Dr. Christiane Wessels -Referentin für kulturelle und politische Bildung Zentrum Bildung der EKHN – FB Erwachsenenbildung und Familienbildung

Tischrede Dr. Christiane Wessels bei dem Frauenmahl am 29. Oktober 2015 in Groß-Umstadt

Zwischen Bildern und Lebenspraxis – Ermutigende Perspektiven für Familien im EKD-Familienpapier

Bilder sind wirkmächtig. Ich denke, das ist auch in den Beiträgen meiner Vorrednerinnen deutlich geworden.
Das EDK-Familienpapier, zu dem ich gebeten worden bin, hier heute Abend zu sprechen, zeigt vielfältige Bilder von Familie und reflektiert damit gesellschaftliche Veränderungen:
Ehepaare mit Kindern, Alleinerziehende, Patchwork Varianten, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit Kindern – um einige zu nennen. Die Orientierungshilfe macht zudem deutlich, dass Vielfalt nicht nur für die heutigen, sondern auch für die Lebensformen in biblischer Zeit grundlegend war und dass biblische Texte nur aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen sind.

Gewiss, das ist eine der Stärken dieses Papiers, diese Vielfalt der Formen des Zusammenlebens sichtbar zu machen und sie als gleichwertig anzuerkennen. Und dennoch, wenn ich nach meiner ganz persönlichen Quintessenz aus dem sogenannten Familienpapier mit dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ gefragt würde, dann würde ich sagen, die zentrale Botschaft ist folgende:

Es kommt gar nicht so sehr auf die konkrete Gestalt oder die Form oder das Bild von Familie an. Wichtiger ist das „Wie“, der Inhalt. Wie wird Familie im 21. Jahrhundert gestaltet? Wie kann die Gestaltung dieser Beziehungen gelingen? An welchen Kriterien können sich Menschen orientieren?

Statt einer normativ theologischen Begründung von Ehe und Familie nennt das Papier hier ethische Kriterien zur Orientierung: Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Verlässlichkeit, Verantwortung und Fürsorge. Damit stellt sich das EKD-Familienpapier in eine biblische Tradition, in der die Nächstenliebe und die Parteinahme für die Schwachen im Zentrum stehen.

Außerdem weitet die Orientierungshilfe noch einmal den Blick auf die Vielfalt von Lebensformen. Mit Bezug auf das Neue Testament wird herausgestellt, dass das Miteinander in Ehe und Familie zwar wichtig sei, aber nicht die einzig mögliche Lebensform. (…)“ und dass wir vor Gott weder auf unser Mann- oder Frausein noch auf unsere soziale Stellung festgelegt sind. Mit der Entdeckung der Rechtfertigung und Gleichheit aller „Kinder Gottes“ (Gal. 3,26-28) gewannen die Christinnen und Christen die Freiheit, die Schicksalhaftigkeit familiärer und sozialer Bindungen aufzulösen, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten, der eigenen Berufung zu folgen und sich aus eigener Entscheidung in neue Bindungen zu stellen.“ (S. 61)
 
Es gehört zum Bild vom modernen Menschen, dass er sein Leben selbstbestimmt gestalten kann. Aber Menschen sind gleichzeitig auch immer abhängige Wesen. Sie leben in Beziehungen. Menschen sind verletzlich. Menschen sind hilfebedürftig. Menschliches Leben verwirklicht sich also immer in diesem Zwischenraum zwischen relativer Autonomie und Bezogenheit auf andere.

Der Soziologe Hartmut Rosa spricht hier von Resonanzbeziehungen, die für ein gutes Leben – ich würde auch sagen ein erfülltes Leben – unerlässlich sind. Diese wechselseitige Bezogenheit kann sich auf Menschen, aber auch auf Natur, Kunst, Musik oder beispielsweise Religion beziehen.
Solch ein „vibrierender Draht“, von dem Hartmut Rosa spricht, kann zwischen Mensch und Religion bzw. Kirche aber nur dann entstehen, wenn es auch einen Bezug zum Leben, zur Lebenspraxis und zum Alltag der Menschen gibt. Mit der Orientierungshilfe verspüre ich dieses ernsthafte Bemühen, einen solchen Draht herzustellen. Das ist keinesfalls Anbiederung an den Zeitgeist und alles andere als Beliebigkeit, sondern eine Auseinandersetzung mit gelebter Praxis – eine Lebenspraxis, die aber auch rückgebunden wird an ein christliches Menschenbild, das bestimmt ist von der Würde eines jeden Menschen jenseits von Geschlecht und Herkommen. Ein wie ich finde sehr anspruchsvolles und mutiges Projekt!

Wie Sie alle wissen, hat Luther hat dem Volk bekanntlich gerne aufs Maul geschaut. Aber er hat ihm nicht nach dem Mund geredet. Das gehörte zum Prinzip seiner Bibelübersetzung ins Deutsche. Es bedeutet: genau zuhören, beobachten, daraus lernen – damit die Bibel verständlich wird.
In dieser protestantischen Tradition sehe ich auch das Familienpapier.

Zum Schluss ein paar ganz persönliche Worte: Selten hat mich eine offizielle Schrift der EKD so berührt. Ich glaube, das liegt daran, dass ich auch meine eigene Lebenswirklichkeit in dem Papier wiederfinden kann. Häufig, wenn es in der Vergangenheit im kirchlichen Kontext um Familie ging, habe ich mich ausgeschlossen gefühlt, nicht wahrgenommen. Ich lebe allein.
Meine Herkunftsfamilie wohnt in weiter Entfernung. Ich liebe meine Unabhängigkeit, aber ich bin da, wenn ich gebraucht werde von Familie oder Freundinnen, ich übernehme Verantwortung, und ich weiß mich wiederum unterstützt und getragen – nicht nur von meiner Familie. Das ist für mich „Menschsein in Beziehungen“ – ein Beziehungsgeflecht, das immer wieder aufs Neue gestaltet und gelebt werden will.
Dass dies nun auch in einem offiziellen Papier meiner Kirche so benannt und gewürdigt wird, stimmt mich hoffnungsvoll.
 
Dr. Christiane Wessels -Referentin für kulturelle und politische Bildung Zentrum Bildung der EKHN – FB Erwachsenenbildung und Familienbildung

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