Cordelia Vitiello – Präsidentin der Stiftung Bethanien des Ev.-luth. Krankenhauses in Neapel

Redemanuskript zur Tischrede von Cordelia Vitiello am 14. Mai 2022
zum Frauenmahl in Witzenhausen

 

„Frauen in systemrelevanten Berufen – Reformation retro“

Wie habe ich die Pandemie in unserem Evangelischen Krankenhaus Bethanien in Neapel, Italien, erlebt?

Wie Sie wissen, wurde Italien wegen der Bewältigung des Gesundheitsnotstands in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie zu einem globalen Symbol. Zunächst wurde die Gefahr unterschätzt und das Land wurde von der Pandemie überrollt. Infolge der Impfkampagne wurden schließlich 80% der italienischen Bevölkerung geimpft – gegenüber nur 59% weltweit.

Die Bewältigung des Gesundheitsnotstands war in Einrichtungen des Gesundheitswesens, insbesondere in kirchlichen Einrichtungen wie der unseren, aus zwei Gründen enorm problematisch: zum einen nämlich wegen der zwangsweisen Schließungen, Sperrzeiten und Klinikpausen, zum anderen wegen der erheblichen wirtschaftlichen Verluste.

Wie stark waren die Frauen, die an der Pandemie beteiligt waren?
Stärke, aber auch Geduld waren die hervorstechenden Attribute der Frauen in der Bewältigung der Pandemie. Die Frauen hatten über Nacht eine erhebliche Arbeitsbelastung zu bewältigen, die sie sowohl in beruflicher als auch in emotionaler Hinsicht benachteiligt hat. Wie reichlich dokumentiert wurde, sind Frauen häufig aufgefordert worden sowohl eine soziale als auch eine persönliche Machtprobe abzulegen. Dies galt für alle Situationen von Not, Gewalt und Ausgrenzung, die durch die Nähe zu jenen Männern, die täglich ihre Würde und ihre Rechte mit Füßen traten, noch verstärkt wurde. Über das Solidaritätsnetz des Krankenhauses und der Kirchen von Neapel haben wir Daten zusammengetragen, die von wirklich schwierigen, um nicht zu sagen dramatischen Realitäten berichten. Frauen haben viel für ihre Familien getan, für die Gesellschaft, für die Kirchen.

Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf die Familien und Freundeskreise?
Ich denke, dass die Rolle, die Frauen während der Pandemie gespielt haben, dort, wo es keine Missachtung der Rechte und sichtbare Gewalt gab, der Familie und der Gesellschaft insgesamt gutgetan kam. Wenn die große Präsenz von Frauen auch mit einer Intensivierung ihrer Anstrengungen verbunden war, hat sie doch dazu beigetragen, den oft übersehenen Beitrag der Frauen besser zu verstehen und aufzuwerten.

Gab es Unterstützung von den Kirchen?
In der neapolitanischen Realität, in der die Kirchen immer präsent sind und die Bethanien-Stiftung des Krankenhauses sowie das Evangelische Krankenhaus Bethanien selbst auf wirksame Weise unterstützen, haben sie unsere Aktivitäten auch während der Pandemie nicht vernachlässigt. Zunächst wurde das Evangelische Krankenhaus Bethanien dadurch unterstützt, dass man das Vertrauen in die Arbeit des Lenkungs- und Managementgremiums bekräftigte. Aber auch durch konkrete Initiativen der Solidarität sowie durch Gebete wurde ein Beitrag geleistet. Ohne die Nähe und Unterstützung der Kirchen hätten wir diese schwierigste Zeit in der Geschichte des Evangelischen Krankenhauses in Neapel nicht bewältigen können.

Wie sieht es heute aus?
Die Situation hat sich heute deutlich verbessert. Es gibt nach wie vor einige kritische Punkte, aber wir sind zuversichtlich, weil die Rolle der Bethanien-Stiftung und des Evangelischen Krankenhauses während der Pandemie gestärkt wurde. Die lange gesundheitliche Krise bedeutete für unsere Einrichtung nicht nur eine Strukturkrise, sondern hab gleichzeitig auch eine Chance für eine organisatorische Neukonzeption. Die von der Pandemie aufgedrängten Missstände haben uns mit der dringenden Notwendigkeit einer Reorganisation unseres Handelns konfrontiert, und zwar sowohl in organisatorischer als auch in sozialer Hinsicht. Seit Beginn dieser sehr langen zwei Jahre haben wir in unserem Krankenhaus einen neuen Kurs eingeleitet. Es wurde so auch der Prozess einer Strukturerweiterung initiiert, der innerhalb der nächsten drei Jahre zu einer Umgestaltung des Krankenhauses führen wird. Wir haben es verstanden die Krise –nicht nur nach außen hin – in eine Chance für einen Neuanfang zu verwandeln.

Was hat die Bevölkerung von Neapel Ihrer Meinung nach aus dieser Pandemie gelernt?
Die Pandemie und die sich zuspitzende gesundheitliche Krise waren eine große Lektion nicht nur für die Neapolitaner, sondern für alle Menschen. Solidarität war dabei sicher die größte Lektion. Sich gegenseitig zu unterstützen, zu teilen, auf unnötigen Konsum zu verzichten – die Pandemie war für viele Menschheit ein regelrechtes Bad der Demut.

Sind Ihnen Versuche bekannt das Erlebte für die Zukunft zu dokumentieren, vielleicht auch ein „Notfallprogramm“ für eine ähnliche Situation zu verfassen?Natürlich gibt es dazu Überlegungen. Und wir als Bethanien-Stiftung des Evangelischen Krankenhauses treiben diese zentral voran. Im Laufe dieses Jahres werden wir einige Notizbücher veröffentlichen, die unsere Erfahrungen mit der Covid-19-Pandmeie und dem daraus resultierenden großen Solidaritätsbeweis dokumentieren. Der Krieg, der vor fast zwei Monaten im Herzen Europas ausgebrochen ist, hat uns sofort in die harte Realität zurückgeführt und wird von einigen als Vorwand genutzt, um die Lehren aus der Pandemie vergessen zu machen. Ich denke nicht so. Seit der Pandemie haben wir so viel gelernt, als Menschen und als Gesellschaft. Das eigentliche Problem ist meiner Meinung nach, dass die Medien aufgrund der Bedürfnisse des Marktes oft Dinge erzählen, die faktisch nicht stimmen. Als größte Lehre aus der Pandemie sehe ich zweifellos die große Solidarität an, die sich in einer Situation des Überflusses manifestiert hat. Auch heute noch werden die Menschen in der Ukraine, die vor dem Krieg fliehen, willkommen geheißen: Millionen Familien in ganz Europa haben ihre Häuser für Flüchtlinge, Männer und Kinder geöffnet. Wir haben seit dem Zweiten Weltkrieg keinen so großen Willkommensgruß mehr erlebt.

Welche Rolle hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien in der Pandemie gespielt? Könnte sie zum Beispiel ein Hoffnungsträger sein?
Die Kirche spielte in der Pandemie eine wichtige Rolle. In einer stark säkularisierten Welt stehen die Kirchen vor einer neuen Herausforderung, einem epochalen Wandel.

Zunächst war die Kirche nicht auf die Pandemie vorbereitet, auch und vor allem angesichts der neuen Situation der Sozialen Distanzierung, die durch eine längere Abstinenz von physischen Zusammenkünften und durch den massiven Einsatz von digitalen Technologien geprägt war. Dies hat die Überlegungen darüber angetrieben, welche Bedeutung digitalen Technologien und Medien bei der Aufrechterhaltung von Gemeinschaft und sozialen Beziehungen zukommt.

Nach einem Moment der Desorientierung während der Pandemie übernahm die Kirche die in der Pandemie eine Führungsrolle, die sie zuvor – vielleicht, aber ich sage es nur leise – verloren hatte. In unserer Zeit werden die Menschen von vielen Stimmen abgelenkt und können Gottes Stimme oft nicht mehr hören. Die Pandemie hat die wahre Bedeutung der Hoffnung neu entdecken lassen. Hoffnung besteht darin die tieferen Bedürfnisse von Menschen zu erfassen. Die Pandemie hat alle einsamer gemacht, die Distanz und das Misstrauen vergrößert. Die Fähigkeit des Zuhörens musste neu entdeckt werden.

Wie haben Sie die vergangene Zeit persönlich erlebt? Gab es Erfahrungen als evangelische Christin in der Diaspora, die hilfreich waren oder sie sich gar als eine besondere Stärke erwiesen haben?
Ja! Das hat sich auch durch meine persönliche, soziale und kirchliche Erfahrung bestätigt. Ich war einer der ersten, die sich mit dem Coronavirus infizierten. Ich hatte Angst vor dem Tod. Dann erlebte ich das Drama der Pandemie als Präsidentin der Evangelischen Bethanien-Stiftung in Form von Verzweiflung, Tod und wirtschaftlichen Verlusten für Tausende von Arbeitern und Unternehmern, auch für unser Krankenhaus. Wir als Kirche und als neapolitanische Kirchen haben erfahren wie einsam wir sein können. Aber gerade in der dunkelsten Zeit erlebten wir in unseren Gemeinden, unseren Arbeitsorten und schließlich auch in der Gesellschaft die Kraft von geschwisterlicher Solidarität, Barmherzigkeit und Gottesliebe. Zumindest auf meinem Territorium, in der Provinz Neapel und in Kampanien, haben die lutherischen Kirchen den Einzelnen, den Ärmsten, den Ausgegrenzten und auch unserer Einrichtung geholfen, diese schwierige Zeit zu überstehen. Als Krankenhaus erhielten wir fast 200.000 Euro Spenden von Lutheranern aus der ganzen Welt.

Zur Person

Cordelia Vitiello ist seit 2018 Präsidentin der Bethanien-Stiftung, die Trägerin des Evangelischen Krankenhauses Bethanien in Neapel ist.

Seit 2012 ist sie Vizepräsidentin des Konsistoriums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien und Gesetzliche Vertreterin der Kirche.

Auf der Zwölften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Namibia 2017 wurde sie in den Rat des Lutherischen Weltbundes gewählt.

Seit viele Jahren ist sie Mitglied des Kirchenvorstands der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Neapel.

Mit einer deutschen Mutter und einem neapolitanischen Vater repräsentiert Cordelia Vitiello auch die bi-kulturelle Seele der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien.

Sie hat einen erwachsenen Sohn. Mit ihrem Mann lebt sie in Torre del Greco, im Golf von Neapel.

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