Carena Schlewitt – Kaserne Basel

TISCHREDE zum Frauenmahl Basel im Oktober 2015 von Carena Schlewitt, Kaserne Basel

Grenzgänger_innen im Theater: Mit Grenzen spielen?

Grenzgänge können etwas sehr Herausforderndes und Produktives sein. Künstler_innen arbeiten permanent an der Überwindung von Grenzen und sie schaffen auch neue Grenzen, indem sie uns die Welt mit einem anderen Blick präsentieren. Aber auch für jeden Menschen, der seinen Alltag bewältigt, Familie hat, Kinder gross zieht und einer Arbeit nachgeht, seine Freizeit gestaltet, sind Grenzgänge normal und können zu neuen Erkenntnissen führen. Eine Grenze ist also per se nichts Schlechtes, sie stellt lediglich eine Zäsur dar. Und wir können uns dieser Zäsur bewusst werden, sie aufrecht halten, sie überwinden, eine neue Zäsur aufstellen. Wir können mit Grenzen spielen, zwei oder auch mehr Seiten miteinander in Bezug bringen, einen Dialog anregen. Eine Grenze kann aber auch genau die entgegengesetzte Funktion einnehmen, eine statische Linie zwischen zwei Seiten bilden, die den Austausch, den Dialog, das Spiel unterbindet. Und auch diese Grenzen spielen eine Rolle in unserem ganz privaten Leben, aber auch in grösseren Dimensionen in unserer Gesellschaft, in der Politik, im Weltgeschehen.

Wenn ich in meiner Biografie einige Jahre zurückschaue, dann erinnere ich mich an die „grenzenlos“-Reihe in den 1990er Jahren in Berlin, ausgerichtet von der Kulturveranstaltungs-GmbH im Podewil Berlin. Berlin, die geteilte Stadt, die nach dem Fall der Mauer unzählige Künstler_innen aus der ganzen Welt anzog, machte mit dieser Reihe deutlich, dass die Grenzen der Abschottung gefallen waren und man endlich einen regen Kulturaustausch führen konnte. Ich erinnere mich sehr genau an diese Aufbruchsstimmung, die natürlich in ähnlicher Weise auch in den osteuropäischen Ländern anzutreffen war. Die offenen Grenzen, die Grenzen eines möglichen Dialoges haben auch zu neuen internationalen Produktionsformen geführt, im Theater und Tanz, aber auch weit darüber hinaus in anderen künstlerischen und kulturellen Bereichen. Sie haben auch zu einer Verständigung über die veränderten Lebensformen geführt, über die sehr unterschiedliche Geschichte von Regionen und Ländern. Und doch gab es einen sehr sichtbaren Aufschwung, Europa als ein gemeinsames grosses Haus zu verstehen, dessen Türen offen stehen und in dessen sehr verschiedenen Räumen man sich begegnen und austauschen kann. Diese Möglichkeit ist heute, 26 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nicht mehr so eindeutig gegeben. Es werden wieder Zäune mit Stacheldraht hochgezogen, Nationalitäten gegeneinander ausgespielt, Türen verschlossen und bei alldem wird nicht die Neugier auf den Nachbarn, sondern die Angst vor dem Nachbarn geschürt.

Was kann Kunst oder auch ein Kulturhaus wie die Kaserne Basel in diesem Kontext leisten?

Die Kaserne Basel ist das grösste Zentrum für die freie zeitgenössische Theater-, Tanz- und Performanceszene sowie für innovative Populärmusik in der Nordwestschweiz. Als ich 2008 die künstlerische Leitung der Kaserne Basel übernommen habe, war es mir ein Anliegen, die Grenzen eines Kulturhauses auszuloten, zu verschieben. Wir begannen unsere erste Spielzeit mit dem Projekt „Mit Nachbarn“. Kleinere und grössere Projekte fanden in unseren Räumlichkeiten, aber auch bei unseren Nachbarn, im Boxclub, im jungen theater basel, in einem Ladenlokal Kleinbasels, am Grenzpunkt des Dreiländerecks und auf dem grossen Kasernenplatz statt. Dort standen 13 Schrottautos in einem Halbkreis aufgestellt und wurden als Minitheaterräume von Basler und Schweizer Künstler_innen bespielt. Das Thema für alle lautete „Nachbarschaften“ – entstanden sind ganz unterschiedliche Arbeiten. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass es der Kaserne Basel nicht um eine Deutungshoheit in Sachen Kunst geht.

In unserer Arbeit sind die Künstler_innen unsere wichtigsten Partner. Die freie Szene hat in den letzten 20 Jahren ihr inhaltliches und ästhetisches Spektrum enorm erweitert. Die Akteure des gegenwärtigen Theaters haben sich verändert – es stehen nicht mehr nur die Schauspieler_innen, Tänzer_innen, die Theaterspezialisten auf der Bühne, sondern viele Gruppen und Regisseure arbeiten mit den sogenannten Alltagsspezialisten, mit Menschen, die Spezialisten in ihrem Arbeitsfeld oder ihrem spezifischen Alltag sind. Sie bringen andere Geschichten für die Bühne mit als dies die literarischen Bühnenstoffe tun. Diese Form des „Dokumentarischen Theaters“ hat im letzten Jahrzehnt einen regelrechten Boom auf den Theaterbühnen und Festivals erlebt. Eine zweite Form, die von Theaterhäusern und Festival ausgehend, sich stark entwickelt hat, sind Stadtinterventionen, Aktionen im öffentlichen Raum, das Bespielen urbaner Räume. Die Kaserne Basel hat sich in den vergangenen sieben Jahren sowohl für die neuen Protagonisten und deren Geschichten im Theater als auch für die aussergewöhnlichsten künstlerischen Aktionen im Stadtraum interessiert. Es würde hier zu weit führen, die vielen Beispiele aufzuzählen, aber um deutlich zu machen, um welche Art von Grenzüberschreitungen es in diesen Arbeiten geht, möchte aus unserer gerade begonnenen Spielzeit drei Beispiele nennen.

„And for the rest“, ein Posterprojekt des britischen Autors und Performancekünstlers Tim Etchells, stellt einen künstlerischen Epilog zu politischen Wahlen dar – durchführbar in allen Ländern der Erde. Im Vorfeld von Wahlen werden Interviews mit nicht-wahlberechtigten Bürgern über ihre Zukunftswünsche und Erwartungen an die Stadt bzw. das Land geführt, in dem sie gerade leben. Etchells wählt aus diesen Interviews und Erzählungen einzelne markante Sätze aus, die auf große Plakaten gedruckt und im Kontext der Wahlen (zeitlich parallel oder kurz danach) im gesamten Stadtraum plakatiert werden. Die Kaserne Basel hat dieses Projekt nach den Schweizer Nationalratswahlen im Herbst 2015 realisiert. Die Interviews wurden von den Basler Theatermacherinnen Anina Jendreyko und Deborah Neininger geführt. Das Besondere an diesem Projekt war die Vielstimmigkeit, der sehr unterschiedliche Umgang mit Sprache, die politische Forderungen in poetische Bilder fasst. Dieses Projekt rückt ganz bewusst nur Texte, knappe Texte an die Stellen, wo Politikerköpfe mit Slogans zu sehen sind oder waren. Die Irritation entsteht genau in diesem Zwischenraum – wer lässt sich wie und durch welche Texte und Bilder oder auch Nicht-Bilder ansprechen: im Vorbeigehen, beim Stehenbleiben, Fotografieren. Auch dieses Projekt fordert eine kommunikative Haltung im öffentlichen Raum heraus, dessen Regeln und Werbeschutzschilder schon lange nur noch für ein stummes Wegschauen sorgen.

Einige Beispiele der insgesamt 32 ausgewählten Zitate für die Plakate im Stadtraum seien hier genannt:
We should take down the barriers we put up / Angst, das Wort kenne ich nicht / I wish for a swing in the night sky so I can swing right up to my friends in Iran and back again / Ich habe manchmal Angst vor der Sprache, Angst vor der Zukunft / Nach dem Glück suchen, weil das Glück kommt und geht / Manchmal vergisst man fast zu leben.

Das Stück „Situation Rooms“ des deutschen Autoren-Regieteams Rimini Protokoll versammelt 20 Menschen, deren Biografien von Waffen mitgeschrieben wurden. Sie treffen in einem Filmset aufeinander, in dessen Räumen die globalisierte Welt der Sturmgewehre und Drohnen, der Regierenden und Flüchtenden nachgebaut wurde. Die Zuschauer_innen folgen der individuellen Fährte der ausgehändigten Kameras und begeben sich in diesen Parcours aus 20 Räumen. Sie schlüpfen in die Perspektiven der Protagonisten und ihrer Geschichten. So setzt sich ein Zuschauer an den Schreibtisch einer Führungskraft aus der Rüstungsindustrie. Eine andere Zuschauerin folgt einem pakistanischen Anwalt von Opfern amerikanischer Drohnenanschläge in ein enges Kabuff mit Überwachungsmonitoren. Auf ihrem Weg dorthin sieht sie eine Zuschauerin, die in den Schiessstand eines Berliner Schützenvereins eintritt und dem deutschen Meister im Parcours-Schiessen zuhört. Das Publikum verfängt sich nach und nach im räumlichen und inhaltlichen Labyrinth des Rüstungsgeschäftes und jeder Einzelne wird Teil eines komplex ausgetüftelten multiperspektivischen „Shootings“. „Situation Rooms“ ist ein multiples Simultan-Kino – so dreidimensional wie das Theater selbst. Die Kaserne Basel hat dieses Stück im Rahmen ihrer Herbst-Reihe „Kaserne unterwegs“ im September 2015 in der Dreispitzhalle Basel präsentiert.

Antje Schupp und Beatrice Fleischlin entwickelten das Stück „Islam für Christen – Crashkurs Level A1“ im Oktober 2015. Fünfzehn Zuschauer_innen pro Durchgang wurden in ein eigens für diese Produktion gebautes Zelt gebeten, um „niederschwellig, angstbefreit und praxisnah“ die Grundsäulen des Islam kennenzulernen. Das Zelt wurde in der Basler Markthalle aufgebaut und stand damit im Kontext der täglichen multikulturellen Märkte und Geschäfte rund ums Essen und Trinken.
Schupp/Fleischlin nahmen alle bekannten Hilfsmittel eines Lernkurses zur Hilfe, um ihr Ziel zu erreichen: Flipchart, Tonbeispiele, gemeinsame rituelle Waschung und Gebete, Fragebögen. Die Performerinnen wagten sich an ein mit vielen Vorurteilen besetztes Thema und erhielten als Resonanz seitens der Zuschauer_innen die Bestätigung wie wenig wir von der Religion des Islam wissen und kennen. Bleibt nur zu hoffen, dass es bald einen Crashkurs – Level A2 gibt, vielleicht zum Thema Christentum.

Ich möchte zum Schluss noch einmal zum Ausgangsthema zurückkommen: das zeitgenössische Theater bewegt sich meiner Meinung nach gerade in unserer heutigen Zeit sehr bewusst inhaltlich im Bereich politisch und gesellschaftlich gesetzter Grenzen. Und es behandelt diese Themen in der Ausreizung ästhetischer Grenzen, die vor allem auch eine aktive Einbeziehung des Publikums mitdenkt.

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