Christina Erdkönig – Buchautorin und Journalistin, Stuttgart

Tischrede für das Frauenmahl in Böblingen am 2. November 2014


„Überreste eines Lebens aufräumen- Warum die Auseinandersetzung mit den Dingen der verstorbenen Eltern klug macht“


Guten Abend, herzlich willkommen an alle Frauen hier: ich freue mich vor Ihnen allen heute Abend sprechen zu dürfen.

Vor drei Jahren bin ich aufgebrochen zu einer Reise in die Vergangenheit – eine Reise zurück in meine eigene Familiengeschichte. Nach dem Tod meiner Eltern musste ich deren Nachlass sichten. Es war ein schwieriger Prozess, in dem ich auch klüger geworden bin. 

Meine Eltern sind – finde ich viel zu früh gestorben: meine Mutter 2008  mit 71 an den Folgen eines Schlaganfalls, mein Vater zwei Jahre später an Krebs- mit nur 73 Jahren.

Der Tod der eigenen Eltern macht Hinterbliebenen häufig  die eigene Sterblichkeit bewusst. Mir persönlich wurde sie so bewusst wie nie zuvor, denn mein krebskranker Vater hatte nur noch einen Frühling und einen Sommer nach seiner schrecklichen Diagnose gehabt. Ich erkenne jetzt als ganzer Mensch mit Herz, Verstand und Geist, dass ich auch nur eine bestimmte Anzahl an Frühlingen und Sommern vor mir habe.

Meine beiden Schwestern und ich mussten ab März 2011 nach der ersten Trauerphase, unser Elternhaus auflösen. Anfangs hatten wir den Ehrgeiz, alles noch einmal in die Hand zu nehmen. Wir waren bereit, Verantwortung zu übernehmen für die Dinge, die den Eltern wichtig waren: der Lieblingssessel des Vaters, die Tassensammlung der Mutter, die Pantoffeln des Vaters, die Lesebrille der Mutter.

Es war eine große Aufgabe, denn im Haus erwarteten uns  Massen. Das Reihenhaus war vollgestopft vom Keller bis zum Dach. Voll mit Dingen- voll mit Erinnerungen.

Alte kaputte Regale sind schnell entsorgt, aber was zum Beispiel tut man mit der Stoffreste-Sammlung der Mutter? In einer Truhe hatte unsere Mutter selbst kleinste Stoffstücke aufbewahrt. Das war so typisch für sie  und berührte uns sehr. Diese Stoffreste stehen auch für ihre bescheidene Art. 

Nach dem Tod von Vater und Mutter scheint sogar ein Stück ihrer Seele in diesen Dingen weiterzuleben. Auf den Müll werfen? Unmöglich. Ein Teil der Stoffreste habe ich dem damaligen Kindergarten meines Sohnes geschenkt. Sie brauchten Stoffstücke für eine Collage. Was für eine Erleichterung, dass die Dinge der Eltern noch Verwendung fanden!

Ähnlich ging es den 14  Gesprächspartnern- 7 Männer, 7 Frauen, die ich für mein Buch „Loslassen und Leben aufräumen“ interviewt habe. Die Dinge der Eltern sollen auch noch nach ihrem Tod eine Zweck erfüllen, im Diakoniekaufhaus z.B. noch Bedürftige erreichen, jemanden vom Nutzen sein.

Das Räumen im Elternhaus ist aber nicht nur belastend. Es kann auch spannend sein wie eine Schatzsuche. 

Endlich  in die Regale und Schubladen schauen, die sonst Tabu für uns Kinder waren! 

Vor allem für meine mittlere Schwester war es eine Spurensuche.

Sie hatte das Gefühl, unser Vater könnte eine Botschaft für sie im Haus hinterlassen haben. Eine Botschaft eines Vaters, den sie zu Lebzeiten nicht immer verstanden hatte. Eine Botschaft eines Vaters, der selten von seiner schwierigen Kindheit – er war früh Vollwaise gewesen- erzählt hatte. Neben seiner charmanten Art war er auch oft verschlossen gewesen.

Es war ein Dienstagabend-wir hatten uns wieder für zwei Tage im Haus getroffen und waren schon sehr erschöpft- als meine Schwester plötzlich laut ruft: „Komm schnell – ich habe etwas gefunden!“

Aus dem hintersten Eck eines großen alten Eichenschranks zieht sie zwei schwarze Hefte: Tagebücher unseres Vaters.

Wir sind andächtig und bewegt. Die Bücher datieren aus den Jahren 1955, als unser Vater Oberschüler war und kurz vor dem Abitur stand.

Darin stehen die Gedanken unseres 17 jährigen Vaters. Er hinterfragt die Welt, zweifelt an sich- der Vater, der sonst so stark und entschieden war.

Es schreibt auch, dass er einmal  Mal die Schule geschwänzt hat, was uns doch verblüfft.

Meiner Schwester hilft das Tagebuch, ihr Bild des Vaters zu revidieren. Sie kann den eigenen Vater jetzt auch anders sehen: als verletzlichen sensiblen Menschen, der er einmal war. So kann sie mit ihm Frieden schließen. 

Mich hat vor allem gerührt, wie poetisch mein Vater sich in dem Tagebuch ausdrückte, wie gut und bildhaft er die Natur zum Beispiel beschreiben konnte. Eine Wanderung in den Bergen entsteht durch seine Beschreibung im Tagebuch wie vor meinem inneren Auge: der weiße Gipfel vor dem blauen Himmel.

Das berührt mich und hilft mir weiter. 

Manchmal hat man beim Räumen im elterlichen Nachlass das Gefühl, die Mutter wohnt noch in einem Gegenstand.

So war es bei einer Vase meiner Mutter. 

Ein kitschiges Stück , auf dem ein Paradiesvogel gemalt war- in leuchtenden Farben: blau und rot. Oben hat das Gefäß noch einen Goldrand. Eine solche Vase würde ich mir sonst nicht  kaufen, doch ich weiß, dass meine Mutter diese Vase sehr mochte.

Als meine Schwestern auch  Interesse an ihre zeigen, merke ich, wie ich nur noch eins denken kann:  ich muss dieses Vase unbedingt haben. Es ist, wie wenn ein Teil meiner Mutter in ihr wohnen würde!

Schließlich können wir uns einigen: Meine eine Schwester bekommt die beliebte Geburtstagskerze. Meine andere Schwester bekommt das Kräuterlexikon unserer Mutter. So können wir schließlich in letzter Minute einen Streit abwenden.

Was dann passiert, ist interessant: in den drei Jahren seit ich die Vase habe, steht sie vor allem im Küchenschrank in unserem Haus. Ich habe sie vielleicht ein zwei Mal in die Hand genommen. Seit sie nicht mehr in ihrer „Umgebung“ ist , scheint sie ihren Zauber verloren zu haben.

Und auch das habe ich in dem Prozess gelernt. Das Materielle verliert seine Bedeutung. Ein Spruch, den ich früher nie nachvollziehen konnte, wird mir immer wichtiger: 

Im Herzen lebst Du weiter.

Der Aufräumprozess im eigenen Elternhaus kann viele Erkenntnisse bringen. Er bietet auch die Chance, seine eigene Familiengeschichte neu zu ordnen, die Beziehung, die man zu seinen Eltern hatte- neu zu hinterfragen.

 

Was ich dann später bei den Interviews mit anderen Betroffenen für mein Buch „Loslassen und Leben aufräumen“ gemerkt habe: 

Egal in welchem Alter die Menschen waren und wie vielleicht ambivalent das Verhältnis zur Mutter oder Vater war: Für die meisten ist das Räumen im Elternhaus auch so schwer, weil nach dem Tod der Eltern die Kindheit endgültig zu Ende ist. 

Sie berichten von einem Gefühl der Verlassenheit: sie sind jetzt niemandes Kind mehr.

Mit dem Ausräumen der elterlichen Wohnung beginnt also auch ein neuer Lebensabschnitt „ohne Eltern“.

Ich komme jetzt schon zum Schluss meiner Rede:

 

Oft werde ich gefragt, ob ich jetzt anderes mit den Dingen in meinem Haus umgehe, weniger ansammle, um meine Kinder einmal nicht mit meinen Sachen zu belasten?

Mit dieser Frage will ich enden:

Was meinen Sie? Sollte man rechtzeitig entrümpeln und ausmisten, um die nächste Generation nicht zu belasten?

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