Dr. Christine Morgenroth – APL Professorin für Psychologie, Universität Hannover

Hannover, 07.3.2013

“……wie dich selbst!”

Selbst(be)achtung als Voraussetzung für Respekt

Das Gebot der Nächstenliebe ist eine der Grundfesten des Christentums. Jede, die auch nur entfernt mit biblischen Texten vertraut ist, kennt diesen Grundsatz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses Gebot hat neben der Liebe zu Gott elementaren Charakter, von den Büchern Mose bis zur Bergpredigt wird es wiederholt.  In der Bergpredigt führt es zu einer golden Regel: "Liebe den Nächsten so, wie wenn dieser Nächste du selbst wärst!“  (Matthäus 7,12)

Im Idealfall müsste dieses Gesetz, wenn es von allen respektiert würde, zu einer symmetrischen, ausgeglichenen und gerechten Form des Zusammenlebens führen, auch und gerade zwischen Frauen und Männern. Wenn – !! Wenn dieser Nächste nun aber mich betrügt und belügt, beraubt, schlägt und auf andere Weise nicht achtet, z.B. indem ich lächerlich gemacht werde und berechtigte Klagen als “Tugendfuror” sogar vom Bundespräsidenten bagatellisiert und “abgewatscht” werden ??

Die damit einhergehenden theologischen Probleme können andere hier Versammelte gewiss besser erläutern. Als Sozialpsychologin habe ich Schwierigkeiten, mir allerlei empirisch bekannte Phänomene zu erklären. Zuvor muss ich daran erinnern, dass in den letzten 30 Jahren erhebliche Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter stattgefunden haben, die faktisch nahezu ausschließlich von Frauen verwirklicht werden. Frauen sollen (und wollen) beides leisten, Beruf und Familie verwirklichen (und dabei noch toll aussehen), sie sind erfolgreiche Hochleisterinnen in beiden Bereichen und stoßen doch an ihre Grenzen, weil der männliche Lebensentwurf sich bislang kaum, richtiger: gar nicht geändert hat. Das führt zu einem anhaltenden, strukturellen Ungleichgewicht, denn solange Männer sich nicht angemessen an Haus- und Pflegearbeiten beteiligen, kann Frau nicht beides verwirklichen. Dennoch versucht Frau es immer wieder aus eigener Kraft – ohne Veränderungen der Männer-Rolle und damit notwendige gesellschaftliche Veränderungen zu fordern.

Das führt in der individuellen wie kollektiven Frauenwirklichkeit zu krassen Schieflagen. An welche denke ich dabei?

In den letzten Jahren verstärkte sich der Eindruck, dass viele äußerst fähige Frauen tatsächlich resignierten vor der Macht des Faktischen (wie der gläsernen Decke und der Veränderungsresistenz der Männer). Dazu einige Beispiele aus meiner Berufspraxis:

    * Geradezu schockiert war ich vor einigen Jahren als Supervisorin, als in einem bedeutenden Sozialverband, in dem auf Landesebene einige hochkompetente Frauen als Leitungskräfte sich behauptet hatten, diese unabhängig voneinander die Entscheidung trafen, aus der oberen Führungsebene wieder auszuscheiden, mit der Begründung, dass die Kämpfe um Einfluss eine 80hWoche voraussetzen, sie aber noch Privatleben benötigten und auch die Kinderfrage noch offen sei – oder ihre Gesundheit bereits Schaden genommen hat!

    * In den Gewerkschaften stieß ich als Sozialforscherin auf engagierte Frauen, die als Mütter mehr Nachtarbeit forderten, um auf diese Weise die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern. Diese engagierten Frauen wagten nicht, Geschlechtergerechtigkeit zu fordern. Nicht allein “gleichen Lohn für gleiche Arbeit”, sondern  eine Politisierung des Privaten, eine Beteiligung der Männer an den Lasten der Hausarbeit und Kinderversorgung. Dies durch angemessene Arbeitszeitgestaltung und Karrierewege für Männer zu ermöglichen – eine Art Verpflichtung zur Teilzeit für Männer während der Familienphase forderten sie nicht. Statt dessen Nachtarbeit zur besseren Vereinbarkeit der Bereiche für sie selbst.

    * Aus Forschungen über häusliche Gewalt wissen wir, dass in langjährigen Partnerschaften dort besonders viel geprügelt wird, wo die Frauen besser ausgebildet sind und mehr verdienen, also im gesellschaflichen Ansehen ranghöher sind als ihre Partner. Diesen Männern rutscht also besonders häufig die Hand aus – und die betroffenen, erfolgreichen Frauen schweigen. Anzeigen aus diesem Bereich erfolgen besonders selten, vermutlich aus  Scham über die Demütigung. Gäbe es nicht seit einigen Jahren die repräsentativ und anonym als Doppelblindstudie durchgeführte Untersuchung des Familienministeriums, diese verstörende Tatsache wäre auch Eingeweihten nicht bekannt.

Was eint diese Beispiele und was liegt ihnen zugrunde? All diesen Vorgängen gemeinsam ist das Schweigen darüber, der Rückzug ins Verborgen-Private, der fehlende “Aufschrei”!

Es scheint ja nicht zu lohnen, sich wegen solcher Kleinigkeiten aufzuregen, frau will ja nicht als kleinlich gelten. Und schon gar nicht als Opfer dastehen, schwach und wehrlos. So schluckt sie viel, viel zu viel und schweigt.

Frauen bleiben mit ihren tatsächlichen Problemen von Missachtung angesichts schwieriger Lebensrealität allein, im Privaten, sie finden damit nicht zu einer gemeinsamen Stimme:

Die Arbeiterinnen fordern keine Politisierung des Privaten.

Die Gutverdienerinnen schweigen aus Scham.

Die Leitungsverweigerinnen scheitern an den Organisationsprinzipien von Unternehmen/Institutionen, die in ihrer Struktur die regenerativen “privaten” Lebensbereiche ausblenden und negieren, obgleich sie doch auf sie angewiesen sind.

Die ganze Gesellschaft blendet, die Notwendigkeit dieser Care-Work, dieser Beziehungsarbeit aus. Vereinzelung, Individualisierung ist für Frauen eine riesige Falle, die Verleugnungsprozesse begünstigt. Jede einzelne will für sich alles schaffen, glaubt alles schaffen zu müssen, treibt sich zu immer weiteren Höchstleistungen an….. bis sie im Burnout endet. Der zumeist absehbar war, wenn er nicht durch eine schwere rein somatische Erkrankung entbehrlich wird.

Die Erfahrungen von Frauen sind kränkend, schmerzhaft, demütigend, kräftezehrend und häufig gesundheitsgefährdend. Diese schwer erträglichen realen Erfahrungen werden nur dadurch lebbar für Frauen, dass sie ganze Teile davon ausblenden, die Wahrnehmung von der Existenz dieser Fakten verweigern. Alle diese kränkenden Phänomene und die Folgen (vor allem die gesundheitlichen) werden von vielen Frauen über lange Lebensstrecken ignoriert. Verleugnung macht Leistungsverdoppelung nur zeitweilig möglich! Langfristig zahlen Frauen jedoch einen hohen Preis. 

Wenn sich das ändern soll, müssen  die Selbstliebe in Gestalt der Beachtung des tatsächlichen eigenen Befindens und realer Belastungsgrenzen, die Beachtung von Unlust, Zorn und Verzweiflung ebenso wie von Erschöpfung und Wut über Ungerechtigkeit an die Stelle der Verleugnung dieser Zustände treten.

Ich möchte es am Beispiel der Erschöpfung durchbuchstabieren:

Wenn ich erschöpft bin, muss ich das zunächst selbst

1.eindeutig feststellen; mich dann jedoch fragen,

2. welche Bedeutung die Erschöpfung hat, somit nach den verursachenden Faktoren fragen um dann zu prüfen, worin

3. Chancen für Veränderung liegen und wie ich

4. selbst diese Veränderung bewirken kann.

Tatsächlich hören viele Frauen bei der Feststellung bereits auf.

Die geradezu zwanghafte Fixierung vieler Frauen auf das Leben für Andere, eine liebenswürdige und gesellschaftserhaltende Eigenschaft – führt leider allzu häufig zu einer allzu geringen Aufmerksamkeit sich selbst (und den eigenen Belastungen) gegenüber. Erst geht die Selbstbeachtung  verloren,  dann folgt der Verlust/ die Einschränkung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, am Ende steht der Verlust der Selbstachtung. Und geringe Selbstachtung wird mit noch geringerer Achtung durch andere begegnet – das weiß die Sozialpsychologie! Dem wiederum begegnen viele Frauen mit vermehrter Anstrengung und Leistungsbereitschaft. So geht Burnout – ein fataler Teufelskreis!!

Wie geht der Ausstieg aus dem Teufelskreis?

Damit kommen wir zu einer alten Forderung der autonomen Frauenbewegung zurück: Die Politisierung des Privaten! Die geht mit der ausdrücklichen Kritik am Faktischen einher und mündet in eindeutige (auch kleinschrittige) Forderungen. Selbstachtung (Selbstliebe) ist dafür eine Voraussetzung. Nur durch sie werden Frauen den Mut finden, sich Gehör zu verschaffen angesichts vielfacher in-direkter Diskriminierung. Nur dann werden wir angemessene Beachtung aktiv und gemeinsam einfordern.

Selbstbeachtung geht zwingend der respektvollen Beachtung (durch andere) voraus!

Fangen wir gleich damit an und genießen, achtsam und gemeinsam, einen Schluck Wein – auf den morgigen Frauentag!

Vielen Dank für den interessanten Abend und Ihre späte Aufmerksamkeit!

 

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