Christiane Schlötzer – Journalistin, Süddeutsche Zeitung

Tischrede von Christiane Schlötzer
Journalistin, stellv. Ressortleiterin der Seite Drei, Süddeutsche Zeitung, München

Welchen Wert haben Frauenrechte als universelle Menschenrechte, Gerechtigkeit in der „einen“ Welt?

Ich war gestern noch in Athen, und 48 Stunden zuvor im Hafen von Piräus. Dort habe ich Frauen zugesehen, die versuchten, ihre Würde zu bewahren, obwohl alles, was sie noch an privatem Rückzugsraum haben, ein kleines Zelt ist. Hunderte Frauen, mit hunderten von Kindern. Ein Teil des Hafens von Piräus ist ein wildes Flüchtlingscamp. Viele Frauen dort sind Syrerinnen, und Yezidinen aus dem Irak. Sie haben Kinderwägen dabei, und Rollstühle, in denen sitzen auch oft Kinder.
Ich habe Frauen gesehen, die versuchen, ihren Kindern zwischen Hafenbeckenrand und Dixiklos noch das Leben schöner zu machen. Sie stellen sich vor die riesigen Passagierschiffe, die dort ankern, und machen Handyfotos, als wären sie im Urlaub unter griechischer Sonne. Nachts muss es saukalt in den Zelten auf dem Betonboden sein. Tagsüber laufen die Kinder zwischen den LKWs herum, die die Schiffe beladen.
Es gibt Frauen, die haben große Angst, ihre Kinder könnten verloren gehen, ins Wasser fallen, entführt werden. Es gibt Frauen, die sich vor fremden Männern fürchten, weil sie allein unterwegs sind, ohne Schutz. Die Frauen und auch die Männer, die im Hafen von Piräus campen, sind Ausgesetzte, Menschen auf der Flucht, Abgeladen in einem europäischen Hafen wie Stückgut. Dass Europa im 21. Jahrhundert dies gestattet, ist eine Schande für Europa. Menschenrechte sind nicht universell, Frauenrechte schon gar nicht.

Ortswechsel: Am Rand von Kassel in einem Hochhäuserblock lebt Meera Jamal. Sie ist 33 Jahre alt, hat einen Mann und einen kleinen Sohn. Meera Jamal ist Journalistin. Vor sechs Jahren kam sie aus Pakistan nach Deutschland, nicht als Korrespondentin, obwohl sie das Zeug dazu hätte. Sie hatte in Pakistan über Koranschulen für Kinder berichtet und mit ihren Berichten davor gewarnt, dass in diesen Schulen Kinder indoktriniert würden. Sie schrieb über Frauen, die nach einer Vergewaltigung fast totgeprügelt wurden, sie schrieb, dass drei von fünf Frauen in Pakistan in der Öffentlichkeit schon begrapscht oder sexuell belästigt wurden. Sie schrieb, bis ihr Männer mit Messern auflauerten.
Seit sie in Deutschland lebt, fühlt sie sich sicher, aber nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November hat sie etwas Seltsames erlebt. Eine Nachbarin kam zu ihr. Die sagte ihr, eine andere Nachbarin fürchte sich nun vor Meera, denn die müsse doch eine Muslimin sein, wegen Herkunft und Hautfarbe, und diese Nachbarin habe auch gesehen, dass vor Meeras Küchenfenster eine schwarze Fahne des IS, des Islamischen Staats wehe. Meera war verwirrt, bis ihr einfiel, dass sie ein schwarzes Fliegennetz vor ihrem Küchenfenster hat. Das Fliegennetz eine IS-Flagge! Meera wollte sich nicht lustig machen über die Nachbarin, als sie mir das erzählte. Sie hat nur verstanden, wie schwer es ist, zu differenzieren. Sie Meera, die erklärte Atheistin, die unter den Islamisten in ihrem Land gelitten hat, wird zur Muslima erklärt. Das ginge vielleicht ja noch, aber auch gleich zu einer Radikalen, zu ihrem eigenen Feind sozusagen.

3. Geschichte: Als ich 2001 zum ersten Mal als Korrespondentin in die Türkei ging, bekam ich von Kollegen und Freunden zum Abschied einen Stapel Kopftücher geschenkt. Ich wusste schon, dass ich sie nicht brauchen würde, allenfalls mal eines zum Besuch einer Moschee oder öfter als Windschutz bei Bootsfahrten auf dem Bosporus. Wir machen uns Bilder im Kopf, die sind hartnäckig. Die Türkei ist ein säkulares Land, mit 90 Prozent Muslimen. Ich habe dort Frauen kennengelernt, die jedes Jahr einmal nach Ankara zum Mausoleum von Atatürk pilgern, um dem Gründer der Türkei dafür zu danken, dass er ihrem Land eine republikanische Verfassung beschert hat, und die Scharia abgeschafft hat, europäische Recht eingeführt hat. Ich habe aber auch Frauen kennengelernt, die unter rigorosen Moralvorstellungen leiden, unter religiös begründetem Machotum, unter familiärer Gewalt.
2002 kam die bis heute regierende islamisch grundierte, konservative Partei AKP von Recep Tayyip Erdogan an die Macht. Sie war, das ist heute weitgehend vergessen, zunächst eine reformerische Kraft, von der auch Frauen profitierten. Ein neues Strafrecht wurde geschaffen, das Straferleichterungen für sogenannte „Ehrenmorde“ abschaffte. Das Einkommensniveau stieg. Konservativen Frauen, die wenn sie ein Kopftuch trugen, von vielen öffentlichen Bereichen in der Türkei bis dahin ausgeschlossen waren, von den Universitäten zum Beispiel, wurden neue Möglichkeiten eröffnet. Ein Kopftuch heißt ja nicht, dass die Frau, die es trägt, nichts im Kopf hat.
Die AKP war anfangs eine Partei, die viele Frauen anzog. Je autoritärer sie wurde, desto weniger hatten die Frauen in ihr eine Chance. Heute ist die Politik in der Türkei praktisch auf einen einzigen Mann ausgerichtet, der, auch wenn er von seiner eigenen Tochter beraten wird, alles einem einzigen Ziel unterzuordnen scheint: dem eigenen Machterhalt.

Warum erzähle ich das: Weil wir nicht vergessen sollten, dass dieser Mann nicht allein ist, dass wir kein Land, auch nicht die Türkei, nach dem Verhalten eines einzigen Menschen oder nur der jeweiligen Regierung beurteilen dürfen, nicht nach dem Regeln, die eine einzige Partei aufstellt. Im Gezi-Park in Istanbul haben 2013 viele junge Menschen gegen Erdogan protestiert, es waren besonders viele Frauen. Viele wurden dafür mit Tränengas und Prügeln vertrieben. Wenn wir ein Land wie die Türkei einfach abschreiben, oder auch ein Land wie Pakistan, oder Syrien, dann vergessen wir die vielen Frauen – und Männer, die nicht einverstanden sind mit den herrschenden Verhältnissen, mit Krieg und autoritärer Herrschaft. Ich plädiere für den genauen Blick, den zweiten Blick, für Neugier, dafür, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden, und sich überraschen zu lassen.
Vielen Dank.

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