Gräfin Sibylle (geboren 17. Juli 1512 in Düsseldorf und verstorben 21. Februar 1554 in Weimar) war die älteste Tochter von Herzog Johann III. von Jülich-Kleve-Berg (1490-1539) und seiner Ehefrau Maria von Geldern (1491-1543). In der Reformationszeit zeigte Herzog Johann III. eine ausgleichende Haltung und bemühte sich um einen Mittelweg zwischen den Bekenntnissen. Seine freigeistige Gesinnung ließ es trotz seiner Zugehörigkeit zum katholischen Glauben zu, Umgang mit den Humanisten zu pflegen. So holte der Herzog den Freiburger Professor für griechische Sprache, Konrad Heresbach (1496-1576), einen Freund von Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536), als Erzieher seiner vier Kinder an den Hof in Düsseldorf. Hier vermittelte dieser Gelehrte der Gräfin Sibylle eine umfassende Bildung, welche ihr die Möglichkeit gab, die traditionellen Elemente des katholischen Glaubens distanziert zu betrachten und Verständnis zu zeigen für eine neue, von humanistischen Idealen geprägte Welt. Zudem beeinflusste das reformfreudige Elternhaus die Geisteshaltung der jungen Gräfin.
Doch trotz dieser „modernen“ Erziehungskonzeption – die Eltern hatten Sibylle nachweislich einen möglichst großen Freiraum bei der Partnerwahl eingeräumt – entging auch ihre Tochter nicht dynastischen Zwängen, die damals üblich waren und sich im einsetzenden konfessionellen Zeitalter noch vermehrten. Bereits 1518 plante die kursächsische Regierung eine Heirat zwischen der sechsjährigen Sibylle und dem damaligen Kronprinzen Johann Friedrich (geboren 30. Juni 1503 in Torgau und verstorben 3. März 1554 in Weimar) mit dem Ziel, auf diese Weise die Lehnsstreitigkeiten zwischen Kursachsen und dem Herzogtum Jülich-Kleve-Berg beizulegen. Aber erst 1526 wurde dieses Vorhaben verwirklicht, nachdem zuvor eine Ehe zwischen Johann Friedrich und einer Schwester von Kaiser Karl V.(1500-1558) nicht zustande gekommen war wegen politischer und religiöser Mißstimmigkeiten zwischen Kursachsen und Habsburg. Für Sibylle war die Verzögerung insofern ein Glücksumstand, als sie – nun schon vierzehn Jahre alt – versucht hat, wenigstens indirekten Einfluß auf die Verhandlungen zwischen den Herrscherhäusern zu nehmen, zumal ihr der junge Kurfürst nicht gleichgültig geblieben war. Dagegen hat Johann Friedrich wohl erst später ihre Zuneigung erwidert, als er, seiner kurfürstlichen Würde entkleidet, sich dankbar der Treue Sibylles erinnerte.
Ganz anders verliefen die Lebensumstände von Anna (1515-1557), der jüngeren Schwester Sibylles, die, nachdem sie nur ein halbes Jahr mit dem englischen König Heinrich VIII.(1491 bis 1547) verheiratet gewesen war, von demselben verstoßen wurde und auf einem seiner Schlösser mit der Auflage zu leben hatte, bis zu ihrem Lebensende dort zu bleiben und England nicht zu verlassen. Im Vergleich zum schwesterlichen Schicksal bekam Sibylle, was die Gestaltung des weiteren Lebens betraf, sehr viel mehr Freiraum, sowohl in religiöser als auch in gesellschaftlicher Beziehung. Als am 8. August 1526 der Ehevertrag zwischen Sibylle und Johann Friedrich unterzeichnet wurde, darf die Gräfin zwar nicht dabei sein, aber dennoch trägt dieses Dokument ihre Handschrift. So bekam Sibylle die Anwartschaft auf die Erhebung in den Fürstenstand. Das stellte einen Ehrenerweis dar, der einer regierenden Fürstin zwar durch die Eheschließung mit dem Landesherrn zustand, aber dennoch keine Selbstverständlichkeit war. Oft musste sich die hochadlige Frau diese Würde erst erkämpfen. Da sich aber auch schon zu diesem Zeitpunkt ein gutes Einvernehmen zwischen den Eheleuten abzeichnete, ist der jungen Frau die Rangerhöhung gleichsam in den Schoß gefallen.
Einen Monat später, am 8. oder 9. September 1526, fand in Burg an der Wupper nach lutherischem Ritus die Trauung statt, die Friedrich Myconius (1490-1546), seit 1525 evangelischer Pfarrer in Gotha, vollzog. Er hat eine Mischehe eingesegnet, die Braut war katholisch, der Bräutigam lutherisch. Nach der kirchlichen Zeremonie fand auch das sogenannte Beilager statt. Weil sich die abschließende Regelung von Erbangelegenheiten noch eine Weile hinzog und die Zustimmung der Stände und des Kaisers dazu eingeholt werden mußte, traf die Braut erst Anfang Juni 1527 in der kursächsischen Landeshauptstadt Torgau ein. Aus Anlaß ihres Eintreffens in der Stadt an der Elbe veranstaltete man ein großes Volksfest, das mit einem Turnier verbunden war. Sicher hat der jungen Kurfürstin dieses feierliche Ereignis das Einleben in der neuen Umgebung erleichtert. Sieht man von gelegentlichen Reisen ab, die sie als Landesherrin zu absolvieren hatte, ist sie bis zur Übersiedlung nach Weimar 1549 in der „Hauptstadt“ ihres Kurfürstentums gewesen.
In Torgau konvertierte Sibylle 1527 vom katholischen zum lutherischen Glauben, ein ungemein wichtiger Lebenseinschnitt. Leider geben die Quellen keine Auskunft darüber, in welche Zeremonie Sibylles Konfessionswechsel eingepasst wurde, ewa in den Empfang des Abendmahles in beiderlei Gestalt oder in die Unterzeichnung eines selbstverfassten Bekenntnisses. Möglicherweise kann die Konversion im Zusammenhang mit der nochmaligen Trauung beziehungsweise Einsegnung von Sibylle und Johann Friedrich gestanden haben, die Luther am 2. Juni 1527 in der Torgauer Stadtkirche vollzogen hat. Man wollte gern, dass die Fürstin, nun Lutheranerin geworden, ein zweites Mal vor den Altar trat. Vielleicht ist es auch der Wunsch der jungen Frau gewesen. Günther Wartenberg (1943-2007), Biograph der Kurfürstin, kommt aufgrund eigener Recherche zu dem Ergebnis, die Fürstin sei aus Überzeugung Anhängerin der Reformation geworden. Aus eigenem Antrieb habe sie den Übertritt aus der katholischen zur protestantischen Kirche vollzogen. Ein erhalten gebliebenes Gebetbuch, das Sibylle als Erinnerung an die niederrheinische Heimat nach Kursachsen mitgegeben wurde, bezeugt ihre Verankerung in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit ihrer Zeit, von der sie sich nun verabschiedet hat. Diese Kehrtwendung von einer Konfession zur anderen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wahrscheinlich ist dieser religiöse Positionswechsel vor dem Hintergrund der humanistischen Weltanschauung, die Sibylle in ihrer Düsseldorfer Jugendzeit vermittelt bekam, noch verständlicher. Soweit es die Pflichten zuließen, denen sie als Landesherrin und Mutter von vier Kindern genügen mußte, vertiefte sie sich fortan in die vom Reformator übersetzte Bibel und in seine Schriften, die sie sich zu beschaffen verstand. Nach endgüliger Einführung der Reformation in Torgau im Jahre 1525 hat Luther mehrfach in der Stadtkirche gepredigt und zudem die Schloßkirche zu Torgau selbst eingeweiht. Anläßlich dieser Besuche hatte Sibylle Gelegenheit, mit Luther auch über Glaubensfragen zu sprechen. Er hat der protestantischen Konvertitin die Formel vom „Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“ erklärt, an deren Vermittlung dem Reformator viel gelegen war. Oder er hat ihr das sola fide (= allein aus Glauben) erläutert und damit begründet, weshalb von den sechzehn Altären, die es vor der Reformation in Torgau gegeben hat, vierzehn abgebrochen werden mussten, und nur zwei für die Verkündigung des reinen Evangeliums übrig blieben. Aufgrund dieser persönlichen Kontakte hat die Kurfürstin uneingeschränkt dem Reformator vertraut, was die Korrespondenz mit ihm verdeutlicht, wobei Luthers Antwortbriefe nicht erhalten geblieben sind. Hierin setzt sich die Fürstin beispielsweise von der Mitreformatorin Argula von Grumbach (1492-1554?) ab, die sich dann auch wieder vom Reformator mit den Worten distanziert: „Man heißt mich lutherisch, ich bin es aber nicht, ich bin auf Christus getauft, den bekenne ich und nicht Luther“. Für Sibylle war eine solche Unterscheidung undenkbar, mag sie theologisch noch so verständlich gewesen sein. Vielmehr war Luther für die Fürstin uneingeschränkt das Vorbild in allen Glaubensfragen. Sie schrieb am 14. Januar 1529 den ersten Brief an ihn, mit dem sie überhaupt einen ausführlichen Briefwechsel beginnt. „…Unstreitig einer der herrlichsten Briefsammlungen des 16. Jahrhunderts. Schwerlich kommt diesem Briefwechsel einer gleich an sittlichem Gehalt, an Tiefe des Gemüts, an wahrem protestantischen Sinn und echter Frömmigkeit“, so der Herausgeber Carl Burkhardt (1839-1930). Nachdem sich Sibylle in einem Brief über die häufige Abwesenheit ihres Mannes geäußert hat, fährt sie an den Reformator fort: „So müssen wir es dem lieben Gott überlassen, der möge helfen, dass alle Sachen zu einem glückseligen Ende kommen müssen, darum wir mit unseren Leuten von Herzen fleißig beten und wir zu dem lieben Gott hoffen, er wird uns gnädiglich anhören, wie er dann im Johannesevangelium sagt: ‚Alles, was ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, das soll euch zuteil werden.’ Und auch im Psalter: ‚Rufe mich an in der Not, so will ich dich retten und du sollst mich preisen`“. Aus diesem und anderen Briefen geht hervor, dass Sibylle im Psalter und dem Johannesevangelium die Quellorte ihres Glaubens gesehen hat. Am überzeitlichen Christus, wie ihn der Evangelist Johannes bezeugt, macht sie ihren eigenen Glauben fest, der sie durch Höhen und Tiefen des Lebens tragen soll, eingedenk Luthers, ihres Vorbildes im Glauben, dem sie am 5. Mai 1529 erneut schreibt: „Dem ewigen Gott sei allezeit ewig Lob, Ehre und Dank dafür gesagt, dass unser herzliebster Herr und Gemahl mit gesundem Leib von Speyer (gemeint ist der Reichstag zu Speyer 1529) abgezogen und hier angekommen ist … Auch möchten wir ganz christlich und gerne wissen, wie es Euch und Eurem Weibe geht, ob Ihr noch guter Gesundheit seid“. Für Sibylle ist Luther nicht in allererster Linie der Reformator, dem man in Respekt naht, sondern ist väterlicher Freund und Seelsorger in einem. Sie spricht gleichsam auf gleicher Augenhöhe mit ihm. Deshalb ist verständlich, dass sie sich auch nach seiner Frau erkundigt, der hochgeschätzten Katharina, mit der sie gern Freundschaft schließen möchte. Ob es jemals zur Begegnung zwischen den Frauen gekommen ist, geht aus dem Briefwechsel nicht hervor. Jedoch ist demselben zu entnehmen, dass sich Sibylle von Luthers Liedern trösten ließ, als ihr Mann nach der Schlacht bei Mühlberg am 24. April 1547 Freiheit, Kurfürstenwürde und Teile seines Landes einbüßte. Während der Gefangenschaft (1547-1552) hat Sibylle hundertzehn Briefe an Johann Friedrich geschrieben, die verdeutlichen, dass sie ihn getröstet hat, obwohl er ihr aufgrund seines Hangs zum Alkohol von jeher manchen Verdruß bereitet hat. Da die Katze „die Herrin“ in die Hand gebissen hat, so die Mitteilung in einem Brief, und Sibylle selbst nicht schreiben kann, läßt sie ihrem Mann durch seinen Sekretär am 1. Januar 1549 ausrichten, sie habe mit Freude seinem letzten Brief entnommen, dass es ihm gut ginge. Auch dankt sie für das übersandte Bild von ihm und verspricht, es nach Art der Brüsseler (in Brüssel war das Gewahrsam des Herzogs) Frauen am Gürtel zu tragen. Unermüdlich hat sie sich für die Freilassung ihres Mannes bei Kaiser Karl V. eingesetzt. In ihrem Brief vom 26. Januar 1550 berichtet sie davon. Der Kaiser sei krank, habe deshalb nicht selbst antworten können. Er ließe ihr aber ausrichten, sobald es ihm möglich sei, würde er sich selbst um die Angelegenheit kümmern. Dann schreibt die Herzogin: „Das Allerbeste ist, sich in Geduld zu üben und die Sache Gott anzuvertrauen, er wird es schon wohlmachen“. Sibylles Intervention hatte schließlich Erfolg. Am 1. September 1552 erlangte der frühere Kurfürst die Freiheit und feierte mit seiner Frau auf der Veste Coburg ein rührendes Wiedersehen. Anschließend nahm er als Herzog von Sachsen mit Sibylle seinen Wohnsitz in Weimar, wo er knapp zwei Jahre später am 3. März 1554 verstarb. Sibylle war schon am 21. Februar verstorben. Beide wurden in der Stadtkirche zu Weimar bestattet. Der thüringische Reformator Justus Menius (1499-1558) widmete ihr den Fürstenspiegel Oeconomia christiana.
Nach meiner Ansicht hat Justus Menius zu Recht der Gräfin Sibylle seine frühneuzeitliche Hauslehre gewidmet. Denn wenn er in dieser Fürstinnenunterweisung die Forderung nach der Einheit von rechtem Glauben und gottgefälligem Leben erhebt, so hat gerade Sibylle in ihrem Leben versucht, diese Symbiose von Glaubensgewissheit und christlichem Wandel zu verwirklichen. Aus den Briefen geht hervor, dass sie sich mit ihrem Hofstaat zur Gebetsgemeinschaft getroffen hat. Der reformatorische Impuls, der von Sibylle nachweislich ausging, zielte also auf Bildung von Gemeinde, ein wichtiger Vorgang für die Stabilisierung der Kirche der Reformation. Aber im Vergleich zu anderen hochadligen Frauen der Reformationszeit hat sie ihre Aufgabe nicht darin gesehen, den Fortgang der Bewegung aus Wittenberg durch besondere Impulse, wie etwa durch Berufung von Predigern, zu beinflussen. Diese Tätigkeit überließ sie ihrem Mann Kurfürst Johann Friedrich, dem die Geschichte deshalb den Beinamen „der Großmütige“ verliehen hat. Großmütig war seine Frau allerdings auch, jedoch in anderer Weise. Mutig hat sie in allen Lebenssituationen ihren Glauben bekannt, genau so, wie er ihr in der Begegnung mit Luthers Reformation wichtig geworden war.
„Er ist die Sonn`, sie ist der Mond“. Wäre dieses geflügelte Wort aus dem Spätmittelalter Sibylle begegnet, hätte sie es sofort als angemessene Beschreibung des Umgangs zwischen sich und ihrem „Herrn Gemahl“ akzeptiert. Sie verstand sich im guten Sinne als Mond, der von der fürstlichen Sonne Geborgenheit und Ansehen erhält. Manche neuzeitliche Würdigung missversteht Sibylles Wohlfühlen an der Seite ihres Mannes und tadelt an ihr, sie habe aufgrund dieser Einstellung zu Johann Friedrich kein eigenes Profil entwickelt und sei sehr von ihrem Mann abhängig gewesen. Mitnichten, denn diese hochadlige Frau hat der Nachwelt eine große Korrespondenz hinterlassen, die noch auf Auswertung durch die Geschichts- und Sprachwissenschaft wartet. Auch die Genderforschung sollte sich daran beteiligen. Schon die oben gebrachten Beispiele zeigen, dass eine lebenskluge und ungemein gläubige Frau in ihrem Briefwechsel das Wort nimmt. Ohne es zu ahnen, kehrt sie das geflügelte Wort um: „Ich bin die Sonn`, die Nachwelt der Mond“. Man ist gut beraten, Sibylle grundierter zu würdigen, als sie sich selbst mit „Farbe versehen“ hat. Vielleicht ist dieser Beitrag ein Anfang dazu.