweis darauf sein, dass sie den Unterricht in biblischen Ursprachen ebenso für Mädchen befürwortete.
Selbst wenn Marie Dentière mit ihren unzeitgemäßen Ideen über Wertigkeit und Amt der Frau im kirchlichen Leben bei den Zeitgenossen keine nachhaltige Wirkung entfalten konnte, ihre Schrift hatte auch bei der „Entdeckung“ dieser vergessenen Reformatorin am Ende des 19. Jahrhundert kaum von ihrer Aktualität für Frauen, die nach wie vor um eine den Männern gleichgestellte Rolle in Kirche und Gesellschaft kämpften, eingebüßt.
(Zum Foto: Genfer Reformationsdenkmal: Stele mit dem Namenszug Marie Dentières; Copyright: C. L. Griffiths)
In Marie Dentières Wirken in Wort und Schrift spiegelt sich ein Bild der Genfer Reformation aus resolut weiblicher Perspektive. Ob Marie Dentière während ihres Aufenthalts in Straßburg auch Katharina Schütz Zell persönlich kennengelernt hatte, ist nicht bekannt; auf jeden Fall aber weist die Genfer Reformatorin in ihrer unerschrockenen Art zu handeln und zu schreiben gewisse Parallelen zu ihrer Straßburger Zeitgenossin, der Laientheologin und ‚Kirchenmutter’ Schütz Zell auf.
So hat Marie Dentière die lutherische Doktrin vom Priestertum aller Gläubigen nicht allein für sich selbst beansprucht; in genuin reformatorischer Manier unterlegte sie diesen Anspruch darüber hinaus mit einem Zeugnis aus der Schrift, wenn sie sich auf die öffentlich wirkenden biblischen Frauen bezieht, allen voran die Samariterin, die sie sich zweifelsohne zum Vorbild nahm, als sie die Frohe Botschaft reformierter Lesart im Kloster der Genfer Klarissen verkündete.
In ihrem Werk Epistre très utile plädierte sie mit Nachdruck für eine Neubewertung der Rolle der Frau in der Kirche, und erläuterte darin ebenso selbstbewusst wie kenntnisreich die Grundsätze der reformierten Lehre, die sie gleichzeitig vehement gegen die aus ihrer Sicht abergläubischen und überholten Riten und Gebräuche der Katholischen Kirche abgrenzte und verteidigte.
Auf der anderen Seite scheute sie sich auch nicht, auf aktuelle kirchliche Missstände im eigenen Lager hinzuweisen und schonungslos zu kritisieren: Während sie in ihrer Schrift die Laschheit der Nachfolger Calvins und Farels geißelt, erhebt sie später ihre Stimme gegen die langen Talare der Genfer Pfarrer. In ihren Vorbehalten gegenüber den pastoralen Gewändern mag ihre Enttäuschung mitschwingen, dass im Zuge der Institutionalisierung der Genfer Reformation nicht nur die Frauen erneut in den Hintergrund des kirchlichen Lebens gedrängt worden waren, sondern dass die anfängliche Spontaneität des Priestertums aller Gläubigen zudem aufs Neue einer formalen Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien hatte weichen müssen.
Die mutige Infragestellung des paulinischen Schweigegebots für Frauen in der Kirche durch Theologinnen wie Marie Dentière stand am Anfang des langen Weges reformierter Frauen zu Durchsetzung ihres Anspruchs, als Pfarrerinnen mit gleichem Recht wie ihre männlichen Kollegen eine Kanzel besteigen und vor aller Welt das Wort verkünden zu dürfen.
Zwischenzeitlich wurde der Verdienst Marie Dentières, die mit allen Kräften für die Einführung einer umfassenden Reformation in Genf gewirkt hat, öffentlich gewürdigt: Im November 2002 fand der Name dieser leidenschaftlichen Verkünderin der Frohen Botschaft ihren Platz auf dem Genfer Reformationsdenkmal.