Marie Huber

Eine essentielle Religion
Eine essentielle Religion Doris Brodbeck
Lebensdaten
von 1695 - bis 1753
Beziehungen

Marie Hubers Gedanken sind besser bekannt als ihr Leben. Sie wird am 14. März 1695 in Genf als Tochter einer wohlhabenden, pietistischen Genfer Bankierfamilie geboren und zieht 1711 zusammen mit ihrer Familie nach Lyon (Frankreich) um, wo sie bis zu ihrem Tod am 13. Juni 1753 bleibt. In ihrer Jugend begeistert sie sich für das Schwärmertum und kehrt als Zwanzigjährige für zwei Jahre nach Genf zurück, weil sie sich berufen fühlt, dort die frohe Botschaft zu verkünden und die Verdorbenheit des Genfer Klerus anzuprangern. So bezeugen es die aus jener Zeit erhaltenen Briefe. Nachdem sie mit dieser Mission gescheitert ist, kehrt sie nach Lyon zurück und lebt dort als Protestantin in einem katholischen Umfeld. Sie bleibt unverheiratet und widmet sich karitativer Arbeit. In Theologie bildet sie sich wahrscheinlich autodidaktisch weiter. Überragende Bedeutung erlangt sie durch ihren Einfluss auf den Genfer Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau (1717-1778).

Wirkungsbereich

(zum Bild: Es zeigt das  Titelblatt des Werkes von Marie Huber: Lettres sur la religion essentielle à l’homme [1739])

Marie Huber beschäftigt sich seit jungen Jahren mit der wahren Frömmigkeit, wandelt sich aber von der Pietistin zur Rationalistin. Sie entwirft das Ideal einer essentiellen Religion, die vom Menschen durch Verstand und Gewissen erfasst wird und die auch die Heilige Schrift der Bibel aus diesem Blickwinkel liest. So wird die offenbarte Religion nicht geleugnet, aber der ursprünglicheren, natürlichen Religion untergeordnet. Mit scharfer Feder verschont Marie Huber keine traditionelle Doktrin des Christentums, die jenen Ansprüchen nicht zu genügen vermag. Paradoxe theologische Formulierungen entlarvt sie als Bemühen, den offensichtlichen Konsequenzen der eigenen Lehre zu entrinnen (vgl. Huber: 241). Durch religiöse Vorstellungskraft erzeugte Gefühle zieht sie in Zweifel. Gefühle und Motivation lassen sich nicht befehlen, höchstens fördern: „Ich gelange letztlich zu dem festen Glauben, dass alles, was nicht in der Natur des Menschen liegt, nicht existieren kann“ (Huber: 242). Ihre Moralvorstellungen richten sich nicht nach religiösen Idealen, sondern stimmen sich auf die Verfasstheit des natürlichen Menschen ab. Sie vermeidet so die Überforderung, wie sie sie noch als Anhängerin des Pietismus im Bestreben nach außergewöhnlicher Heiligkeit selbst erfahren hat. Ihre Denkansätze finden zwar nicht beim Klerus, jedoch bei dem gut zwanzig Jahre jüngeren Philosophen Rousseau einen Rezipienten und verbinden sich mit dessen Auffassung des natürlichen Menschen. Dass sich in jener Zeit der Graben zwischen Kirche und Aufklärung weitet, hat nichts mit Marie Huber zu tun, sondern mit jenen Vermittlungstheologen, die es nicht wagen, wie sie mutig eine neue, tragfähige Verstehensbasis für den Glauben zu suchen.

Reformatorische Impulse

1)    Auf reformatorische Wurzeln weist bei Marie Huber zunächst der Umstand hin, dass sie sich als Frau und Laiin mit Glaubensfragen auseinandersetzt und sich dazu einen eigenen Standpunkt erarbeitet. Die Reformation gestand jedem Gläubigen und jeder Gläubigen zu, sich persönlich mit der Bibel auseinanderzusetzen und verlangte dies auch geradezu. Als junge Frau findet sie so ihren Standpunkt in Konfrontation zum Genfer Klerus, der ihren schwärmerischen Idealen nicht entspricht, später formuliert sie sich in Abgrenzung zu den Aufgeklärten unter den Theologen, die mittels widersprüchlichen Erklärungen Lehrmeinungen wie die Anrechnung von Jesu Versöhnungstat aufrechtzuerhalten suchen.

Sie widersetzt sich all jenen Versuchen, die im Widerspruch zur natürlichen Verfasstheit des Menschen religiöse Ideale errichten wollen. Dies schließt an die reformatorische Haltung an, Glauben nicht als Leistung zu deuten. Überforderung durch unerreichbare moralische Ansprüche pietistischer wie calvinistischer Herkunft lässt sie nicht gelten. Dass sie aber auch mysteriöse Erklärungen für die Versöhnung durch Christi Blut, die Dreifaltigkeit oder die Vorsehung ablehnt, hat mit der Abwehr der Vermittlungstheologie zu tun, die vor lauter Auseinandersetzung mit der Aufklärung den Kern der reformatorischen Versöhnung allein aus Gnade nicht mehr trifft. Dagegen wirkt es befreiend zu hören, dass nach Marie Hubers Meinung nur ein solcher Glaube gute Früchte bringen kann, der in einem positiven Verhältnis zur menschlichen Verfasstheit steht. Und in Übereinstimmung mit der Bibel formuliert sie, dass „eine grundsätzliche Lehre an den Früchten, die sie trägt, zu erkennen sein muss“ (vgl. Mt 7,16; Huber: 247)

Als reformatorischen Impuls kann ferner ihr Versuch gewertet werden, Vernunft und Glauben auszusöhnen. Dass dieser Impuls von der Kirche nicht direkt aufgegriffen worden ist, bedeutet nicht, dass er nicht dennoch über Rousseau reformierend auf die Kirchen einwirkte und das heutige wissenschaftliche Verständnis von (reformierter) Theologie prägte.

Kommentar

Knapp 300 Jahre später verstehen wir uns heute zwar als aufgeklärte Menschen und leben doch mit einer überlieferten Religion, die sich oft in ungeklärtem Widerspruch zur Vernunft befindet. Wir leisten uns den Spagat und beten einmal in frommer Weise mit der urtümlichen Sprache der Bibel, ein andermal liefern wir uns kritische Dispute über traditionelle Glaubensinhalte. Fragmentarisch hat beides seinen Platz in unsrem Leben. Nicht so bei Marie Huber, die so lange nachfragte, bis sie bei dem anlangte, was sie als „essentielle Religion“ im Einklang mit ihrer Vernunft wusste.

Ich verstehe die essentielle Religion von Marie Huber nicht als eine abgeschlossene Lehre, die eklektisch nur noch das an der Bibel gelten lässt, was ihr passt, sondern als einen Weg, mit Tradition authentisch umzugehen. Marie Huber nahm die Aufklärung radikaler ernst als ihre Zeitgenossen und blieb doch nahe am Kern des Evangeliums. Auch heute gilt es erneut die Frage zu stellen, ob unsere aktuellen Glaubensüberzeugungen uns nicht überfordern oder mit unserer Vernunft in Widerspruch geraten. Dies nicht im Sinne einer überheblichen Haltung gegenüber althergebrachtem Wissen, sondern im ehrlichen Bemühen darum, mit dem Überlieferten in einen für unsere Zeit fruchtbaren Dialog zu treten.