Brigitte Lösch MdL – Vizepräsidentin des Landtags Baden-Württemberg (Die Grünen

Tübingen, 26.10.2011

Den Gedanken an eine politisch engagierte Kirche habe ich
gerne aufgenommen und dabei überlegt, welche politischen Ansätze auf die Kirche
übertragbar sind.

„Wir wollen eine neue Politik des ‚Gehört werden‘
praktizieren“, hat die grün-rote Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag
festgeschrieben.

In Baden-Württemberg sollen die BürgerInnen künftig mehr
und besser mitreden können. Wir wollen, dass Demokratie von unten wächst und
dass sich BürgerInnen aktiv einmischen. Nur so kann es gelingen, der
zunehmenden Staats-, Politik- und Parteienverdrossenheit in unserem Land
effektiv entgegenzuwirken.

Meine These ist, dass das genauso für die Kirche gilt.

Die Debatte um Bürgerbeteiligung, Mitbestimmung und mehr
Partizipation hat die abstrakte Ebene längst verlassen und demonstriert
sozusagen wöchentlich in den unterschiedlichsten Städten auf der Straße.

Immer öfters begehren BürgerInnen gegen Großprojekte auf,
nicht nur in Stuttgart – sondern nun auch beispielsweise im kleinen
beschaulichen Örtchen Kressbronn am Bodensee, wo es um die städtebauliche
Planung eines ehemaligen Werftgeländes geht.

Die Auseinandersetzung um S 21 – ohne Argumente
auszutauschen – ist mittlerweile zum Symbol für die Weiterentwicklung der
repräsentativen Demokratie geworden, für ein Zeichen von demokratischer
Mitbestimmung und auch für die Diskussion welche zusätzlichen Elemente aus der
direkten Demokratie wir einsetzen können.

Viele Fragen stehen dabei im Raum, zum einen, welche
gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zum Entstehen der
Bürgerbewegung S 21 geführt hat und was wir aus diesen sozialen Bewegungen wie
jetzt auch Occupy Wallstreet lernen müssen? Und zum anderen ganz konkret,
welche Auswirkungen dieser Protest auf die Region Stuttgart/auf das Land/und
auch auf die Kirchen hat.

Die Bewegung ist eine enorme Erfolgsgeschichte, die bei
uns in Baden-Württemberg geschrieben wurde, mit der niemand in dieser
Intensität gerechnet hätte.

Die Bewegung besteht aus aktiven BürgerInnen aus allen gesellschaftlichen
Schichten, übrigens auch jenseits vom üblichen rechts/links Schema,
Gruppierungen und Altersgruppen. Die gemeinsame Antriebsfeder ist die
Missachtung des Bürgerwillens, und eine Politik, die Bürgerbeteiligung
ausgeschlossen hat.

Der Protest kommt aus der Mitte der Gesellschaft, ist
breit, bunt und vielfältig, und kämpft für eine menschgerechte Stadt.

Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie soll unser
Gemeinwesen in Zukunft aussehen und auch die Frage nach Lebensqualität. Es gibt
die klare Idee was an Lebensqualität vorhanden ist und was erhalten werden
soll. In dieser Hinsicht, sind die Menschen konservativer geworden – und ich
glaube zu Recht.

Die Verteidigung von Lebenswelten – etwas Bewahren wollen
– führt ganz stark dazu, dass Begriffe wie Fortschritt, die in den 80er geprägt
wurden, gänzlich neue Bedeutung bekommen werden.

Ich finde es falsch, die Menschen dieser Bewegung als
Zukunftsverweigerer oder Fortschrittsfeinde zu bezeichnen, natürlich wollen sie
etwas verhindern – aber sie bewegen auch etwas – es sind aufgeklärte
BürgerInnen, die sich ihr Recht auf Partizipation und Einflussnahme erkämpfen,
sie sind das „unbequeme Ehrenamt“.

Es ist eine soziale Bewegung, eine kulturelle Bewegung
und eine Frauenbewegung entstanden. Auch in dieser Bewegung zeigt sich ganz
deutlich, dass die Ehrenamtsfrage ganz deutlich mit der Frauenfrage verknüpft
ist. Es sind z.B. vor allem Frauen, die ehrenamtlich die Mahnwache bei S21
betreuen – aber die Köpfe des Widerstands gegen S21 sind fast ausschließlich
Männer.

Man hat herausgefunden, dass die Stuttgarter Bewegung vor
allem aus drei Gruppen besteht: 52% sind situativ engagiert (nicht häufig auf
Demos, aber politisch interessiert), 18% sind protesterfahren (schon
Demoerfahren und eher politisch links), 27% Protestneulinge (konservativ
ausgerichtet und erst später dazu gestoßen)

Aktive BürgerInnen wollen sich nicht mehr alles von oben
vor die Nase setzen lassen – egal ob von der Politik oder von der Kirche.

Die Motive für den Protest sind vielfach nicht Eigennutz
und Besitzstandswahrung, sondern Verantwortung gegenüber kommenden Generationen
und auch eine Rebellion gegen die Arroganz der Macht.

Politik muss ihre Spielregeln ändern! Wir brauchen einen
anderen Umgang mit den BürgerInnen und wir müssen mehr direkte Demokratie
wagen. Die Lehre aus Stuttgart 21 bedeutet: Beteiligung von Anfang an.

Im Mittelpunkt müssen Information – Transparenz und
Dialog stehen.

Vermeidbar sind Proteste nur, wenn die Betroffenen in die
Planung miteinbezogenund ernst genommen
werden. Die Attitüde „Information von oben nach unten“ funktioniert nicht mehr
– aus Betroffenen müssen wieder Beteiligte werden.

Neue Beteiligungselemente gibt es – selbst in Deutschland
gibt es in der Zwischenzeit über 140 Kommunen, die ihre BürgerInnen an der
Haushaltsaufstellung beteiligen – bereits 67 haben Bürgerhaushalte beschlossen.

Diese Beispiele zeigen, dass Partizipation Politik
tatsächlich planbar und machbar macht. Natürlich gibt es auch bei solchen
Verfahren GewinnerInnen und VerliererInnen – aber es schafft eine größere
Akzeptanz für das Ergebnis.

Die „Politik des Gehört werden“ bedarf natürlich einen
Gewöhnungsprozess von beiden Seiten.

Der Bürgerfrust über „die da oben“, die eh machen was sie
wollen – muss in echte und aktive Beteiligung umgelenkt werden. Auf der Suche
nach Akzeptanz und einem Mehr an Legitimation muss die Politik dies ermöglichen
und gleichzeitig das Bewusstsein schaffen, dass man sich auf Augenhöhe
begegnet.

Und es kann natürlich sein, dass das eine oder andere
Projekt dadurch nicht so umgesetzt werden kann, wie man sich das ursprünglich
gedacht hat.

Und ich glaube, dies gilt nicht nur für die Politik,
sondern beispielsweise auch für die Kirchen – auch dort werden die Proteste
gegen von oben angeordnete und nicht nachvollziehbare Entscheidungen zunehmen
(Einsparungen oder Zusammenlegungen von Kirchengemeinden)

Weshalb diese Diskussionen und Debatten mich persönlich
sehr berühren und auch erden – ist, dass sich ein Kreis schließt – ordentlich
evangelisch sozialisiert – Jungschar-Kinderkirche – vielfältig ehrenamtlich
engagiert – immer für selbstverwaltete, selbstorganisierte Räume und Orte für
Debatten gekämpft – finde ich es wunderbar was da gerade passiert (unabhängig
von der inhaltlichen Debatte).

Baden-Württemberg ist das Land, das vieles kann – und
eben dann auch die BügerInnen viel stärker einbindet als es bisher praktiziert
wird.

Und diese Hoffnung und Erwartung habe ich auch an die
Kirche.

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