Flensburger Frauenmahl am 30. Oktober 2014
Tischrede von Dr. Christine Fuchsloch, Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts, Schleswig
Meine Damen,
meine Herren (ja auch Herren sind hier herzlich willkommen),
„Hier stehe ich – Ein guter Ort zum Leben.“ Vielen Dank, Sie haben mit dem Motto mir auch meinen Begrüßungssatz geschenkt. Gerne lasse ich Sie an meine Gedanken zu diesem Thema teilhaben. Zwei Annäherungen in sieben Minuten:
1. „Hier stehe ich – ein guter Ort zum Leben.“ Das ist heute und hier: „Luther in Schleswig-Holstein“
Luther? Ja, denn gewählt ist eines der berühmtesten Zitate von Luther im Zusammenhang mit den bekannten ihm zugeschriebenen Thesen an der Schlosskirche von Wittenberg. Hier stehe ich – dann beim Reichstag zu Worms – und stehe zu meiner sehr grundsätzlich Kritik u. a. am Ablasssystem der katholischen Kirche. Heute hätte Luther seine Thesen wahrscheinlich nicht an die Schlosskirche genagelt, sondern im Internet veröffentlicht – vielleicht aber nicht auf Facebook, sondern wie die Organisatorin des Frauenmahls auf einer eigenen Homepage. Und warum Luther in Schleswig-Holstein? Weil Schleswig-Holstein ein guter Ort zum Leben ist. Zum einen denke ich das jeden Tag, wenn ich an der Schlei entlang zu meinem Arbeitsplatz im „Roten Elefanten“ (Anm.: So heißt das Gerichtsgebäude, in dem die Beschäftigten des Oberlan-desgerichts, der Generalstaatsanwaltschaft und des Landessozialgerichts ihren Platz haben) in Schleswig radele. Aber es lässt sich zum anderen auch statistisch im Glücksatlas der Deutschen belegen. Hier hat das Land Schleswig-Holstein in einer Studie von Raffelhüschen/Köcher in Sachen Lebenszufriedenheit wieder einmal auch im Jahr 2013 den ersten Platz belegt, obwohl das Durchschnittseinkommen niedriger ist als in manch anderen Bundesländern. Da sieht man: Geld allein macht nicht glücklich.
2. „Hier stehe ich – ein guter Ort zum Leben“ – Meine zweite Annäherung lautet: Für ein gutes Leben brauchen wir einen guten Sozialstaat. Es wundert Sie sicher nicht, dass mir als Sozialrichterin diese zweite Annäherung einfällt. Ein gutes Leben erschöpft sich nicht in schönem Wetter, Freunden, einer netten Familie und einer lieblichen Landschaft. Ein wirklich gutes Leben kann man nur dann führen, wenn es anderen auch gut geht. Die Ökonomen würden sagen: Die Chancen und materiellen Güter dürfen nicht extrem ungleich verteilt sein. Wir haben jedoch in den meisten Ländern eine wachsende Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen. Das ist inzwischen ein Gemeinplatz, auch wenn die Intensität und die Folgen unterschiedlich bewertet werden. Dabei möchte ich noch nicht einmal über weltweite Ungleichheiten sprechen, wie z. B. darüber, dass die reichsten 85 Menschen ebenso viel Vermögen besitzen wie die ärmsten 3,5 Milliarden Menschen – oder anders ausge-drückt: Die reichsten 85 Menschen besitzen ebenso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. (Zum Weiterlesen: Der Spiegel, Ein Prozent der Menschheit besitzt die Hälfte des weltweiten Reichtums, Januar 2014;
https://www-spiegel.de/wirtschaft/soziales/osfam-studie-kluft-zwischen-armen-und-reichen-waechst-a-944474.html mit weiteren Nachweisen zu der von der britischen Hilfsorganisation Oxfam in Auftrag gegebenen Studie)
Hier geht es mir eher um die Ungleichheiten bei den Einkommen in Deutschland. Meine These: Wir brauchen einen starken und effektiven Sozialstaat, um das Problem extrem ungleicher und unfairer Entwicklungschancen und Lebensverhältnisse zu lösen. Es gibt nach dem italienischen Wirtschaftswissenschaftler Gini ein Index für Ungleichheiten beim Einkommen, den sog. Gini-Koeffizienten. Der Wert liegt zwischen null und eins. Bei einer Gini-Koeffizienz von eins verdient das ganze Einkommen in dem Land eine einzige Person, er besteht also maximale Ungleichheit. Bei einem Gini-Koeffizienten von Null hat jeder Mensch in einem Land das genau gleiche Einkommen. Vereinfacht ist das der totale Sozialismus und sicher auch nicht erstrebenswert. Nach den Daten, die allerdings zum Teil unterschiedliche Zeiträume betreffen, haben
Länder wie Namibia oder Botswana mit 0,6 oder sogar 0,7 den weltweit schlechtesten Gini-Koeffizienten, also eine extreme soziale Spaltung zwischen Arm und Reich. Zu den „besten“ Ländern in Sachen Gleich-heit gehören Schweden mit einem Koeffizienten von 0,24 und Norwegen mit 0,25, wobei auch hier die Ungleichheit in den letzten Jahren zugenommen hat.
Deutschland hat nur dank des Sozialstaats und dessen Umverteilung, ein bisschen auch durch das Steuersystem, noch einen Gini-Koeffizienten im oberen Bereich von 0,283. Würde das Einkommen nur nach dem Bruttomarkteinkommen, also ohne Steuerprogression und sozialstaatliche Umverteilung bewertet, dann hätten wir in Deutschland einen Gini-Koeffizienten von 0,48 – also einen Wert wie in Gambia und Burkina Faso.
Deutschland ist nur deshalb ein guter Ort zum Leben, weil die sozialen Sicherungssysteme in der Vergangenheit eine kluge Umverteilung vorgenommen haben und Chancengleichheit ermöglichen wollten. Wir brauchen Altersrenten, von denen Menschen im Alter leben können, wenn sie nicht erwerbstätig sind. Wir brauchen Erwerbsminderungsren-ten für Erwerbsunfähige, die möglichst nicht unter dem Existenzmini-mum liegen. Wir brauchen Krankengeld und vor allem ein Gesundheitssystem, das sich am Risiko und nicht am Einkommen orientiert. Wir brauchen Kindergeld, um die finanzielle Belastung von Kinderreichen und Kinderlosen auszugleichen. Wir brauchen eine Existenzsicherung im Rahmen von Hartz IV und dem SGB XII, also die Sozialhilfe für nicht mehr Erwerbsfähige, die nicht nur das physische Existenzminimum, sondern auch Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. All dies kann ein Sozialstaat leisten und dies auch für Asylbewerber/innen. Aber die Mechanismen müssen immer wieder neu austariert und ausbalanciert werden. Denn Gerichte und Sozialverwaltungen können nur das umsetzen, was in der Gesellschaft und in der Politik als richtig und wünschenswert erkannt und in Gesetze gegossen wurde. Damit unser Land ein guter Ort zum Leben für alle ist.