Christina Moraitis – Abteilungsleiterin am Beruflichen Schulzentrum Wertheim

„AUF.RECHT – Frauen mit Standpunkten“
Tischrede anlässlich des Frauenmahls in Wertheim am 24.11.2017

„Liebe Christina, es hat mich sehr gefreut, dich nach so langer Zeit – mehr als 30 Jahren – wiederzusehen. Ich erinnere mich deshalb so gut an dich, weil dich damals ein Schleier des Geheimnisvollen umgab. Du hattest etwas unglaubliches Zurückhaltendes, dabei gleichzeitig Kluges und Kämpferisches, was ich noch heute vor Augen habe. […] Weißt Du noch, was Du gesagt hast, als Dir Herr M. das Abiturzeugnis übergeben hat mir der Bemerkung, es wäre eine unglaubliche Leistung gewesen? «Ich hätte mir gewünscht, dass man uns Respekt und Wertschätzung entgegenbringt, dass jeder so, wie er ist angenommen wird, dass man uns zuhört, dass man uns da fördert, wo wir stark sind, und uns nicht ständig unsere Schwächen aufs Butterbrot schmiert – und dass man uns etwas über das Leben da draußen beibringt.« Wir haben damals die Luft angehalten, aber es wurde nichts kommentiert und es ist nichts passiert. […] Schade, dass wir uns gestern Abend nicht länger unterhalten haben. Mich hätte interessiert, warum ausgerechnet du Lehrerin geworden bist. Melde Dich doch, wenn du magst, wenn du einmal in der Nähe bist. Liebe Grüße, B“

Diese E-Mail eines ehemaligen Klassenkameraden nach unserem Klassentreffen im Juni diese Jahres hat mich sehr bewegt, spiegelt sie dich in wenigen Worten einen Großteil meiner persönlichen Schulgeschichte wider. In den 70er/80er Jahren des letzten Jahrtausends (das klingt weiter weg, als es ist, nämlich „nur“ 30 Jahre… ) machte sich die Bildungspolitik um die Integration von Gastarbeitskindern – und das war ich – nicht allzu viele Gedanken; es gab in einigen Bundesländern sogar Gesetze, dass der Ausländeranteil in Regelklassen 30% nicht übersteigen durfte. Weniger als 1% der Gastarbeiterkinder „schaffte“ es Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre auf ein Gymnasium, weniger als 3% besuchten eine berufliche Schule wie die, an der ich heute unterrichte, Und wenn man es dann geschafft hatte, war man nicht unbedingt wohlgelitten, denn was heute selbstverständlich ist, Kinder bzw. Jugendliche zu unterrichten und pädagogisch zu betreuen, die sich sprachlich, nach den Normen ihrer Kultur sowie nach Lebenslauf und Schulkarriere nicht nur von ihren deutschen Mitschülern, sondern auch untereinander stark unterscheiden, ggf. sprachliche Defizite aufzuarbeiten und sich als Lehrer bemühen, andersartige Werteorientierungen und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zu interpretieren, ggf. zu akzeptieren und damit und nicht dagegen zu arbeiten, galt damals als eine unnötige „Behinderung“ des Unterrichts, der man die deutschen Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt aussetzen wollte. Entgegen allen Widrigkeiten habe ich also mein Abitur gemacht – um danach entgegen aller Klischees zunächst in einer Glashütte zu lernen und dann ein Ingenieurstudium zu absolvieren, Das war auch so ein Ding – und ist es immer noch, denn immer noch gibt es typische „Jungs-„ und typische „Mädchenberufe“: So sind besonders die handwerklichen und technischen Berufe immer noch eine Männerdomäne, währen pflegerische, künstlerisch-kreative und „Büro“-Berufe immer noch als „typisch Frau“ gelten, was eigentlich unverständlich ist, da es an Schulen und auf Berufsmessen unendlich viele Projekte und Veranstaltungen nach dem Motto „Berufsfindung nach Talent und Neigungen“ gibt und ja auch viele junge Frauen um ihre handwerklich-technische und viele junge Männer um ihre kreative Begabung wissen. Dennoch überwiegen oft die Vorbehalte und Unsicherheiten gegenüber bestimmten Berufsgruppen. So liegt der Anteil von Ausbildungsanfängerinnen in gewerblich-technischen Berufe im dualen System insgesamt immer noch bei unter 10%, die der Studienanfängerinnen in den Ingenieurswissenschaften und MINT-Fächern inzwischen bei fast 25%, das ist seit den 80er/90er Jahren ungefähr eine Verdopplung schätze ich – immerhin. Den Weg aus der Misere? Kenne ich nicht. Ich denke, es ist wichtig, sicher der Problematik überhaupt bewusst zu sein, damit unter Umständen eine Professionalisierung von Berufsberatern und Lehrkräften hinsichtlich einer „Entstereotypisierung“ stattfinden kann; allein durch Sprache (Verwendung der männlichen und weiblichen Form der Berufsbezeichnung) und Bilder (neuere Schulbücher, z.B. für Wirtschafts- und Sozialkunde oder auch in den Fremdsprachen, sind da schon einen großen Schritt voraus) kann viel in den Köpfen erreicht werden. Außerdem braucht es – wie immer – Vorbilder oder anders gesagt „Beispiele des Gelingens“, die Mut machen, andere – neue Wege zu gehen. Aber gut, ich arbeite ja auch nicht mehr in meinem ursprünglich erlernten Beruf, sondern bin nun – „typisch Frau“ – ausgerechnet in dem Beruf gelandet, der mit während meiner eigenen Schulzeit der suspekteste von allen war: Lehrerin … Was das angeht, war alsi die Frage meines Klassenkameraden durchaus berechtigt.

„Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen.“ – so sagte Thomas Carlyle (1795 – 1881). Ein hehres Ziel – aber vor 20 Jahren mit Rückblick auf meine eigene frustrierende Schulzeit ein starker Antrieb. Doch seitdem, sind die Herausforderungen nicht weniger geworden. Neben dem Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (unabhängig davon, ob es sich um Arbeitsimigranten überwiegend aus dem Mittelmeerraum, asylsuchende Flüchtlinge ider osteuropäische Aussiedler handelt)steigt auch der Anteil der Schüler mit Förderbedarf (z.B. aufgrund einer körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung), die – weg von sonderpädagogischen Einrichtungen – an Regelschulen unterrichtet werden. Das heißt, Lehrkräfte haben es mit einer immer heterogeneren Schülerschaft zu tun. Es ist äußerst anspruchsvoll, Unterricht so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen kognitiven und sprachlichen Voraussetzungen und unterschiedlichem kulturellem Hintergrund gleichermaßen profitieren, dass gewissermaßen jeder dort abgeholt wird, wo er gerade steht und dann – individuell gefördert – solche Lernfortschritte macht, die es ihm oder ihr ermöglichen, den zentralen Prüfungen, die am Ende fast jeder „Bildungskarriere“ stehen, gewachsen zu sein. Damit ist individuelle Förderung“ das Stichwort der Stunde, und inzwischen wird dieses nicht nur von der Bildungspolitik propagiert, sondern auch in der Lehreraus und –weiterbildung immer stärker umgesetzt, denn: Ohne Handwerkszeug kein adäquates Handeln … Lehrerinnen und Lehrer können in der sich verändernden Anforderungswelt „Klassenzimmer“ nur überleben, wenn sie sich Methoden aneignen, die Schülerinnen und Schülern Freiheitsgrade hinsichtlich des individuellen Lerntempos, der individuellen Interessen, Zugänge und Erarbeitungsformen anbieten. Das allein bedeutet aber noch längst nicht den unbedingten Erfolg. Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen (z. B. der Diakonie und dem Jugendamt) oder Jugendsozialarbeitern sind unabdingbar – auch, weil diese Menschen einen anderen Blick auf die Dinge haben und auch beispielweise keine Leistungsbeurteilung vornehmen müssen. Ich denke, ohne eine gewisse „Entdramatisierung“ von kulturellen und sonstigen Unterschieden (ohne vs. Mit Migrationshintergrund, männlich vs. Weiblich, ohne vs. mit körperlicher/seelischer Beeinträchtigung etc.), werden wir uns auf lange Sicht schwertun, einen offenen, unbefangenen Blick auf die Dinge zu haben; aber gerade der ist notwendig, um Krisen (echte oder vermeintliche) nicht (nur) als Katastrophen, sondern (auch) als Chancen zu sehen. Ohne den Mut, uns damit abzufinden, dass wir nicht alles kontrollieren und/oder ändern können (und auch gar nicht müssen…) oder – frei nach EPIKTEK – ohneden Unterschied zu erkennen zwischen dem, was in unserer Macht steht, und dem, was nicht, werden wir Unsicherheit und Verunsicherung immer als Katastrophe empfinden und diese nicht als Chance zur Kreativität nutzen, aus der etwas gutes, neues entstehen kann. Aber auch dabei kann die Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen, die von vorneherein einen anderen Blickwinkel besitzen, hilfreich sein.

Damals, zu meiner eigenen Schulzeit, als ich noch „auf der anderen Seite“ stand, wie auch heute hieß und heißt Schule ja nicht nur die Vermittlung von Wissen und Können, sondern auch die Vermittlung von Werten. Wertevermittlung ohne Aufrichtigkeit, d. h. ohne „aufrecht zu sein“, ohne sich selbst und zu seinen eigenen Werten, Überzeugungen und Idealen zu stehen, ist meiner Meinung nach nicht möglich. Hier schließt sich nun der Kreis, und wie mein Klassenkamerad B. haben Sie nun erfahren, warum ich im Gegensatz zu früher heute gerne in die Schule gehe – auch wenn die Zeiten nicht einfacher werden. Aber wie hat meine Großmutter immer gesagt? „Gott hat uns niemals eine leichte Reise versprochen – aber er verspricht uns eine sichere Ankunft.“ Woher sie das hatte, habe ich nie herausgefunden – aber ich glaube, sie hat recht!

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