Dagmar Gruß – Evangelische Gemeindepfarrerin und Synodalbeauftragte für Frauenfragen in Bonn

Ratingen, 18.01.2013

„Aufbrechen. Zukunft für Religion und Kirche?!“

Liebe Frauen,

die ihr euch stärken wollt – nicht nur mit einem kräftigen Mahl, sondern auch mit neuen Gedanken.

Es wird Frühling, Lichtmess ist nah, das Jahr liegt noch fast weiß wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns. Eine gute Zeit für Visionen. „Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“ (1 Joh 3,2). Die Natur bereitet sich vor auf den großen Durchbruch aus der noch kalten, schneebedeckten Erde. Ihr wollt bald wieder Blüten aufbrechen sehen und dürstet auch nach kirchlichen Hoffnungszeichen.

Ich will den Sprung in Frühlingsgefühle schaffen, zumal ich die letzte auf eurer heutigen Rednerinnenliste bin. Aber die Statistiken und Tagesnachrichten halten mich fest in der kalten, dunklen Jahreszeit.

* Ich sehe eine Kirche, die gerade wieder darauf verzichtet hat, eine Frau zur Präses zu wählen, mag der gewählte Kandidat auch noch so vielversprechend sein; 20 Landeskirchen haben wir aktuell mit gut 23 Mio. evangelischen Kirchenmitgliedern in Deutschland – diesen 20 Landeskirchen stehen Präses Annette Kurschus in Westfalen und Landesbischöfin Ilse Junkermann in Mitteldeutschland vor, sowie Kirsten Fehrs als Bischöfin für den Sprengel Hamburg und Lübeck (neben vier anderen Bischöfen der Nordkirche). Sind die 2,2 weiblich geführten von insgesamt 20 Landeskirchen ein Aufbruchzeichen? Ich antworte mit Dr. Beatrice von Weizsäckers neuestem Buchtitel „Ist da Jemand? Gott und meine Zweifel“.

* Ich sehe ferner eine Kirche, die darauf bedacht ist, immer weniger Menschen immer effektiver zu verwalten durch NKF und deutliche Kompetenzzuwächse auf den höheren Verwaltungsgebenen, also in den 38 Kirchenkreisen der EKiR, von denen 6 durch Super-indentinnen geleitet werden, die in Altenkirchen, Köln-Rechtsrheinisch, Düsseldorf, Wetzlar, Wied und Wuppertal wirken.

* Ich sehe nur wenig Widerstandsgeist nachwachsen unter den jungen Theologinnen unserer Kirche, die gerade eine 100jährige Hoffnungsträgerin an die Ewigkeit abgeben musste – und möchte fast die These von der „Kirchendämmerung“ eines renitenten Professors aus München unterstreichen.

Er sieht Bildungsferne und Demokratievergessenheit, Moralismus und Selbstherrlichkeit in der Kirche.

Rom sollte nicht unterschätzen, was eine abgebrochene Mißbrauchsaufklärung, eine wegen Ehebruchs entlassene Kita-Leiterin in Königswinter und abgewiesene Vergewaltigte in Köln an Kirchenmitgliedschaften kostet. Aber unsere „Kirche der Freiheit“ in Düsseldorf und Hannover sollte nicht unterschätzen, was überbordende Verwaltungskosten und abgebrannte Leuchtfeuer bedeuten, wenn unsere Kirche nur die Mitgliedschaften und die Kirchensteuereinnahmen, aber viel zu wenig die theologische Substanz im Blick hat. „Die eigentliche Krise der Kirche ist nicht eine Finanz-, sondern eine theologische Orientierungskrise“, meint Isolde Karle in ihrer 12. These zur Kirchenreform und ich frage

mich, ob unsere Kompetenzzentren die visionäre Energie einer Hildegard von Bingen ersetzen können.

Ich meine, was uns hilft, sind keine missionarischen Schulungsprogramme, in denen wir uns brav wieder das alte Katechismuswissen aneignen oder die Tischreden Luthers wieder-käuen. Uns kann nur noch retten, dass wir das Essen selber zubereiten und die Reden gleich dazu und dabei die Verlockung wiederentdecken, sich mit Lust in einen theologischen Diskurs zu werfen, wie kürzlich in Bonn bei der Diskussion um das Sühnopfer Christi geschehen. Leider wurden die Argumente nicht einer 30 Jahre alten Debatte feministischer Christologie gutgeschrieben, sondern als Männermachwerke verkauft. Frauen tun sich immer noch schwer mit der Sichtbarkeit und beste Schul- und Examensabschlüsse werden nicht selten im Windeleimer versenkt.

Ich bin überzeugt: nicht die immer größeren Einheiten, die bestens organisiert und durchstrukturiert und zukunftsfähig gemacht sind, werden den Fortbestand der Kirche sichern, sondern einzig ein paar glaubwürdige Menschen vor Ort, die ein offenes Ohr haben, ein paar wichtige Projekte anstoßen und das tun, wofür sich sonst kaum jemand öffentlich zuständig fühlt: von Gott reden, die Schrift gegenwartstauglich auslegen, ins Beten führen, – und Visionen haben.

Ein echter Aufbruch der Kirche wäre ihr Zurückfinden in die Verbindlichkeit und ihr Ringen um die eigene Substanz. Es kostet mich viel Nachtarbeit, um diesen Anspruch nicht ganz aufzugeben neben den alltäglichen Ablenkungen vom Verkündigungsdienst. Aber ich werde immer schlechter durch die vielen Gremien mit ihren vielen Papieren, durch die Schulungen im Neuen Kirchlichen Finanzwesen (NKF), im Datenschutz, in Computersoftware, durch die Erstellung immer neuer Leitbilder und Konzeptionen mit kurz-, mittel- und langfristigen Zielen. Unter all diesen Dingen sind viele von uns vergraben wie unter dem alten Laub vom letzten Herbst und merken nicht, wie die Geisteskraft neben uns schon aus dem Verborgenen ans Licht gefunden hat und sich darauf vorbereitet, Knospen zu treiben.

Nicht die Pfarrerin ist anders (nach M.Josuttis), sondern die Kirche soll anders sein, damit Menschen sich nicht alternativlos dem Nichtigen ausliefern müssen – den unzähligen Erledigungen, die uns durch den Tag treiben.

Nette Gottesdienste, die sich nahtlos einpassen ins Freizeitvergnügen, können stattfinden und stiften auch Gemeinschaft, ersetzen aber nicht eine sinnstiftende Lebensdeutung vom Evangelium her. Es braucht eher drei Tage als drei Stunden, wenn ich einen Gottesdienst konsequent vorbereiten, eine Predigt theologisch durcharbeiten, sorgfältig ausformulieren und dann noch zum lebendigen Vortrag auswendig lernen und proben will, um bei freier Rede nicht in Geschwätz zu verfallen.

Die Geistkraft ist nicht verfügbar wie ein Rahmenplan und ein Konzeptionspapier, sondern weht, wo sie will, und manchmal eben auch da, wo die Institution nicht mehr hinreicht. Könnte ich auf die Geistin nicht hoffen, müsste ich die Lust verlieren, das alles abzuarbei-ten, was der Pfarrberuf mir vor die Füße legt.

Verschwendete Kirchensteuermittel trotz hoher ethischer Selbstverpflichtungen grämen mich, ich bin auch enttäuscht von der größten kirchlichen Gemeinschaft, die immer noch nicht begriffen hat, was Jesus meinte, als er sagte: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh 8,32)

Jesus ist nicht nur krank und im Gefängnis gewesen und wurde besucht, er ist nicht nur hungrig gewesen und ihm wurde zu essen gegeben, er ist nicht nur fremd gewesen und wurde aufgenommen oder nackt und wurde gekleidet. Er hat auch Freunde gehabt und wurde verraten, er ist auch Opfer gewesen und wurde verhöhnt.

Mir fällt am Anfang dieses Jahres nichts Visionäres ein – also muss ich auf Inspiration warten, auf die heilige Geisteskraft, die mich erreicht wie ein aufgegangener Mond über einem schwarzen Wald, der schweiget.

Es muss wohl Geisteswirken sein, wenn eine junge Ministerin, die soeben ein antifemini-stisches Buch geschrieben hat, nun das Herrsein Gottes aufbrechen will und „das lieber Gott“ beim Weihnachtsfest 2012 in der Krippe liegen sieht!

Es muss wohl Geisteswirken sein, wenn für eine einzige zu Tode vergewaltigte Frau in Indien plötzlich ganz Delhi auf die Straße geht (während in unserer gefestigten Demokratie die kirchliche Krankenhaustür für ein Opfer geschlossen bleibt)!

Wo immer Frauen aller Religionen für den Frieden eintreten, sehe ich Aufbrüche und auch da, wo sich ein wirkliches Aufeinanderhören in der Kirche ereignet, wo die Macherinnen und die Spirituellen sich gemeinsam dafür einsetzen, dass es einen Raum gibt, der nicht von uns verplant und eingetütet, sondern für Geisteswirken freigehalten wird.

Die Stimmung im Land und in der Welt ist nicht besonders visionär am Beginn des Jahres 2013. 250 Beispiele guter Praxis von der ekd-Plattform „geistreich“ werden jetzt als Buch einer „Kirche im Aufbruch“ verkauft, aber ich bin nicht sicher, ob wir durch solche Veröffentlichungen geistreicher werden.

Wir haben wieder einmal gut gegessen – keine Psalmen, wie Dorothee Sölle es vorschlug, aber vielleicht Ichthys mit dem Fisch, wenn uns klar war, warum wir uns hier versammelt haben.

Der Rückblick auf 1517 soll uns bald den „Geist der ersten Zeugen“ (eg 241) zurückholen. Und ich schaue jetzt auch noch einmal zurück:

Aufbruch war gestern,

als eine einzelne Frau wie Ilse Härter im März 1939 die Einsegnung verweigerte, um die gleichberechtigte Ordination für Frauen zu erwirken, die nach einem abgeschlossenen Theologiestudium Pfarrerinnen werden wollten. Und sie hat es 1943 als Frau zusammen mit Hannelore Reiffen zur ersten uneingeschränkten Ordination in der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union gebracht, die sie in Sachsenhausen erlebte.

Aufbruch war gestern,

als eine Bibel in gerechter Sprache übersetzt wurde, als viele Kirchenkreise und theologi-sche Fakultäten angefangen haben, Geld für Befreiungsdiskussionen auszugeben, anzettelt

von hauptamtlichen Frauenreferentinnen und Dozentinnen auf feministisch-theologischen Lehrstühlen, die damit die Kirche belebten und das Kirchenvolk in Schwung brachten.

Aufbruch war gestern,

als viele noch glaubten, Dikaturen in Nordafrika könnten sich schnell und basisgesteuert in frauenfreundliche Demokratien verwandeln.

Aufbruch war einmal.

Der Boden ist wieder ziemlich vereist, auf dem wir stehen.

Vereister Boden ist schwer zu beackern.

Vielen Frauen ist die Vielfalt der Anforderungen zu anstrengend geworden, und sie besin-nen sich auf die kleineren, überschaubareren Bereiche. Ihre besinnungslos arbeitenden Mütter konnten ihnen nicht recht zum Vorbild werden.

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle einfach einmal innehalten und zurückschauen: die Frauendekade hat etwas erreicht, die Dekade danach half verdauen und half vergessen.

Ist es nicht gut, dass unsere Töchter und Enkelinnen schon fast vergessen haben, dass es eine Zeit gab, in der die Menschenrechte für Frauen nicht galten und es noch keine Bundeskanzlerin und keine Bischöfin gab?

Die Zukunft liegt noch fast weiß und ungefärbt vor ihnen. Sollen sie doch sehen, was ihnen schmeckt!

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