Essen, 28.10.2012
Was mir heilig ist …
… ein heikles Feld für eine Pastorin, auf diese Frage zu antworten.
Denn ihre Kirche hat ihr heilig zu sein, ein geistgewirktes Gebilde, zusammengehalten von Gottes Fügung über zweitausend Jahre schon, eine Menschengemeinschaft von Seelen, für die sie sorgt, und ein Ort, an dem sie in der ihr eigenen Art vom Evangelium sprechen darf und davon, wie es sie angeht. Ein unglaubliches Privileg, eine unlösbare Aufgabe.
Was aber, wenn sie den Kurs der Kirche gerade kaum aushält?
Diese Konzentrations- und Zentralisierungsstrategien in der angeblichen „Kirche der Freiheit“? Dieses Effektivitätsstreben und diese Controlling-Kultur, die so viel Angst der Kirchenleitenden, so viel unangebrachte Hochachtung für das Wirtschaften der Welt und so wenig Gottvertrauen bezeugen.
Die Kirche ist mir heilig, aber eben als Korrektiv, als Kontrapunkt, als echte Alternative, die sich aufs Ewige bezieht und nicht als Winzling und Gernegroß in einer geldbestimmten Wirtschaftswelt, in der SIE hin und wieder scheinheilig den Zeigefinger hebt, sich aber gleichzeitig genauso machtvoll durchstrukturieren will, Leichtlöhne liebt, hinterherhinkend noch das Falsche bedient
– während vordenkende Weltmenschen schon längst den Kurs gewechselt haben und manche von ihnen auch auf SIE zurückkommen wollen.
Wenn die sich nun umdrehen und schauen, was die Kirche meint:
Sollen sie dann nur eine schlechte Kopie von verantwortungslos wirtschaftenden Großkonzernen sehen? Nein! Sie sollen sehen, was einer naiven, handgestrickten Diversity-Verfechterin, heilig ist: eine um den Glauben versammelte Gemeinde, die immer noch dem längst umgekommenen Jesus und trotzdem noch lebendigen Christus vertraut, die beharrlich versucht, das Falsche um der Liebe willen auszuhöhlen und den Preis nicht scheut, dafür lächerlich unmodern und lächerlich wirkungslos zu erscheinen.
Heilig sind mir darum all jene Menschen, die SELBST-los ihrer ur-EIGENsten Bestimmung nachkommen, das Falsche falsch und das Richtige richtig zu nennen, während die Biegsamen jeden Mut verloren haben, für etwas gerade zu stehen. Echt reformatorisch also ist das, was mir heilig ist.
Und die Fröhlichen sind mir heilig, die eine Auferstehungsfreude bezeugen, inmitten aller Todessehnsüchteleien niemals aufgeben, ohne dabei zu oberflächlichen Optimisten zu werden, die glauben mit der Lüge besser zu leben als mit der Wahrheit, die doch allein imstande ist, uns, nein immer nur mich, frei zu machen.
Solche Anlässe wie heute sind mir heilig, wo wir einander guttun und als Gute begegnen, so freundlich zueinander sind, ganz ohne Konkurrenzgefühle, wo wir obenauf sind und unsere Abgründe vergessen können.
Heilig sind mir so viele Dichterinnen und ihre poetischen Hellsichtigkeiten,
auch wenn sie keiner lesen und hören, geschweige denn auswendig lernen will,
weil das Geschrei der Welt uns die Konzentration so schwer macht.
Heilig ist mir mein Selberdenken, denn der Verstand ist eine Schöpfungsgabe, und der kritische erst recht.
Heilig ist mir darum auch meine Bereitschaft zur Auseinandersetzung,
obwohl ich ahne, wie schön bequem und seelenwärmend es wäre,
eine Beisitzerin zu sein, die sich eng ankuschelt, niemandem weh tut
und keinen Abstand braucht, um sich zu sammeln.
Heilig ist mir natürlich auch die Liebe meiner Jugend, die immer noch an meiner Seite geht und mich vertrauensvoll leben lässt, obwohl ich an anderer Stelle misstrauisch nach der Wahrheit grabe. Meine Kinder sind mir heilig, auch wenn sie nur in den ersten Lebenswochen alle Zeit von mir haben konnten und bald keine Zeit mehr für mich haben werden.
Heilig ist mir vor allem, dass einige noch wissen, das Heilige vom Profanen zu unterscheiden, wo uns doch das Banale in all den elektronischen Kisten durch Kabarettisten die Heiligen zu Witzfiguren entstellt hat, damit wir gar nicht erst in Versuchung kommen, irgendetwas ernst zu meinen.
Das Heilige ist etwas Herausgehobenes aus dem Herkömmlichen. Ich hoffe für die Zukunft, dass mir nicht alles gleich wird im Land des Vergessens und ich mich irgendwann langsam aus diesem Leben verabschiede, nachdem ich schon lange nicht mehr wusste, was mir einmal heilig war.
Aber vielleicht ist dieses vergebende Vergessen auch gerade die herausragende Eigenschaft einer Kirche, die allen Ernstes von Heiligen sprechen will, um das Eigentliche voranzubringen im Sammelsurium der Werte und Wichtigkeiten.