Renée, die jüngere Tochter des französischen Königspaares Ludwig XII und Anne de Bretagne wurde am 25. Oktober 1510 im königlichen Schloss von Blois geboren. Wie sie später selbst sagen sollte, wäre sie als Mann auf die Welt gekommen, wäre sie König von Frankreich geworden, im ausgehenden Mittelalter einer der führenden Spieler auf der politischen Bühne Europas. Stattdessen beginnen mit ihrer Geburt Überlegungen, mit wem sie verheiratet werden könnte.
Renée wird schon mit fünf Jahren Vollwaise. Der neue König von Frankreich, Franz I, ist der Ehemann ihrer Schwester Claudia, und er sieht in Renée sofort ein Mittel zum Zweck politischer Allianzen. Als zukünftiger Gemahl ist zunächst Erzherzog Karl – der spätere Kaiser Karl V – vorgesehen, doch diese Allianz kommt nicht zustande.
Renée ist klein von Statur. Ihre Wirbelsäule ist leicht verkrümmt und sie gilt als schwächlich. Später sollte sie fünf kräftige Kinder zur Welt bringen und viele ihrer Zeitgenossen überleben, aber diese für eine potentielle Kaiserin oder Königin durchaus wichtige Widerstandsfähigkeit ist ihr nicht anzusehen. Sie entspricht weder dem Schönheitsideal ihrer Zeit, noch legt sie die im höfischen Leben üblichen weiblichen Qualitäten an den Tag, die standesgemäße Bewerber über ihr Aussehen hätten hinwegsehen lassen. Ihre männlichen Zeitgenossen sind sich darüber einig, dass ihre physischen Mängel derart gravierend sind, dass sie trotz ihrer großen Mitgift keine gute Partie darstellt, und alle Pläne, für sie ein gekröntes Haupt zu finden, schlagen fehl. Schließlich wird sie 1528 mit Ercole (Herkules) d’Este, dem zukünftigen Herzog Ercole II von Ferrara, verheiratet.
Renée ist zum Zeitpunkt ihrer Verheiratung 17 Jahre alt. Die Hochzeit findet in Paris statt. Die kirchliche Trauung und die Festlichkeiten sind ausgesprochen prunkvoll, wie es dem Rang einer königlichen Prinzessin entspricht. Das junge Paar hält sich noch einige Monate in Paris auf, weil in Ferrara die Pest wütet, aber im Herbst desselben Jahres siedeln sie endgültig dorthin über. Während Ercole von seiner jungen Braut nicht begeistert ist, erweist ihr neuer Schwiegervater Renée jede Ehre. Herzog Alfonso ist sich des Ungleichgewichtes zwischen den Familien durchaus bewusst und entschuldigt sich in einem Brief an Renée dafür, dass er ihr kein Leben in dem Stil bieten könne, an den sie gewöhnt sei, versichert ihr aber, dass sie „die Herrscherin von Allem“ sei (vgl. Gorris: 142). Renée bringt einen großen Hofstaat mit sich, darunter auch ihre Cousine, die Baronin von Soubise. Sie zieht in das schönste Gemach im Stammsitz der Este ein, verfügt aber auch frei über andere Besitztümer und Palais der Familie.
Was bedeutet ein Leben im kleinen Herzogtum von Ferrara für Renée? Sicher die Verbannung aus ihrem geliebten Frankreich, aber die Konsequenzen ihres Exils sind noch schwerwiegender: Der französiche Königshof war zur Zeit ihrer Geburt ein Zentrum geistlicher Modernität gewesen, ein Treffpunkt für berühmte Humanisten, deren Ideen bald auch einer protestantischen Gesinnung den Weg ebneten. Noch auf dem Sterbebett hatte Renées Mutter ihre kleine Tochter ihrer Cousine, der reformfreundlichen Michelle de Saubonne, Baronin de Soubise anvertraut, die später wie Renée selbst eine Protestantin der ersten Stunde werden sollte. Aus diesem Klima wird Renée jetzt herausgerissen, und findet sich im erzkatholischen Ferrara an der Seite des zukünftigen Herzogs Ercole.
Für Ercole ist Religion zunächst einmal politisches Kalkül. Ferrara ist klein und gänzlich vom politisch mächtigen Papst abhängig. Solange – und nur solange – Ferrara linientreu ist, kann es florieren. Und es floriert: Der kleine Staat hat eine international anerkannte Universität, die Gelehrte und Studenten aus ganz Europa anzieht und Handwerk und Kommerz blühen. Auch seine Ehe mit Renée ist für Ercole politisches Kalkül. Während die Ehe mit Ercole für Renée den sozialen Abstieg im Exil bedeutet, stellt sich die Situation für den zukünftigen Herzog von Ferrara zunächst recht attraktiv dar. Ercole kommt in den Besitz eines kleinen Stückes französischen Territoriums und beabsichtigt, von der engen Beziehung zu Frankreich zu profitieren.
Zu sagen, Renée und Ercole liebten sich nicht, wäre eine Untertreibung. Als der zwanzigjährige Ercole, ein Liebhaber alles Schönen, seine Braut 1528 zum ersten Mal sieht, soll er fast in Ohnmacht gefallen sein. Die unglückliche Renée schreibt an ihre Verwandte und Vertraute, Margarete von Navarra „Ercole benutzt solch derbe und befremdliche Worte mir gegenüber, dass Du Dich wundern würdest, sie zu hören“ (zitiert in Servadio: 28).
Renée findet in Ferrara keine neue Heimat. Sprache und Kultur bleiben ihr fremd. Sie war mit einem großen Hofstaat, einer französischen Enklave Gleichgesinnter, aus Frankreich nach Ferrara gekommen und hält sich bevorzugt in deren Gesellschaft auf, in ihren Gemächern oder anderen Besitztümern der Herzogsfamilie. Das bunte Treiben im Stammsitz der Familie Este – mit Höflingen, rauschenden Festen, Jagden, Musik und Tanz – entspricht ihr nicht, was aber nicht heißt, dass Renée menschenscheu ist: Wie in Italien so spitzt sich auch in Frankreich die Lage für Renées Glaubensgenossen zu und es spricht sich bald herum, dass in Italien gestrandete französiche Glaubensflüchtlinge bei Renée in Ferrara Gastfreundschaft und Sicherheit finden. So wird ihr Hof zum Anziehungspunkt für verfolgte Landsleute. Der bekannteste von ihnen ist Johannes Calvin, der 1536 bei ihr Aufnahme und Schutz findet, aber die Liste derer, die sie aufnimmt, ist lang. Auch verfolgte Italiener werden beherbergt, finanziell unterstützt und gegebenenfalls versteckt. Auffällig ist hier immer wieder ihr persönliches Engagement. Soziale Schranken existieren für sie nicht, wenn es darum geht, Leben zu retten. Ob ein Verfolgter Edelmann oder Bäcker ist, die Königstochter Renée setzt sich ein. (Später sollte sie dasselbe für Katholiken tun, die in den Wirren der französichen Glaubenskriege gefangen waren, und selbst für Mönche.)
Ercole beobachtet Renées protestantisches Engagement mit Sorge und versucht es zu unterbinden, doch zeigt sich zunächst desinteressiert an ihren persönlichen Ansichten.
In den dreißiger Jahren beherbergt Renée noch überwiegend verfolgte Franzosen, die sich in ihrem großen Hofstaat verlieren, aber in den vierziger Jahren engagiert sie sich zunehmend auch für verfolgte Italiener. 1542 sieht die Gründung der Römischen Inquisition und Renées Engagement bringt auch Herzog Ercole in Konflikt mit Rom. Ferrara ist vom Kirchenstaat abhängig. In einigen Kreisen wird das Herzogtum als ein häretischer Hexenkessel angesehen und das ist Ercoles Politik nicht dienlich. Er hat nicht den erhofften Profit aus der Verbindung zu Frankreich gezogen und Renées religiöses Engagement lenkt die Aufmerksamkeit des Vatikans auch auf ihn.
In diese Zeit fällt Renées Beziehung mit einer anderen Zentralfigur der italienischen Reformationszeit, der Humanistin Olympia Morata (1526-1555). Renée lernt Olympia durch deren Vater, Fulvio Pellegrino Morato, kennen, der am Ferrareser Hof Grammatiktutor (d.h. Latein und Griechischlehrer) ist. Der Humanist und Protestant Morato hatte seine begabte Tochter schon früh in den humanistischen Disziplinen unterrichtet und Renée ist von dem jungen Mädchen so beeindruckt, dass sie die 13-Jährige um das Jahr 1538 als Gesellschafterin für ihre fünf Jahre jüngere Tochter Anne an den Hof holt. Olympia verbringt glückliche Jahre in Ferrara, wo sie eine enge Beziehung mit Anne, die humanistische Atmosphäre und eine ausgezeichnete Ausbildung genießt. 1546 verlässt sie den Hof, um ihrem erkrankten Vater nahe zu sein. Bei ihrer Rückkehr findet sie Anne nicht mehr vor. Ercole, immer auf seinen Ruf als guter Katholik bedacht, hat sie inzwischen mit dem einflussreichen katholischen Franzosen, dem Herzog von Guise, verheiratet. Ercole gelingt es schließlich auch, durch geschickt platzierte Spione einen Keil zwischen Renée und Olympia zu treiben, die den Hof nach kurzem Aufenthalt endgültig verlässt, schockiert über die Zustände dort und von Renée enttäuscht.
Renée lässt sich auch von der römischen Inquisition nicht von ihrem Kurs abbringen und unterstützt offen Gesinnungen, die als häretisch gelten und inzwischen mit dem Tode bestraft werden. Ende der vierziger Jahre gerät sie unter massiven Druck und Anfang der fünfziger Jahre wird ihre Lage prekär: In einem Brief, der ein Meisterstück an Opportunismus und einem macchiavellischen Umgang mit der Wahrheit ist, wendet sich Ercole 1554 an den französichen König (inzwischen Renées Neffe Heinrich II.) mit der Bitte um Unterstützung. Ercole gibt vor, dass nur seine große Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern und seine Angst um ihrer aller Seelenheil ihn dazu bewegen würden, den allergnädigsten Verwandten seiner Frau zu bitten, doch auf diese einzuwirken, dass sie den rechten Glauben wiederfinden möge, da sie den Einflüsterungen lutherischer Verführer zum Opfer gefallen sei. Die humanistische Erziehung, die die junge Renée am französichen Hof genossen hatte, klammert Ercole vorsorglich aus: der Brief enthält nichts, was der französiche König als Affront gegen Frankreich oder das französiche Königshaus interpretieren könnte – immerhin handelt es sich bei Renée um seine Tante. Trotzdem gelingt es Ercole, als Behüter des wahren Glaubens darzustehen.
König Heinrich reagiert ganz so, wie Ercole es sich erhofft hatte: Er betraut Ignatius von Loyola mit der Lösung des Problems und dieser entsendet Mathieu Ory, den Generalinquisitor von Frankreich an Renées Hof. Ory soll sie auf den Weg des rechten Glaubens zurückführen. Calvin hört von den Entwicklungen und auch er entsendet einen Geistlichen, François de Morel, der wiederum Renée den Rücken stärken soll.
Renée residiert zu diesem Zeitpunkt im Palazzo San Francesco. Wieder bleibt sie standhaft – sie weigert sich, Ory zu empfangen. Da verliert Ercole die Geduld. Er lässt die beiden Töchter, die bei Renée sind, in einen Konvent bringen und Renée selbst in ihr Gemach im Stammhaus der Este, wo sie in Isolation gehalten wird. Jetzt muss sie dem Inquisitor Ory zuhören, so oft und so lang wie dieser es wünscht. Mit Ercoles Billigung wird sie zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Renées Widerstand dauert noch zwei Wochen, dann widerruft sie. Sie lässt verlauten, sie unterwerfe sich der katholischen Kirche, aber nicht der Kirche in Rom – eine letzte Rebellion. Verschiedene Quellen beschreiben die dramatischen Vorkommnisse. Ory selbst schreibt, Renées Widerstand sei nach einem vierstündigen Gespräch in einer Flut von Tränen zusammengebrochen.
Der stets hochmoralische Calvin schreibt in einem Brief über diesen Widerruf: „Was soll ich sagen, abgesehen davon, dass Beständigkeit unter den Hochwohlgeborenen der Welt eine seltene Tugend ist“ (zitiert in Jansen: 169.) Auch Olympia Morata erfährt vor ihrem frühen Tod noch von Renées Widerruf und kommentiert ihn in einem Brief so: „Ich bin nicht überrascht. Ich kenne sie sehr gut […]“ (zitiert in Roveri: 173)
Doch Renée geht aus dieser Episode keinesfalls gebrochen hervor. Sobald sie nicht mehr im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, beschränkt sie ihre Teilnahme am katholischen Ritus auf ein Minimum. Aus Briefen geht hervor, dass Ercole sich dessen vollends bewusst ist. Im März 1555 füllt er seinen Hof mit Jesuiten, die seiner Frau und seinem Sohn Luigi als Seelenbeistand dienen sollen. Ob Ercole sich für Renées Seelenheil interessiert, sei dahingestellt. Sicher ist, dass seine Einladung an die Jesuiten – dem streitbaren Arm der Gegenreformation – ihn vor Anschuldigungen schützen soll, in Ferrara würden häretische Lehren toleriert. Ferraras Abhängigkeit vom Kirchenstatt bedeutet, dass über Ercole immer das Damoklesschwert einer Annektion schwebt. Die Situation spannt sich noch weiter an, als zwei Monate später Gian Pietro Carafa Papst wird, ein Mann, der wie kein anderer die Inquisition personifiziert. Ercole verbringt den Rest seiner Jahre in der Sorge um sein Herzogtum. Er stirbt 1559.
Nach dem Tode ihres Ehemannes kehrt Renée nach Frankreich zurück. Auch hier ist sie wieder in Familienbeziehungen verstrickt, denn der Anführer des katholischen Lagers im blutigen Glaubenskrieg ist ihr eigener Schwiegersohn, der Herzog von Guise. Renées Sympathien sind mit dem Anführer des Hugenottenlagers, Admiral Coligny. Da wird der Herzog von Guise von Hugenotten getötet, wofür sein Sohn Henri, Renées Enkel, den Hugenottenführer Coligny verantwortlich macht. Eine Tragödie bahnt sich an.
Am 18. August 1572 wird in Paris die Hochzeit zwischen dem Hugenotten Heinrich III. von Navarra und der Katholikin Margarete von Valois zelebriert. Der Versuch ein Gleichgewicht zwischen Katholiken und Hugenotten herzustellen. In der Nacht vom 23. zum 24. August, der Bartholomäusnacht, kommt es zu einem Massaker an den sich aus diesem Anlass in Paris aufhaltenden Hugenotten. Auch Renée, die unter den Gästen ist, muss sich in Sicherheit bringen. Neun Tage lang bleibt sie in ihrem Quartier eingeschlossen. Sie übersteht das Blutbad, das 3000 Opfer fordert, aber muss erfahren, dass ihr eigener Enkel Henri aus Rache für den Tod seines Vaters, dem Herzog von Guise, ihren Freund und Vertrauten, den Hugenotten Admiral Coligny getötet hat.
Als Renée zwei Jahre später 1574 stirbt, wird ihr ein Begräbnis im Kreise der Königsfamilie in der Basilica von St. Denis verwehrt. Sie bleibt in Montargis. Ein einfacher Gedenkstein trägt die Inschrift, „Mögen noch viele Töchter Frankreichs ihrem Vorbild an Glauben, Geduld und Nächstenliebe nachfolgen“. Der genaue Ort ihres Grabes ist nicht bekannt. Aus Angst vor Grabschändung war er zunächst geheim gehalten worden und geriet dann in Vergessenheit.
Von Anfang an benutzt Renée die ihr zur Verfügung stehenden Besitztümer der Familie Este um Landsleute aufzunehmen, die auf der Durchreise sind. Dass dies oft Hugenotten sind, die aus Frankreich geflohen waren, ist kein Geheimnis, und Ercole versucht, sie von ihrem gefährlichen Kurs abzubringen. Der erste nachdrückliche Versuch von Seiten Ercoles, die Position seiner Frau zu schwächen, erfolgt im Jahr 1536, als er ihre mütterliche Freundin und Verwandte, Madame de Soubise, nach Frankreich zurückschickt. Renée wird von diesem Akt hart getroffen, aber lenkt nicht ein. Fast zur gleichen Zeit bietet sie dem verfolgten Reformatoren Calvin Zuflucht. Er reist unter dem Namen Charles d’Espeville und bleibt unerkannt. Ein Jahr später sind Vittoria Colonna und Bernardino Ochino (damals noch Kapuzinermönch, aber ab 1541 lutherischer Pastor) bei ihr zu Gast. Ercole tritt dadurch in den Verdacht, sein Herzogtum nicht unter Kontrolle zu haben und Ferrara wird von zwei einflussreichen Jesuiten besucht. Das Engagement seiner Frau ist Ercoles Politik abträglich und die Konflikte zwischen Renée und ihm mehren sich.
Man muss hier vielleicht unterstreichen, dass Ercole nicht aus Bigotterie gegen die reformatorischen Umtriebe seiner Frau vorgeht. Ferrara ist kulturell offen und solange sein Herzogtum davon profitieren kann, zeichnet sich Ercole vor allem durch seine Toleranz aus: Ab 1536 bietet er aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden eine neue Bleibe, was für den Handel nur positiv ist. Zwischen 1536 und 1554 ist Ferrara der Hauptanlaufpunkt für sefardische Juden. 1554 findet ein rabbinischer Kongress statt und zwei Jahre später kommt es zur Gründung einer jüdischen Universität. Die Gesetze, die Ercole zum Schutz der Juden einführt, sind die fortschrittlichsten in Italien.
Aber Renées protestantisches Agieren ist etwas anderes. Seit 1542 steht auf Häresie die Todesstrafe. Ferrara ist direkt von Rom abhängig. Für Ercole stellt sich also nicht die Frage nach der wahren Religion sondern – nur und immer – die Frage nach dem Wohl- und Fortbestand seines Herzogtums. Trotz verstärkten Druckes weicht Renée nicht von ihrem Weg ab. Aus ihrem Schloss Consandolo macht sie seit 1540 ein ausgesprochenes Auffanglager für Verfolgte und einen sicheren Ort für protestantische Schriften und Bücher.
Die Zahl derer, für die sie sich einsetzt, ist zu groß, um sie alle zu nennen. Der Fall des Bäckers Fanino Fanini ist nur einer von vielen: Fanini war bereits Ende 1547 in der Romagnia wegen Häresie angeklagt worden, hatte aber widerrufen. 1549 finden wir ihn in Ferrara – für die Inquisition ein Zentrum der Häresie. Er wird als „recidivo“, als rückfälliger Häretiker zum Tode verurteilt. Das hatte es in Ferrara noch nie gegeben, und viele Ferrareser sprechen ihm durch die Gitter seines Gefängnisses Trost zu. Trotz der Angst um seine Kinder will Fanini diesmal nicht abschwören. Renée sucht nach Mitteln und Wegen, ihn zu befreien. Sie hat einen Plan, der vorsieht, dass Fanini die Gelegenheit bekommt, sich Kerker und Todesstrafe dadurch zu entziehen, dass er sich als Soldat verpflichtet. So nützt sie ihre Beziehungen und ruft den Heerführer Hauptmann Camillo Orsini auf den Plan. Der ersucht Ercole darum, Fanini möge sich als Freiwilliger zu Orsinis Heer melden.
Ercole versucht, Zeit zu gewinnen. Papst Pau III. ist gerade gestorben, und ein neuer Papst würde vielleicht Gnade walten lassen. Faninis Schicksal hängt von dem Konklave ab. In dieser Zeit des Wartens schreibt Renée an Ercole einen Brief, in dem sie Gott und den Himmel beschwört. Sie fleht und bittet mit ganzem Herzen und ganzer Seele um Gnade für den Bäcker Fanini, seine Kinder, seine Frau:
„[…] Was mich angeht, mein Schmerz wird nie vergehen, aber er ist nichts gegen den des armen Vaters, der armen Mutter und der armen kleinen Kinder, für die ich Euch um Gnade bitte, dass Ihr sie vor den so grausamen Händen retten mögt. Wenn ich denn in Eurer Gnade stehe, empfehle ich mich dieser Eurer Gnade und erinnere Euch an die Barmherzigkeit, die Ihr den Armen und Euren Untertanen schuldig seid. Eure ergebendste und allergehorsamste Gemahlin Renée“ (zitiert in Roveri: 98).
Das Konklave 1549/50 ist eine der längsten und schwierigsten der Kirchengeschichte. Einer der Favoriten ist der Engländer Kardinal Reginald Pole, ein gemäßigter Theologe, der die Spaltung der Christenheit verhindern will. Er lehnt den Beschluss des Konzils von Trient ab, das die Rechtfertigungslehre Luthers „sola fides“ zur Häresie erklärt. Der Hauptvertreter der Inquisition, der einflussreiche Kardinal Carafa, weckt Zweifel über Poles Rechtgläubigkeit, und statt Pole wird Giovanni Maria del Monte Papst, der sich von Carafa steuern lässt.
Der Inquisitor Carafa will Faninis Kopf und drängt den Ferrareser Gesandten in Rom auf ein Urteil. Ercole gibt nicht sofort nach. Er lässt antworten, die Verurteilung von Fanini sei Sache des Papstes, nicht der Inquisition, doch Papst Giulio III. (del Monte), unfähig, Carafas Inbrunst zu kontrollieren, ordnet die Exekution an. Und Carafa tut noch mehr: Er lässt den Ferrareser Gesandten wissen, dass im Haus der alleredelsten Herzogin von Ferrara schlimme lutherische Dornen wüchsen. Ercole lenkt ein. Er will in Rom nicht als Dulder der Reformation dastehen und setzt ein Zeichen: Sollten am Hofe der Herzogin lutherische Dornen wachsen, geschieht dies ohne sein Wissen und ohne seine Duldung. Fanini wird erdrosselt und seine Überreste auf dem Domplatz von Ferrara verbrannt, nur wenige Meter von der Fassade des herzöglichen Schlosses, unter den Augen von Renée, die für ihn gekämpft hatte.
Zu den Menschen, für die Renée sich einsetzte, gehören der Calvinist Louis Du Tillet, der verfolgte französiche Dichter Clement Marot (der schon bei Renées Hochzeit ein Ephitalamium, ein Hochzeitsgedicht, vorgetragen hatte), sowie Bernardino Occhino, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der italienischen Reformation überhaupt, dessen Flucht aus Italien sie finanziell unterstützt. Ein weiterer Franziskaner, der aufgrund seiner Konversion verfolgt wird und flüchten kann, ist der Sizilianer Paolo Ricci (später bekannt als Cammillo Renato). Auch er bittet Renée um Hilfe und findet Unterstützung. Spätestens in den vierziger Jahren ist Renée auch außerhalb Italiens für ihre Hilfsaktionen bekannt. Nach Frankreich zurückgekehrt soll sie im Laufe der Zeit um die 10.000 Menschen bei sich in Montargis aufgenommen haben. Auch ihre Freundschaften lassen wenig Zweifel über ihre Gesinnung: Vittoria Colonna, Isabella Bresegna und Lavinia della Rovere, alle drei engagiert in der Reformbewegung, sind bei ihr in Ferrara zu Gast, nicht zu vergessen ihre frühe Verbindung mit Olympia Morata und ihre Wertschätzung für Olympias Vater, den protestantischen Humanisten Fulvio Pellegrino Morato und die langwierige Korrespondenz mit dessen Freund, Celio Secondo Curione (den sie eine Zeit lang beherbergt und dem sie schließlich eine Anstellung bei Freunden in Lucca vermittelt).
Nach dem Tode Ercoles 1559 kehrt Renée nach Frankreich zurück und lässt sich in ihrem Schloss in Montargis nieder. Calvin selbst hatte sie gewarnt: „Glaubt nicht, in Frankreich etwas ausrichten zu können, denn hier herrscht großes Chaos“ (zitiert in Bainton: 243) Das Ende der Glaubenskriege, die mit kurzen Unterbrechungen bis 1598 wüten sollten, würde sie nicht mehr miterleben. Nach ihrer Übersiedlung nach Frankreich sollte Renée keinen Tag mehr in Bequemlichkeit und Luxus leben. Ihr kleines Schloss ist ständig mit Flüchtlingen überfüllt – Besucher sprechen von 300, aber dokumentiert sind bis zu 460. Diese Menschen werden auf ihre Kosten verköstigt. Renée hat keine Geldsorgen, aber sie sieht auch nie auf die Ausgaben. Als sie im 3. Religionskrieg mit Waffengewalt dazu gezwungen wird, 460 Menschen fortzuschicken, treibt sie Hunderte von Kutschen und Karren auf, und gibt den Flüchtlingen Pferde und Verpflegung mit auf den Weg.
Durch ihre familiären Verbindungen ist Renée in einer schwierigen Position. Ihre Cousine Johanna von Albret, die Tochter von Margarete von Navarra, ist eine aktive Unterstützerin der Hugenotten, während Renées Schwiegersohn, der Herzog von Guise, das katholische Lager anführt und in den Besitzungen seiner Schwiegermutter ein Nest von Häretikern sieht. Tatsache ist, dass Renée in Montargis sowohl Hugenotten als auch Katholiken Zuflucht bietet und zuweilen sogar Mönchen.
Wie bereits erwähnt wurde, sollte Renée auch das Massaker der Bartholomäusnacht miterleben. Zeitzeugen berichten, dass das Pflaster von Paris so nass von Blut gewesen sei, als sei ein starker Regen niedergegangen und dass es keine Straße, kein noch so kleines Gässchen gegeben habe, ohne Ermordete. Renée überlebt das Gemetzel in ihrem Quartier, in dem sie neun Tage lang eingeschlossen bleibt. Auch hier bietet sie Zuflucht, wem sie kann.
Keines ihrer Kinder folgt ihrem protestantischen Vorbild. Ihr älterer Sohn, der nächste Herzog von Ferrara, ist intoleranter als sein Vater, der jüngere wird Kardinal. Die Töchter werden katholischen Prinzen zur Frau gegeben. Um die Zeit, als Montargis von katholischen Truppen bedroht wird, ist die ältere Tochter Anne mit dem Herzog von Guise, dem derzeitigen Anführer des katholischen Lagers, verheiratet. In einem Brief an Calvin betont Renée jedoch, dass gerade der Herzog von Guise die Plünderung von Montargis verhindert habe. In einem Konflikt, in dem die verfeindeten Lager schwarz oder weiß gemalt werden, nimmt Renée noch Schattierungen wahr.
Renée sah sich als Calvinistin, aber ohne Calvins Härte. Wir finden in ihr eine Vorwegnahme von Bullingers Toleranz und eine große Humanität.
So schreibt sie an Calvin, dass sie Übergriffe von Seiten der Hugenotten genauso wenig tolerieren könne wie Gewalttaten von Katholiken oder Predigten voller Hass, wenn sie doch voller Liebe sein sollten.
Wir wissen, dass sie bei der Organisation der jungen calvinistischen Kirche involviert sein wollte, einer der ersten Frauen, die diesen Anspruch hatten. Sie stieß damit auf Unverständnis. Morel, der calvinistische Pastor, der bei ihr in Montargis ist, schreibt in einem Brief an Calvin: „Renée will den Sitzungen der Synode beiwohnen, so wie die Königin von Navarra. Aber wenn Paulus wollte, dass Frauen in der Kirche schweigen, wie viel weniger sollten sie an den Entscheidungen mitwirken. Wie die Papisten und die Anabaptisten uns verhöhnen werden, wenn sie sehen, dass wir von Frauen regiert werden!“ (zitiert in Bainton: 247).
Auch Renée wendet sich an Calvin. In einem Brief kommentiert sie Morels Vorgehen und versucht Calvin die Augen zu öffnen:
„Ich habe versucht, Morel zu unterstützen. Zu Beginn lud er mich dazu ein, dem von ihm ernannten Ältestenrat beizuwohnen. Dann sagte er mir, Frauen sollten nicht teilnehmen, obwohl die Königin von Navarra, die Frau des Admirals (Coligny) und die Königin selbst solchen Versammlungen beiwohnen. Aber ich habe nicht weiter darauf bestanden. Ich habe mich mit Coligny darüber beraten, wie man Untugend und skandalöses Verhalten unter den Anhängern der reformierten Religion unterbinden kann. […] Ich wünschte, Sie könnten kommen und es mit eigenen Augen sehen. Monsieur Calvin, einer der Pfarrer hat mich zu einem teuflischen Hass angespornt, den Gott uns nicht befohlen hat. […] Und was diejenigen betrifft, die den König von Navarra und Condé davon überzeugen wollen, sich David und nicht Christus als Vorbild zu nehmen, möchte ich sagen, dass, wenn es denn überhaupt jemanden gibt, der von Gott zurückgewiesen wird, es der ist, der die Wahrheit mit seinen unverschämten Lügen verdreht. Monsieur Calvin, ich bin erschüttert, dass Sie nicht wissen, wie sich jeder Zweite in diesem Gebiet aufführt. Selbst einfache Frauen werden dazu angestachelt, zu töten und zu meucheln. Das ist nicht das Gesetz Christi. Ich sage dies aus der großen Verbundenheit heraus, die ich der reformierten Religion entgegenbringe“ (zitiert in Bainton: 249).
Renées Leben gibt immer wieder Anlass zum Nachdenken. Auf dem politischen Schachbrett war die Königstochter trotz ihrer sozialen Position ein Bauernopfer. Ihre Verheiratung mit Ercole war für sie eine Verbannung in ein ungeliebtes Exil, aber es ist auch richtig, dass sie, hätte sie sich in ihr Schicksal gefügt, ein recht angenehmes Leben im kleinen aber blühenden Ferrara hätte führen können. Hätte sie ihren Protestantismus „diskret“ ausgelebt, ohne die politischen Ambitionen ihres Mannes zu gefährden, wäre sie mit der Inquisition gar nicht in Berührung gekommen. Ercole war sicher kein liebevoller Ehemann, aber er war dem kleinen Ferrara ein moderner Herrscher, der auf Kommerz, Bildung und friedliche Zusammenarbeit setzte. Für diese war wiederum Friede mit dem katholischen Establishment eine Vorraussetzung. Als Renées offene Unterstützung von Glaubensflüchtlingen bekannt wurde, rief Ercole erst den katholischen französischen König und später die Inquisition auf den Plan, um Ferrara und sich selbst vor Konsequenzen zu schützen. Renées private Ansichten waren ihm egal. Während der frühen Reformationszeit kam es durchaus vor, dass Protestanten ihre wahre Gesinnung verbargen. Die sogenannten „Nikodemiter“ (nach Nikodemus, der Jesus nur im Schutz der Dunkelheit aufsucht) gab es nicht nur in Italien. Aber Renée war nicht diskret. Sie war immer offen, immer praktisch in ihrem Glauben. Verfolgten zu helfen war für sie nicht nur angewanntes Christentum, es war die einzige Art Christentum.
Dieselbe Renée, die Zeit ihres Lebens ständig jemanden versteckte, verteidigte oder finanziell unterstützte, wird dann von der Inquisition zum Widerruf aufgefordert. Sie weigert sich und wird unter lebenslanges Hausarrest gestellt, eine Isolationshaft, ohne Zugang zu ihren Töchtern. Nach zwei Wochen widerruft sie unter Tränen – nach stundenlangem Ringen mit dem katholischen Priester. Dieser Widerruf wird von Calvin zum Anlass genommen, sich über den Wankelmut der Edlen und Hochwohlgeborenen auszulassen und noch Jahrhunderte später galt er als eine Art Offenbarung ihres fehlenden theologischen Tiefgangs.
Mir gibt auch dieser Widerruf Anlass zur Reflexion. Renée hatte Kinder und einige Quellen berichten, dass es die Trennung von ihren beiden jungen Töchtern gewesen sei, die sie nicht hätte ertragen können und die sie schließlich zum Einlenken gebracht hätte. Ich denke, andere Faktoren spielten ebenfalls eine Rolle. Renées Protestantismus, ihr Christsein, war nie etwas gewesen, was sie allein, im stillen Kämmerlein, praktiziert hatte. Auch die Wahl zwischen Freiheit und Katholizismus auf der einen Seite oder Protestantismus in Isolation, ein Leben in Ohnmacht angesichts allem, was sie verhindern und ändern wollte, mögen letztlich die Entscheidung zum Widerruf möglich gemacht haben. Für mich hat auch ihr Widerruf noch etwas Protestantisches. Sie war keine Säulenheilige. Sie war kein Modell christlicher Vollkommenheit im katholischen Sinne, und vielleicht fühlte sich die Protestantin in ihr auch gar nicht in der Pflicht, diese Rolle zu übernehmen. Mir kommen die Worte des Marburger Theologen Hans-Martin Barth in den Sinn, der schreibt: „Der evangelische Heilige ist der tapfere Sünder, der sich im Vertrauen auf Gottes Vergebung in Christus auch eine falsche Entscheidung zu treffen traut. Er scheut nicht vor der Verantwortung zurück, wenn er sich gesellschaftlich auf Glatteis begeben sollte; er kann es sich leisten, risikofreudig zu sein. Der Heilige im Sinn der Reformation ist in erster Linie Zeuge für Gottes gnädige, freimachende Gegenwart.“ (Zitiert in Ziegler: Vorwort).
Was wir wissen, ist, dass der Widerruf sie nicht brach. Sie erlangte erneut die Freiheit und machte weiter, wo sie aufgehört hatte. Mehr noch, sie wurde noch rühriger, noch aktiver als vorher: Nach Ercoles Tod geht sie zurück nach Frankreich, obwohl sie weiß, was sie dort erwartet – Calvin selbst hat sie gewarnt. Ihr Schloss in Montargis macht sie zu einem sicheren Hafen für alle Verfolgten: Hugenotten, ja, aber auch Katholiken, wenn diese bedroht wurden, und selbst Mönche, die sie um Hilfe bitten.
Renées Selbstbewusstsein, mit dem sie verlangte, bei der Entstehung der calvinistischen Kirche eine Rolle zu spielen, mochte davon herrühren, dass sie eine Königstochter war. Wie sie selbst von sich sagte, wäre sie als Junge zur Welt gekommen, wäre sie König von Frankreich geworden. Was sie von diesem Thron trennte, war der Zufall ihrer Geburt: Als Mädchen wurde sie nicht Königin, sondern meistbietend verheiratet. Die zu Renées Lebzeiten unantastbare Ungleichheit der Geschlechter stand für sie am Anfang ihres ungeliebten italienischen Exils. Sie akzeptierte keine weitere Benachteiligung, wenn es um Glaubensfragen ging. Sie war eine der ersten Frauen, die in eine männliche kirchliche Hierarchie einbrechen wollten, wofür sie – hinter vorgehaltener Hand – auch im protestantischen Lager kritisiert wird, wie etwa aus Calvins Briefwechsel hervorgeht
Über die Jahrhunderte hat Renées Wirken oft scharfe Kritik gefunden: Sie wäre sich bewusst gewesen, dass ihr nie etwas Schlimmes hätte zustoßen können, dass sie durch ihre hohe soziale Stellung nie in Lebensgefahr gewesen wäre – die Tochter eines französischen Königs wäre nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden (siehe den anonym verfassten Artikel Renée, Duchess Of Ferrara 1510-1575. Sie soll ihre kleinen Rebellionen in einer Art Komfort-Zone ausgelebt haben. Ihre männlichen Zeitgenossen beschrieben sie als hässlich, Calvin rügte ihren Mangel an Beständigkeit (trotz dieser Kritik schrieb er ihr noch von seinem Sterbebett). Heute wird Renée als eine der Frauen wiederentdeckt, die ihre Zeit mitgeprägt haben, die den Weg bereitet haben einer Zukunft entgegen, die wir wiedererkennen.
Renée lebte in einer Zeit, in der das Christentum völlig gespalten und zersplittert war – alle hatten den Anspruch, Gottes Willen auszuführen, und auf beiden Seiten finden wir Auswüchse einer „gnadenlosen Christlichkeit“ . Wenn Protestanten heute ohne Probleme einer katholischen Messe beiwohnen, fürchteten sie damals um ihr Seelenheil, da die Messe als Blasphemie galt und der Papst als der Antichrist. Wir haben heute Schwierigkeiten, uns ein Europa vorzustellen, in dem Katholiken und Protestanten in blutige Kriege verstrickt waren. Zu den Menschen, die uns aus diesem absurden Kampf – denn wie kann ein Streben nach einem besseren Verständnis von Gott mit Gewalt ausgeführt werden? – herausgeführt haben, gehörte Renée von Frankreich, Herzogin von Ferrara. Sie war in Vielem außergewöhnlich, aber ihr praktischer humanistischer Einsatz im Krieg, ihr angewandte Glaubensfreiheit, ihr Wunsch sich (obwohl eine Frau) in der Bildung der neuen Kirche einzusetzen, waren ihrer Zeit weit voraus. Trotz ihres Standesbewusstseins kannte sie keine sozialen Schranken, wenn es darum ging, zu verteidigen, zu retten und zu helfen. Sie wählte ihre Kämpfe nicht danach aus, ob sie sie gewinnen konnte. Ihre eigene hohe soziale Stellung nutzte sie nur „defensiv“, wenn ihre Freiheit – und das ist für Renée immer in erster Linie ihre Glaubensfreiheit – eingeschränkt wird, nie mit sozial Schwächeren und nie im Kontext ihres Glaubens.
Ein (noch) persönlicher Kommentar wäre dies: Ich lebe in Süditalien, unweit der Strände, wo die Boote mit afrikanischen Flüchtlingen ankommen oder ihre Körper angeschwemmt werden. Die Länder, die zu Renées Zeiten in Aufruhr waren, leben inzwischen friedlich in einem Staatenbund, in dem ein bekennendes Christentum eine eher untergeordnetere Rolle spielt, aber jenseits unserer Grenzen herrschen immer noch und immer wieder Kriege, mit all den Gräueln, den Opfern, den Flüchtlingsströmen, die Renée wiedererkannt hätte. Und Religion spielt auch immer noch eine Rolle, auch wenn heute die Feind- oder Angstbilder andere sind. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit Bildern von Flüchtlingsströmen, Minenopfern oder Bomben-Toten konfrontiert werden. Die Schauplätze sind nicht mehr, wie zu Renées Zeiten, Paris oder Schweinfurt, sondern Palestina oder Nigeria, aber das menschliche Leiden, die Abgründe menschlichen Handelns, sind dieselben. Damals wie heute verbirgt sich hinter der Religion die Politik mit ihren Machtspielen, die sich Religion und Angst bedient, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Auch das hat sich nicht geändert. Angesichts dessen sind Renées Umgang mit Leiden und Unrecht, ihr konsequentes Eintreten für Gewissensfreiheit, ihre Ablehnung, einen Menschen nach seiner religiösen Überzeugung zu beurteilen, ihre absolute Ablehnung von Gewalt zeitlos.
Ihr Widerruf macht sie mir persönlich nur noch zugänglicher. Wenn Calvin ihren Moment der Schwäche so vernichtend beurteilt, lässt er außer Acht, dass wir im Neuen Testament selbst von einem ähnlichen Versagen hören. Man muss nicht besonders bibelfest sein, um die Geschichte von Pertrus zu kennen, der Jesus verrät, und später zu einem der wichtigsten und aktivsten seiner Verkünder wurde. Momente des menschlichen Versagens sind in unser christliches Verständnis ebenso eingebaut wie das Vertrauen auf Gottes Vergebung. Ich denke es ist dieses Zutrauen, das Renée weiter machen lässt und das uns dazu ermutigen sollte, uns einzumischen auch angesichts verlorener Kämpfe. Damals wie heute.